Dann will der Manager beim Treffen in der Moskauer Filiale vom aus dem fernen Frankfurt angereisten Vorstand doch mal wissen, was das alles überhaupt soll. Das ganze Gerede vom Kulturwandel. Dieser Würfel, den alle Spitzenmanager der Deutschen Bank in die Hand gedrückt bekommen haben und bei dem auf jeder Seite ein Leitwert des Unternehmens steht. Integrität, Partnerschaft, Disziplin, Innovation, Kundenfokus, Nachhaltigkeit – all das mag ja in der Zentrale eine tiefere Bedeutung haben. Aber was bitte heiße es hier, in Russland?
Stephan Leithner hört dem Vortrag in aller Ruhe zu. Dann bittet der Personalvorstand die anwesenden Manager zum Diskurs. Sie sollten doch mal genauer überlegen, was sie im Alltag so machen. Und was diese Normen für sie bedeuteten. Welche Geschäfte sie in Zukunft noch so wie bisher machen können, welche sie anders machen müssten – und welche gar nicht mehr gingen. Zwei Stunden später sind bei Weitem nicht alle Fragen geklärt. Und doch sehen die Versammelten etwas klarer, berichtet einer, der bei jener Sitzung in der vorvergangenen Woche dabei war. Es sei jedenfalls gut gewesen, darüber einmal geredet zu haben.
Eine Bank bei der Traumatherapie
Es ist eine Zeit des Übergangs in der Deutschen Bank. Eine Zeit der Gruppendiskussionen, der Gesprächskreise und der Selbstfindung. Eine Art Traumatherapie, nachdem immer neue Vorwürfe, immer neue Ermittlungen und immer neue Schadensersatzprozesse das Image des mit Abstand größten deutschen Instituts schwerstens lädiert haben.
Alles besser machen soll der von der Doppelspitze Anshu Jain und Jürgen Fitschen ausgerufene Kulturwandel. Das vage Versprechen ist ihr Großprojekt, an dessen Erfolg sie sich messen lassen wollen. So wie ihr Vorgänger Josef Ackermann am Ziel einer Eigenkapitalrendite von 25 Prozent. Und selbstverständlich ist der Wandel Chefsache. Alle internen Mitteilungen kommen von Jain und Fitschen, in den Sitzungen von Vorstand und Aufsichtsrat tragen sie regelmäßig den aktuellen Stand vor.
Leithner steht vor einer "Herkulesaufgabe"
Stephan Leithner bleibt da im Hintergrund. Dabei hängt das Gelingen der Neuorientierung ganz wesentlich von ihm ab. Als Personalvorstand muss er dafür sorgen, dass es nicht bei schönen Worten bleibt. Als Rechtsvorstand muss er die Sünden der Vergangenheit möglichst rasch und geräuschlos abarbeiten und neue Regeln einführen, die künftig Fehltritte verhindern. Und als Europachef muss er sich auch noch um die großen Kunden außerhalb Deutschlands kümmern.
"Es ist eine Herkulesaufgabe", sagt ein früherer Vorstand. "Ich habe mich gefragt, wie der Aufsichtsrat ihm alle Großbaustellen auf einmal zumuten kann", sagt ein langjähriger Vertrauter Leithners.
Als Jain und Fitschen vor eineinhalb Jahren ihr Führungsteam vorstellten, war der Posten für Leithner eine Überraschung. Denn der Österreicher war vorher Investmentbanker, Spezialist für die Beratung großer Unternehmensübernahmen. Den Job füllte er mit Leistung und Leidenschaft aus. "Weichen zu stellen, an großen strategischen Themen zu arbeiten, das war seine Welt", sagt einer, der ihn seit Jahren kennt. "Dies aufzugeben ist ihm schwergefallen."
Andererseits, so ein anderer Insider, sei ein Sitz im Vorstand immer das Ziel des 47-Jährigen gewesen. Die Chance habe er ergreifen müssen. Deshalb sitzt er nun in Tarif- statt in Übernahmeverhandlungen, muss sich mehr um Frauenförderung als um die Finanzen deutscher Großkonzerne kümmern, Trainings organisieren, Regeln zum korrekten Verhalten einführen und Vorgaben der Regulierer aus Brüssel und Berlin umsetzen. Dinge, die gemacht werden müssen, aber wenig Glamour bieten.
Viel Arbeit, wenig Glamour
Leithner selbst sagt dazu nichts. Ins Scheinwerferlicht hat er noch nie gestrebt. Dass es auf dieser Seite kein besseres Foto von ihm gibt, liegt daran, dass es überhaupt kein besseres Foto von ihm gibt. Und er keines von sich machen lassen will. Über sich selbst sprechen mag er genauso wenig. Wenn es denn sein muss, sollen das seine Kunden tun. Lobende Worte über Banker, Investmentbanker gar, fallen Industriemanagern schwer. Bei Leithner jedoch machen einige eine Ausnahme.
