Spätestens seit der jüngsten Finanzmarktkrise wissen wir, dass selbst die ganz großen Banken in Schieflage geraten können. Damals, 2008 und 2009, war es vielfach der Staat und damit der Steuerzahler, der mit seinem Geld einspringen und Banken, die als „too big to fail“ galten, vor dem Untergang bewahren musste.
Um Ähnliches in Zukunft zu verhindern, haben Aufsichtsbehörden und Gesetzgeber in den vergangenen Jahren eine nahezu schwindelerregende Zahl neuer Vorschriften und Gesetzesnovellen erlassen.
Haftungskaskade: Reihenfolge des Wertausfalls neu geregelt
Eine zentrale Rolle im Fall einer Bankeninsolvenz spielt dabei das Sanierungs- und Abwicklungsgesetz (SAG). Darin ist geregelt, wie im Insolvenzfall von Banken zu verfahren ist, damit der Steuerzahler möglichst nicht belastet wird.
Zur Person
Martina Bahl, CFA, ist Mitglied der CFA Society Germany und Geschäftsführerin der BahlConsult GmbH.
Dieses Gesetz, das auf einer europäischen Richtlinie beruht, schreibt vor, wie zunächst Aktionäre, dann nach und nach auch die Gläubiger von Schuldverschreibungen und Schuldscheindarlehen an der Rettung eines Kreditinstituts beteiligt werden. Zunächst verlieren also Aktien ihren Wert, Schuldverschreibungen und andere Einlagen folgen sukzessive. Die sogenannte Haftungskaskade des Abwicklungsgesetzes regelt, in welcher Reihenfolge.
Das Abwicklungsgesetz ist zwar bereits seit 1.1.2016 in Kraft, eine seit Anfang 2017 geltende Anpassung birgt allerdings eine durchaus ‚unkonventionelle‘ Neuerung: Durch das sperrig klingende Abwicklungsmechanismusgesetz (AbwMechG) hat sich die Haftungskaskade seit Jahresbeginn in einem entscheidenden Detail geändert. Die Änderung betrifft vor allem jene Schuldverschreibungen und Schuldscheindarlehen, die eine sogenannte derivative Komponente beinhalten, also ein Derivat. Derivate sind in diesem Fall meist Optionen, Zinsobergrenzen oder Zinsuntergrenzen.
Bisher war es so, dass gewöhnliche Anleihen und Schuldscheindarlehen (in der Fachsprache der Banker werden diese „Plain Vanilla“ genannt) und strukturierte Papiere in der Haftungskaskade gleich behandelt wurden. Neuerdings werden die „Plain Vanillas“ im Insolvenzfall einer Bank aber vorrangig liquidiert. Erst danach folgen die strukturierten Produkte.
Seit dem 1.1.2017 hat sich die sogenannte Haftungskaskade verändert. Es gilt nun folgende, neue Reihenfolge:
1. Zuerst wird das harte Kernkapital („CET1“) verwendet, also Aktien, Gesellschafteranteile oder Genossenschaftsanteile.
2. Danach folgt das zusätzliche Kernkapital („AT1“), das sind spezielle, nachrangige Anleihen, die eine Wandlung in Kernkapital schon in ihren Bedingungen haben.
3. Nun folgt das Ergänzungskapital („T2“), das sind Einlagen und Anlagen, die bereits als nachrangige Ergänzungskapitalanleihen, Ergänzungskapitalgenussrechte oder etwa stille Einlagen ausgegeben wurden.
Über die Kolumne
In Zeiten negativer Zinsen und quantitativer Lockerung steht so manche vormals gültige Faustregel des Finanzmarkts auf dem Kopf. In dieser Reihe bringen Experten der CFA Society Germany etwas Ordnung in unsere heutige Verkehrte (Finanz)welt. Die CFA ist der mitgliedsstärkste Berufsverband für die Investmentbranche in Deutschland. Gemeinsam mit dem globalen Mutterverband CFA Institute, engagiert sich die CFA Society Germany seit Jahren für professionelle und ethische Standards in der Investmentbranche.
