"Der Baader Meinhof Komplex" im Kino Das heilsame Gemetzel

Die Schriftstellerin und Historikerin Anila Wilms über den Film "Der Baader Meinhof Komplex"

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Moritz Bleibtreu in seiner Rolle als Andreas Baader im Film

Es ist der 2. Juni 1967, vor der Deutschen Oper in Berlin: „Jubelperser“ in dunklen Anzügen und mit finsteren Mienen nähern sich bedrohlich der bunten Studentenmenge hinter dem Absperrgitter, die gegen den Schah-Besuch zwar laut, aber friedlich protestiert. In den Händen tragen sie Holzlatten und der Zuschauer ahnt Böses, als plötzlich einer mit aller Kraft auf eine Demonstrantin einschlägt. Dann kommt der nächste Schlag, und noch einer, und bald wird daraus eine Straßenschlacht. Die Demonstranten rufen nach der Polizei, doch die eilt nicht zu ihrer Hilfe, sondern greift sie an.

Junge Männer und Frauen, die sich kaum wehren können, werden von Polizisten, manche hoch zu Ross, wahllos und brutal zusammengeschlagen und -getreten. Die Menge, unter Wasserwerfern und Tränengas, versucht in Panik zu fliehen, doch alle Auswege sind versperrt, es gibt kein Entkommen aus diesem Inferno. Am Ende fällt ein Schuss, und ein junger Mann liegt tot auf der Straße. Es ist der Student Benno Ohnesorg, dargestellt von Martin Glade.

Es sind überwältigende Bilder, die in dem Film von Regisseur Uli Edel zu sehen sind. Der Zuschauer ist ergriffen und hat doch kaum Zeit dafür. Denn rasch gesellt sich ein konfuses Gefühl der Befremdung hinzu, wenn als Nächstes Sequenzen aus dem Audimax der TU Berlin zu sehen sind. Es ist der Vietnamkongress; der charismatische Rudi Dutschke (Sebastian Blomberg) hält eine für ihn typische, feurige Rede gegen den Vietnamkrieg. Alle Herzen fliegen ihm zu und das Auditorium, brechend voll, tobt: Ho-Ho-Ho-Chi-Minh. Mich gruselt’s. Heute wissen wir: Ho-Chi-Minh war einer der größten kommunistischen Massenmörder.

Über den Grusel und die aufwühlenden Emotionen hinweg dauert es eine Weile, bis ich als Zuschauer begreife, dass der ganze Film die Geschichte streng aus der Perspektive der RAF erzählt – genauer gesagt aus der von Ulrike Meinhof. Sie eröffnet den Film, sie ist im Audimax dabei und lächelt Dutschke bewundernd und verschwörerisch zu. Dann, bei der Nachricht seines Attentats weint sie bitterlich. Ulrike Meinhof steht sinnbildlich für die explosive Mischung jener Zeit: Einerseits wird sie beflügelt von dieser gigantischen entfesselten Energie und der Euphorie des Ausbruchs, andererseits verkörpert sie wie kein anderer deren Widersprüche, Irrtümer, Absurditäten und Exzesse. In einem quälenden, langen Prozess gleitet sie vom Idealismus in einen mörderischen Fanatismus. Zwar ist auch sie geplagt von Zweifeln und Zögern, aber da ihr Naturell rigoros und kompromisslos ist, überwindet sie jedes mal die innere Zerrissenheit.

Sie ist auch die einzige mehr oder weniger komplexe Figur der RAF-Geschichte. Alle anderen Figuren, in diesem Film, wie in allen sonstigen künstlerischen wie sachlichen Darstellungen des Themas, wirken banal. So banal, dass ich mich frage, ob es diese Leute eigentlich wert sind, dass man über sie so viele Filme macht, über sie schreibt und redet? Dass man sie ernst und wichtig nimmt?

Mörderische Doktrin

Doch die RAF, ein kleiner Haufen junger Leute, die aus ideologischen Resten der Studentenbewegung eine mörderische Doktrin zusammenwürfelte und auch in die Tat umsetzte, ist historisch wichtig für die Bundesrepublik. Sie erklärte dem Staat den Krieg, attackierte seine Grundsätze, gab an, ihn umstürzen zu wollen. Der Staat reagierte entsprechend: Es entstand eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die die Republik an den Rand des Ausnahmezustands brachte.

Das alles vollzog sich vor den Augen einer perplexen, erschütterten Öffentlichkeit. Diese Verrückten übten anfangs durchaus Faszination innerhalb der großen Emanzipationsbewegung aus, als sie ihr Anliegen verkündeten, mit Waffengewalt das Weltproletariat vor der kapitalistischen und imperialistischen Unterdrückung retten zu wollen und die „weltumspannende Allkompetenz kapitalistischer Betriebe“ zu brechen, „da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist, wie jeder Lebende weiß“ – durch den rebellischen Gestus, die Romantik von Widerstand und Untergrund, durch coole Sprüche wie „die Knarre löst die Starre“, nicht zuletzt auch durch den Mut, sich für die eigenen Ideale zu opfern.