Leithner imponiert mit Integrität
Linde-Chef Wolfgang Reitzle etwa. Mit Leithners Hilfe zog er 2005 die Übernahme des britischen Industriegasherstellers BOC durch. Zusammen saßen sie oft bis spät in die Nacht an den Details des Deals, der aus dem Mischkonzern mit einem Schlag ein ganz anderes Unternehmen machte. Leithner hat Reitzle dabei schwer imponiert. Durch seinen Einsatz, seine intellektuelle Brillanz. Und sein klares Bewusstsein für die Grenzen des Zulässigen, sein penibles Einhalten aller Vorschriften. "Seine ethischen Grundsätze, seine persönliche Integrität sind beeindruckend", lobt Reitzle.
Auch Fresenius-Chef Ulf Schneider hörte bei Transaktionen bevorzugt auf Leithner. Mit ihm leitete er etwa die Milliardenübernahmen von Renal Care und APP ein. "Stephan Leithner ist stets verfügbar, stets bestens vorbereitet, stets sehr hilfreich", sagt Schneider. "Er verkörpert Solidität und Bescheidenheit mit weltoffener Einstellung und internationaler Erfahrung. Er selbst braucht keinen Kulturwandel, weil er keine Exzesse zu verantworten hat."
Keiner Bezweifelt, dass es ihm ernst ist
Nicht alle Kunden sind so voll des Lobes. Bei den abgebrochenen Anläufen von Evonik an die Börse etwa war der Chemiekonzern mit der Rolle der Deutschen Bank unter Führung Leithners alles andere als zufrieden. Und doch loben selbst Konkurrenten seine Integrität, seine tiefe Verwurzelung im Kundengeschäft. Dass es ihm ernst ist mit den Veränderungen, bezweifelt keiner. Seine Herkunft aus dem Investmentbanking soll ihm Glaubwürdigkeit und Autorität geben, um den Wandel auch dort durchzusetzen. Wie Leithner schon ist, so die Vorstellung, soll das ganze Investmentbanking der Bank einmal werden.
Wandel tut hier not. Längst ist bekannt, dass es in einigen Büros in Leithners Nachbarschaft in den Jahren vor 2008 hoch und nicht immer legal herging. "Da wurden Produkte entwickelt, bei denen man wusste, dass sie vermutlich implodieren würden, und für die man später den Aufräumdienst verkaufen wollte", erzählt ein Insider. Es boomten die Verbriefungen amerikanischer Ramschhypotheken, und eine Spezial-Verkaufstruppe zog los, um Kommunen und Mittelständlern Produkte zu verkaufen, mit denen die ihre Zinsrisiken absichern sollten. Schon weil diese Kunden keine Ahnung von Marktpreisen hatten, gingen die Gewinne der Bank steil nach oben. Kurzfristig jedenfalls.
Nun verlangen viele Geschädigte Genugtuung. Leithner hat den undankbaren Job, den von den Kollegen angerichteten Schlamassel aufzuarbeiten. Wie hoch der Schaden letztlich ist und für wie viel die Bank geradestehen muss, ist noch nicht absehbar. Drei Milliarden Euro hat sie für Rechtsstreitigkeiten zurückgestellt. Aber ob das reicht? "Da wird noch einiges hochkommen", fürchtet ein Top-Manager der Bank. Schon bei der Vorlage der Quartalszahlen an diesem Dienstag muss wohl noch mal kräftig aufgestockt werden.
Wann hört das auf? Zumindest das Verfahren um die Manipulationen des Referenzzinses Libor wird wohl Anfang nächsten Jahres beendet sein. Aber wer sagt, dass die Banker des Instituts nicht auch an den Kursen von Devisen, Rohstoffen oder Gold herumgespielt haben? Und was kommt bei den diversen Hypothekenklagen in den USA am Ende heraus?
Es geht um Taktieren und Verhandeln
Für Leithner geht es vor allem um Taktieren und Verhandeln, um die Suche nach Kompromissen. Darum, zum richtigen Zeitpunkt das richtige Maß an Transparenz zu schaffen. Nicht immer auf jedem Paragrafen zu bestehen, sondern die Themen möglichst schnell, unauffällig und kostengünstig abzuarbeiten. Die Fähigkeiten, heißt es in der Bank, habe er sich in seiner Zeit als Übernahmeberater antrainiert.
