Boehringer Ingelheim Arbeitstier vor dem Herrn

Es geht ihm nicht um kurzfristige Rendite, sondern um zielorientierte Forschung. Boehringer-Chef Andreas Barner betet vor wichtigen Entscheidungen. Hilft das dem Pharmakonzern, der die Zulassung für ein neues Schlaganfallmittel erhalten hat?

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Boehringer-Chef Andreas Barner Quelle: Angelika Zinzow für WirtschaftsWoche

Es ist dunkel in der Dresdner Dreikönigskirche. Im Altarraum entzündet Andreas Barner eine Kerze. Das spärliche Licht macht die zierliche Figur und das graue Haar nur schemenhaft erkennbar. Die Kerze in der Hand, geht der schmale Mann die voll besetzten Stuhlreihen ab und entflammt die Kerzen, die Besucher in ihren Händen halten. Mit jedem entzündeten Docht hellt sich das Gotteshaus weiter auf. Gleich wird die Lichtgestalt einige Worte zur abendlichen Besinnung sprechen.

Der ruhige, bedächtige Mann, der hier Anfang Juni auf dem Evangelischen Kirchentag in Dresden auftritt, ist gar kein Pfarrer. Andreas Barner, 58 Jahre alt, verheiratet, eine Tochter, ist der Chef des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim. Sein Unternehmen steht für 12,6 Milliarden Euro Jahresumsatz, fast zwei Milliarden Euro Betriebsgewinn und weltweit über 40 000 Mitarbeiter. Der Protestant Barner leitet den zweitgrößten deutschen Pharmakonzern nach Bayer.

Spitzenumsatz mit Pradaxa erwartet

Vor wenigen Tagen erhielt Boehringer, das im rheinland-pfälzischen Ingelheim beheimatet ist, die europäische Zulassung für Pradaxa, ein Medikament zur Schlaganfallvorbeugung. In den USA und Kanada ist Pradaxa bereits seit einigen Monaten auf dem Markt. Analysten erwarten -einen Spitzenjahresumsatz von zwei Milliarden Euro.

"Ich bete vor wichtigen Entscheidungen", bekennt Barner im Halbdunkel der Dresdner Dreikönigskirche. Die Einführung von Pradaxa war für Boehringer eine wichtige Entscheidung – und ein großes Risiko: Mehr als eine Milliarde Euro dürfte die Entwicklung verschlungen haben. Wäre die Zulassung ausgeblieben, hätte Boehringer das Geld abschreiben müssen.

Dem Menschen dienen

Seit 2008 sitzt Barner im Präsidium des Evangelischen Kirchentages, er ist bis 2014 gewählt. Neben dem Babykosthersteller Claus Hipp sowie dem Schuhhändler Heinrich Deichmann gilt er als einer der wenigen deutschen Top-Manager, die sich zu ihrem christlichen Glauben öffentlich bekennen und sagen, dass sie ihn auch im Geschäft berücksichtigen. In seinem Unternehmen müht sich der bekennende Protestant, nicht zuerst dem Mammon, sondern den Menschen zu dienen.

"Nicht kurzfristige Renditeorientierung, sondern zielorientierte Forschung gibt bei Boehringer Ingelheim den Ton an", sagt Norbert Hültenschmidt, Partner bei der Unternehmensberatung Bain. Als Chef der Forschung und Entwicklung hat der gläubige Christ Barner mit dafür gesorgt, dass die gefürchteten Nebenwirkungen von Medikamenten intensiver erforscht wurden als anderswo in der Branche. Und er hatte Erfolg: "Verglichen mit seiner Größe, hat kaum ein anderes Pharmaunternehmen in den vergangenen Jahren so viele neue Medikamente mit signifikantem medizinischem Nutzen auf den Markt gebracht", sagt Berater Hültenschmidt. Barner brachte neben Pradaxa unter anderem das Atemwegmittel Spiriva und das Aids-Präparat Tripanavir auf den Weg.

Eine Mitarbeiterin steht an Quelle: dpa

Der erfolgreiche Pillen-Entwickler schöpft seine Kraft aus der Religion. "Der Glaube ist für mich ein Ort der Ruhe und der Stille", sagt Barner. Er gehe in den Gottesdienst, setze sich aber auch gern in eine leere Kirche, um Kraft zu tanken. Dabei ist der betende Boehringer-Chef keiner, der an biblischen Versen klebt. Wenn er, wie in Dresden, den grünen Mottoschal des Kirchentages um den Hals gelegt, aus dem fünften Buch Mose über die Gebote Gottes liest, mag er nicht unbedingt glauben, dass dem Untergang geweiht sei, wer die Gebote nicht einhalte (5. Buch Mose, Kapitel 30, Vers 17 f.). "Ich habe damit meine Schwierigkeiten", sagt er zu den Gläubigen. Glauben aus Furcht oder Zwang ist ihm fremd.