Doch dann begann das Morden und die Faszination schlug alsbaldig in Abscheu um. Schrecklich böse Erinnerungen waren wachgerufen worden. Gewaltreflexe aus der versunkenen Zeit waren wiederaufgeflackert, sowohl im Handeln der RAF als auch im Handeln des Staates, den sie provozierten. Das junge demokratische System war in seiner Legitimation herausgefordert worden. Ein Rückfall in totalitäre Strukturen wurde ernsthaft befürchtet. Es war eine Schockwelle, die durch alle Schichten und alle Kreise der Gesellschaft ging, und durch die man auch als junger, rebellischer Mensch von alterssymptomatischen Gewaltfantasien endgültig geheilt wurde. Aus der Bevölkerung kamen schließlich die Hinweise, die zur Verhaftung des harten Kerns der Gruppe führten.

Beklemmendes Gefühl

Das war der Augenblick, von dem an sich alles änderte. Hatte das Ganze zu Beginn noch eine politische Note, ging es jetzt nur um bessere Haftbedingungen und Strafmilderungsumstände. Alle blutigen Aktionen, die folgen, erstreben nur eines: die Freipressung der gefangenen Genossen.

Dieser Moment markiert auch eine ästhetische Wende im Film. Jedes Gefühl des Aufbruchs und der Freiheit verschwindet. So wird die Geschichte, die so hell mit schönen, fröhlichen Menschen begonnen hat, immer enger und dunkler, bis sie in einem schwarzen Loch endet. Aus der Sicht der Terroristen zu erzählen, bedeutet irgendwann auch, von ihrer Blindheit zu erzählen. Denn sie werden immer hoffnungsloser, isolierter, haben immer weniger mit der realen Welt zu tun, dafür aber immer mehr miteinander, schließlich nur noch jeder mit sich selbst. Bis zur letzten Konsequenz – dem Mord des Selbst.

Es ist ein beklemmendes Gefühl, menschlichem Versagen dieses Ausmaßes zu begegnen. Sie, die sie angetreten waren, um das Leben zu befreien und zu feiern, sind selbst Zerstörer des Lebens geworden. Sie haben in ihrer Welt alles, was ein Menschenleben lebenswert macht – und zum Schluss auch jede Freude, abgetötet.

Ich spüre meinen Widerwillen, die Scheu, die Scham, den detailgetreu nachkonstruierten Szenen des Gemetzels beizuwohnen: Wie Körper, die von Kugelhageln getroffen werden, bei jedem Schuss aufspringen, mitanzusehen wie Blut aus den Einschusslöchern spritzt, wie Köpfe gegen die Scheiben schlagen oder leblos herunterhängen. Es ist so unwürdig. So, nehme ich an, haben es die Mörder auch gemeint: Einen Menschen zu töten heißt auch, ihn endgültig zu insultieren. Ihren eigenen Tod aber wollten sie selbst bestimmen. Die Menschenverächter sind so peinlich selbstherrlich und selbstmitleidig. Auch hier bleiben sich die Filmemacher der Perspektive treu: Als die Täter sterben, dürfen wir nicht dabei sein. Ja, wir dürfen noch nicht mal die Leichen wirklich sehen. Genauso wie sie es auch gemeint hätten.

Tödliche Wirkung

Es bleibt ein seltsamer Nachgeschmack wie bei den meisten Filmen über die RAF und andere Linksterroristen, mit Ausnahme vielleicht von „Stammheim“, der den Sog einer griechischen Tragödie entwickelt. Sie rufen dieses mulmige Gefühl der Trostlosigkeit, der Sinnleere, der Ausweglosigkeit und Ödnis hervor: „Die Stille nach dem Schuss“, „Die bleierne Zeit“, „Baader“ oder „Die innere Sicherheit“.

Das Urteil der Geschichte über die Terroristen wird vermutlich sehr hart ausfallen. Am Ende sind es nur einige aus den Fugen geratene Biografien, vermischt mit krankhaften persönlichen Dispositionen – die Mechanismen, wie Einzelne zu Mördern werden, sind bekannt. Die RAF fiel auf einen ideologisch fruchtbaren Boden und entfaltete ihre tödliche Wirkung. Doch das Gemetzel hat freilich einen anderen Effekt erzeugt als den, den seine Urheber im Sinn hatten: Es heilte die Republik von dem Fieber des Selbstzweifels, das sie mit der 68er-Protestbewegung befallen hatte, und befreite sie von den letzten Residuen einer blutigen Vergangenheit. Am Ende haben sich die Deutschen tatsächlich mit ihrem demokratischen System identifiziert. Seitdem sind Legitimationsfragen der Bundesrepublik Deutschland endgültig Geschichte. Daran erinnert der Film.

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