Große Auftritte sind nicht seine Sache
Ganz still und leise geht das nicht immer. Die Altlasten zwingen den Vorstand mitunter ins ungeliebte Scheinwerferlicht. Ende 2012 hat er dort seinen bisher größten Auftritt. Der Finanzausschuss des Bundestags will Licht ins Libor-Dunkel bringen. Eigentlich wollen die Parlamentarier Jain persönlich verhören, der sich aber für nicht zuständig erklärt. Leithner übernimmt. Und erledigt den Auftritt wie erwartet: Seine strahlend blauen Augen blicken durch die randlose Brille, er lächelt freundlich bis verlegen ins Publikum. Und sagt, dass er wenig sagen kann. Weil er wenig sagen darf. "Abgeordnete scheitern an Mauer-Bankern", lauten später die Überschriften.
Stärken und Schwächen der Deutschen Bank
- Kapitalerhöhung und Abbau von Risikoaktiva haben Eigenkapitalquote gestärkt
- International führende Investmentbank, vor allem beim Anleihegeschäft
- Durch Zukäufe wie Postbank stabiler Ertragsmix
- Niedrige Finanzierungskosten
- Vermögensverwaltung ist noch im Umbau
- Defizite in Asien
- Kosten trotz Sparprogramm überdurchschnittlich
- Verhältnis von Kapital zur Bilanzsumme immer noch extrem niedrig
- Weltweit größter Bestand an risikoreichen Derivaten
- Rückzug einzelner Wettbewerber ermöglicht Marktanteilsgewinne
- Ausbau der weltweiten Präsenz bringt neue Ertragsquellen
- Postbank bringt Vorteile im deutschen Privatkundengeschäft
- Drohende Kapitallücke in Milliardenhöhe durch US-Regulierung
- Trennbanksystem würde Finanzierungskosten erhöhen
- Schwache Kapitalmärkte
- Schadensersatzklagen und Ermittlungen der Aufsichtsbehörden
2002 ging der Medienkonzern des mittlerweile verstorbenen Leo Kirch pleite - womöglich auch wegen eines Interviews des damaligen Deutsche-Bank-Chefs Rolf Breuer. Seitdem piesacken Kirch-Anwälte die Bank und zwangen sie im April sogar schon zu einer außerordentlichen Hauptversammlung. Das Oberlandesgericht München hat die Bank zu Schadensersatz verurteilt. Zur Debatte stehen bis zu 1,5 Milliarden Euro.
Auftritte vor großem Publikum sind eh nicht so seine Sache, bei Kundenterminen hält er sich gerne an die vorbereiteten Präsentationen. Es ist vor allem die kalte, intellektuelle Brillanz, die Fähigkeit zur absoluten Konzentration, die Klienten beeindruckt. Und Mitarbeitern mitunter Angst macht. Schwächen erkennt er sofort, die Begeisterung der Kollegen in der Investmentbank für Markttrends konnte er nur schwer teilen. "Welche Sau treibt ihr heute wieder durchs Dorf?", habe er immer wieder halb skeptisch, halb spöttisch gefragt, erinnern die sich. Und schenkten ihm zum Geburtstag dafür einmal eine mit Marzipan-Schweinchen verzierte Torte.
Er weiß, dass er klüger ist
Leithner hat es nicht nötig, arrogant aufzutreten, weil er weiß, dass er klüger ist als die meisten seiner Gesprächspartner. Sein leichter österreichischer Akzent lässt ihn leutseliger wirken, als er ist. Dahinter verbirgt sich ein ungemein ehrgeiziger und durchsetzungsfähiger Banker. Als Investmentbanker hielt er am Wochenende morgens und abends im Halbstundentakt Telefonkonferenzen ab, unterbrochen durch ein paar Stunden Freizeit für seine drei Kinder. Den Teilnehmern gab er gerne mal Hausaufgaben bis Montag auf, sodass deren Freizeitplanung ins Wasser fiel.
Dass Leithner nicht nur nett kann und am Ende des Kulturwandels keine Basisdemokratie steht, haben auch die Betriebsräte begriffen. "Er wirkt vielleicht erst mal etwas naiv", sagt ein Arbeitnehmervertreter. Aber in der Sache kann er knallhart sein. So setzte er gegen den Widerstand der Arbeitnehmer das System der "Red Flags", der "Roten Karten" durch. Verstöße gegen die neuen Verhaltensregeln sollen künftig bis hinunter zum Filialmitarbeiter mit Verwarnungen geahndet und gespeichert werden.
Trotzdem sind die Arbeitnehmervertreter mit ihrem Hauptansprechpartner zufrieden. Selbst Skeptiker, so berichten Teilnehmer, waren nach seinem ersten Auftritt in der Betriebsratssitzung angetan. Schon weil er deutlich länger blieb als geplant. "Er hat ein offenes Ohr für uns und sich sehr gut und engagiert in die Personalthemen eingearbeitet. Er ist ein glaubwürdiger Vertreter des Kulturwandels", lobt ihn der Betriebsratsvorsitzende Alfred Herling.