Den Keim dazu legten seine Eltern, die dem Jungen die Grundlagen des Glaubens beibrachten und ihn lehrten, die Feiertage zu heiligen. Von ihnen hat Barner, der mit sechs Geschwistern in Freiburg aufwuchs, sein humanistisch-christliches Weltbild. Der Junge interessierte sich für die Wissenschaften, promovierte sowohl in Medizin als auch in Mathematik, wollte in die medizinische Grundlagenforschung. Immer schwingt bei Barner auch der Gedanke an Nächstenliebe mit: "Als Arzt können Sie einzelnen Menschen helfen", sagt er noch heute, "als Pharmaforscher können Sie für viele Menschen gleichzeitig etwas erreichen."

Weg von Quartalsberichten und Börsenkursen

Dass für Protestanten auch der geschäftliche Erfolg zum Sinn des Lebens gehört, hat vor gut 100 Jahren der deutsche Soziologe Max Weber in seiner Publikation "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" beschrieben. Und schon Reformator Martin Luther sah im Beruf des Menschen eine Berufung, letztlich eine von Gott gestellte Aufgabe.

Barner, geprägt durch Leistung und Verantwortung, begann bei Ciba Geigy, heute ein Teil des Schweizer Pharmakonzerns Novartis, und fiel schnell als blitzgescheiter Wissenschaftler auf. Er arbeitete an der Entwicklung von Voltaren mit, einem Klassiker unter den Schmerzmitteln. 1992, mit Mitte 30, holte ihn der damalige Boehringer-Pharmachef Rolf Krebs nach Ingelheim.

"Ich hatte den Eindruck, dass die Werte des Unternehmens Boehringer Ingelheim sich gut mit meinen vereinbaren lassen", erinnert sich Barner. Denn bei einem Familienunternehmen wie Boehringer muss er sich nicht mit renditehungrigen Aktionären auseinandersetzen, die viel Druck auf die schnelle Markteinführung von Medikamenten machen und alle drei Monate öffentlich die Geschäftszahlen zerpflücken. "Wir müssen weg von dieser Fixierung auf Quartalsberichte", lautet denn auch einer der Glaubenssätze, die Barner gern verbreitet, etwa auf dem Ökumenischen Kirchentag 2010 in München. Börsenkurse hält er gar für den "schwächsten Indikator für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens".

Im Unternehmen gilt Barner als umgänglich; Mitarbeiter beschreiben ihn als bescheiden und zurückhaltend. Small Talk mag er nicht gern – bei geselligen Runden hält es der passionierte Klavierspieler nie lange aus. "Ein unglaubliches Arbeitstier", sagt ein früherer Mitarbeiter über seinen Ex-Chef. Zunehmend engagiert sich Barner auch außerhalb von Boehringer Ingelheim – beim Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, beim Bundesverband der Deutschen Industrie und schließlich beim Evangelischen Kirchentag.

Mit seinem Bekenntnis zum Glauben hielt sich Barner im Unternehmen lange zurück. "Ich war ganz überrascht, als ich hörte, dass er ins Präsidium des Evangelischen Kirchentages gewählt worden ist", sagt ein langjähriger, enger Weggefährte, "dass er ganz stark ethisch motiviert ist, war aber immer klar."

Inzwischen lädt er schon mal den evangelischen Präses Nikolaus Schneider gemeinsam mit rheinland-pfälzischen Unternehmern zum Gedankenaustausch in die Boehringer-Zentrale nach Ingelheim ein. Oder er bringt Präsidiumsmitglieder des Evangelischen Kirchentages mit Managern etwa aus der Energie- und Nahrungsmittelbranche zusammen, um gegenseitige Vorurteile abzubauen.

Kritik in der Dritten Welt

Barner, ein makelloser Christ? Drei Stunden lang hat Christiane Fischer mit ihm diskutiert, etwa über Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Die Ärztin gehört zur pharmakritischen Dritte-Welt-Organisation Buko Kampagne, die sich für eine bessere Medikamentenversorgung in Entwicklungsländern einsetzt.

"Barner möchte der Gute unter den Bösen sein", sagt Fischer. Ihr imponiere, dass der Boehringer-Chef in der Dritten Welt im Gegensatz zu anderen Unternehmen nicht auf die Achtung seiner Patente auf Aids-Medikamente pocht. Dadurch können Nachahmer die lebenserhaltenden Mittel zu erschwinglichen Preisen anbieten.

Gleichwohl hält die Ärztin viele Mittel, die Boehringer in Entwicklungsländern anbietet, für überflüssig oder gar schädlich. Dazu zähle das Schmerzmittel Buscopan compositum in Brasilien, dessen Wirkstoff Metamizol lebensgefährliche Blutbildveränderungen hervorrufen könne und daher in vielen Ländern verboten sei. "Diese Mittel sollten dringend vom Markt verschwinden", fordert Fischer.

Boehringer überprüfe ständig den Nutzen und das potenzielle Risiko von Buscopan und Metamizol, entgegnet das Unternehmen. Sowohl die Zulassungsbehörde in Brasilien als auch Boehringer halten die Anwendung für angemessen.

Doch trotz aller Kritik am Geschäftsgebaren von Boehringer in der Dritten Welt: Barner, sagt Pharmakritikerin Fischer, sei "kein schlechter Mensch".

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