4. Reicht das noch immer nicht, werden unbesicherte, nachrangige Verbindlichkeiten verwertet, also nachrangige Darlehen, nachrangige Schuldverschreibungen, Genussrechte und ähnliche Papiere, die bereits als nachrangig ausgegeben wurden.
5. Darauf folgen die unbesicherten, nicht-nachrangigen Verbindlichkeiten. Dazu zählen Schuldverschreibungen und Schuldscheindarlehen, sowohl als Inhaber- als auch als Namenstitel.
6. NEU: Erst danach folgen Geldmarktpapiere und strukturierte Schuldtitel. Unter strukturierten Schuldtiteln werden alle Anleihen und Schuldscheindarlehen verstanden, deren Kupon oder Rückzahlung von unsicheren, zukünftigen Ereignissen abhängen. Sie werden ebenso erst unter Punkt 6 verwertet wie Futures, Optionen, Swaps, aber auch Geldeinlagen von Großkunden über 100.000 Euro, Darlehen von anderen Banken und Verbindlichkeiten unter Garantiegeschäften, dem Akkreditivgeschäft oder dem Kreditgeschäft.
7. Als letzte Möglichkeit folgt unter Punkt 7 noch die Verwertung von Bareinlagen von Privatpersonen über 100.000 Euro.
Derivate erhalten bessere Bonität als gewöhnliche Anleihen
Da mag der Betrachter die Stirn runzeln: Wie kann es sein, dass Anleihen, Zertifikate und Schuldscheindarlehen, die Derivate enthalten, plötzlich eine bessere Bonität erhalten, als ganz gewöhnliche, fix oder variabel verzinste Papiere?
Die BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) nennt als Grund für die Gesetzesänderung ganz praktische Gründe. Es geht um die Durchführung der Abwicklung. Diese muss theoretisch sehr schnell von statten gehen können. Idealerweise sogar während eines sogenannten „Abwicklungswochenendes“, zumindest aber innerhalb sehr kurzer Zeit.
Fantasievolle Wertpapiergestaltung kann sich lohnen
Bei Verbindlichkeiten, die Derivate enthalten, sieht sich die BaFin nicht in der Lage, die komplexen Verträge und zugehörigen Derivate so kurzfristig korrekt zu bewerten. Da eine ausreichend schnelle Liquidation bestimmter Produkte also nicht gewährleistet werden kann, wird künftig darauf nur noch zugegriffen, wenn die „Plain Vanilla“-Verbindlichkeiten aufgebraucht sind.
Wo ein Gesetz, da auch eine Lücke. Die neue Haftungskaskade könnte möglicherweise dazu führen, dass manch findige Bank ihren Investoren „unechte“ strukturierte Anleihen oder Schuldscheindarlehen anbietet. Diese Papiere würden zwar Derivate enthalten, die aber so wenig wert sind, dass sie für Zahlungsströme und Bewertung vernachlässigbar sind. Ein Beispiel könnten etwa variabel verzinste Anleihen sein, die eine unrealistisch hohe Zinsobergrenze von 20 Prozent beinhalten. Oder Anleihen, deren Kupon eine zusätzliche Option enthält, wie etwa ein kleiner Bonuszins von 0,1 Prozent, sollte der Dax über märchenhafte 30.000 Punkte gehen.
Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Hauptsache, die Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses ist aus heutiger Sicht minimal und die verwendete Option dadurch mehr oder weniger nichts wert. Das Risiko für Bank und Anleger aus dem Derivat ist quasi bei null, die Kosten ebenso. Die Bonität hingegen ist nun verbessert, die Bank kann dafür einen geringeren Zins zahlen und der Anleger ruhiger schlafen.
Was bei vielen Finanzmarktbeobachtern Kopfschütteln verursachen mag, kann Investoren in strukturierte Titel hingegen freuen: Gerade die Komplexität ihrer Papiere kann jetzt vor Ausfall schützen. Ob dies nun zu mehr Nachfrage von strukturierten Anleihen führt, wird sich zeigen. Es ist in jedem Fall ein kleines Kuriosum, wie ein Derivat einer Anleihe zu besserer Bonität verhelfen kann.