Mehr Frauen sollen an die Spitze
Mehr Kontrolle ist ein Baustein im Veränderungsplan. Leithners Leute legen überall eine Schippe drauf. Die Bezahlung soll sich stärker an langfristigen Zielen orientieren, jährlich finden 200.000 Schulungen zum rechtmäßigen Verhalten und der neuen Regulierung statt. Neue Produkte sollen streng darauf geprüft werden, welche Nebenwirkungen sie haben. Und, auch das ist Teil des Konzepts, mehr Frauen sollen in Führungspositionen aufrücken. Mit der Personalchefin Pippa Lamnbert und der Anwältin Daniela Weber-Rey hat Leithner schon mal zwei Top-Jobs in seiner Abteilung weiblich besetzt.
Wie viele seiner Kollegen brauchte auch Leithner eine Weile, um zu erkennen, dass in der Deutschen Bank in den vergangenen Jahren einiges gründlich schiefgelaufen ist. Noch Ende 2008 meinten Top-Manager, dass lediglich ein besseres Risikomanagement nötig sei. Nun erklären die gleichen Top-Manager die Umkehr mit durchaus drastischen Vergleichen. Bei einem Herzinfarkt denke der Patient auf der Intensivstation auch erst mal nur ans Überleben. Erst wenn er das Krankenhaus verlassen hat, lege er sich einen gesünderen Lebenswandel zu. 2017, so die interne Planung, soll die Rehabilitation abgeschlossen sein.
Leithner ist bodenständig geblieben
Chefdoktor Leithner hat sich anders als mancher Superstar der Szene immer eine gewisse Bodenständigkeit bewahrt. Das liegt auch an seiner Herkunft. Aufgewachsen ist der leidenschaftliche Skifahrer im 500-Seelen-Ort Pertisau in Tirol, wo die Familie eine Skischule, ein Hotel und einen Golfplatz besitzt. Wobei der Bezug zur Großindustrie von Anfang an da war. Seine Mutter stammt aus einer großen deutschen Industriellenfamilie. Zum Wirtschaftsstudium zog es Leithner aus der dörflichen Umgebung an die Schweizer Eliteuni Sankt Gallen. "Er war zu Recht selbstbewusst, aber kein Angeber", erinnert sich ein Kommilitone.
Seine Doktorarbeit ist so herausragend, dass er mit ihr 1993 einen Preis gewinnt, den es sonst nur für Habilitationen gibt. Den Inhalt, die "empirische Umsetzung eines arbitragefreien Zinsstrukturmodells, insbesondere für einen Rentenmarkt außerhalb der USA" bezeichnet sein Doktorvater Heinz Zimmermann heute noch als "sehr fortschrittlich und eine echte Herausforderung". Zimmermann beschreibt Leithner als "absolut loyalen und menschlich beeindruckenden Mitarbeiter, der auch die Wissenschaft bereichert hätte".
Jains Achillesferse
Wichtiger noch als der Inhalt seiner Dissertation wird für Leithner ihr Ideengeber: Das Werk entsteht aus einer Diskussion von Studenten mit Josef Ackermann, der damals gerade erst in den Vorstand des Credit-Suisse-Vorläufers SKA aufgestiegen ist. Ackermann holt Leithner und mehrere seiner Kollegen dann 1999 von McKinsey zur Deutschen Bank, um das Geschäft mit Fusionen und Übernahmen in Deutschland zu beleben. Das ist damals eine Domäne von US-Banken wie Goldman Sachs und Morgan Stanley. Zu Leithners Förderern gehört neben Ackermann auch Michael Cohrs, der bis 2010 das weltweite Geschäft mit Großunternehmen leitet.
Ackermann und Cohrs sind mittlerweile Geschichte. Beide gingen nicht als Freunde des aktuellen Co-Chefs Anshu Jain. Insider erzählen denn auch, dass der mitunter professoral-bedächtig wirkende Leithner nicht unbedingt Jains Ideal eines Investmentbankers entspricht. Manche halten ihn gar für "Anshus Blitzableiter". Die gerichtlichen Auseinandersetzungen sind Jains Achillesferse. Weitere Enthüllungen könnten ihm gefährlich werden.
Für Leithner kein Grund, nervös zu werden. Er arbeitet den Berg unbeeindruckt und präzise ab. Das hat er schon immer so gemacht, berichtet ein früherer McKinsey-Kollege. Wegen eines Wirbelsturms war das Büro der Beratung in New York verwaist, nur eine Handvoll Berater aus Deutschland harrte noch aus. Warum sie noch da wären, fragte der letzte Amerikaner im Gehen. "Wenn ich in Tirol bei jedem Schneetreiben zu Hause geblieben wäre", antwortete Leithner, "hätte ich nicht mal einen Schulabschluss geschafft."