Der Paketzusteller GLS hat die Vorwürfe des Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff über eine Ausbeutung von Boten zurückgewiesen. Es handele sich bei dem Beitrag um eine „einseitige und verkürzte Berichterstattung“, erklärte das Unternehmen am Donnerstag im hessischen Neuenstein. GLS verpflichte Transportfirmen „zur Beschäftigung von Fahrern in rechtskonformen, sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnissen“, hieß es in einer Mitteilung. Das Unternehmen mit Sitz in Amsterdam, das in Deutschland zu den vier größten Paketlogistikern gehört, „bedauerte“ den Bericht.
Erste Reaktionen gab es auch von der Konkurrenz: Der Sprecher des Paketverbands Hermes, Thomas Voigt, kündigte in einer Diskussionsrunde mit Wallraff bei „stern TV“ am späten Mittwochabend Verbesserungen für die Paketfahrer an. „In diesem System ist etwas nicht in Ordnung“, räumte der Sprecher der Otto-Gruppe ein, zu der auch Hermes gehört. „Wir sind bei Hermes grundlegend dabei, das ganze System umzubauen. Wir werden die Bezahlung pro Paket abschaffen und einen Stundenlohn einführen.“
Wallraff selbst sieht sich durch die Reaktionen auf seine Undercover-Reportage beim Paketzusteller GLS bestätigt. „Ich habe es seit Jahren nicht mehr erlebt, dass ich so einen Nerv getroffen habe“, sagte er am Donnerstag. Es hätten sich Hunderte GLS-Mitarbeiter bei ihm gemeldet. Dies zeige, dass er nicht übertrieben habe. Die Reaktionen seien zum Teil noch über das hinausgegangen, was er in seiner Reportage geschildert habe. „Ich hoffe, dass sich grundlegend etwas ändert“, sagte der 69-Jährige. „Der Druck der Öffentlichkeit kann enorm viel bewegen. GLS kann nicht so weiterverfahren.“
Der Enthüllungsjournalist war für seinen Bericht unter falscher Identität unterwegs gewesen. Bei GLS begann der 69-Jährige zunächst als Beifahrer in einem Auslieferungsfahrzeug. Nach mehrmonatigen Recherchen und Undercover-Einsatz prangert der Schriftsteller „Menschenschinderei mit System“ an. Es müssten staatliche Kontrollen gegen Logistikkonzerne eingeführt und Strafen verhängt werden.
„Ich habe dort an verschiedenen Standorten mitgearbeitet und recherchiert - und habe Arbeitsbedingungen festgestellt, die körperlich, nervlich und finanziell ruinieren“, sagte der Autor am Mittwoch in Düsseldorf. „Es ist ein System, das eine Form von moderner Sklaverei mitten in Deutschland darstellt.“ Mehrere tausend Menschen seien betroffen, vor allem jüngere und männliche Beschäftigte. Wallraff recherchierte für das Magazin der Wochenzeitung "Die Zeit" sowie für RTL.
Arbeiten bis zur Erschöpfung
„Es geht um prekäre Beschäftigung, um Dumpinglöhne von drei bis fünf Euro pro Stunde, um 14-Stunden-Einsätze bis zur totalen Erschöpfung, um nicht bezahlte Überstunden, um Schlafdefizite, die Unfälle provozieren können, um Drangsalierung.“ Arbeitsschutzgesetze würden klar missachtet, Pausen seien kaum möglich. „Gegenüber den Behörden werden manipulierte Angaben gemacht.“
Die unzumutbaren Praktiken erfolgten „mit Wissen des Konzerns und mit System“, betonte der Autor. Es handle sich um eine Form von Scheinselbstständigkeit, in die Menschen gedrängt würden, „die keine Wahl haben und die erst mal einfach froh sind, irgendwie in Arbeit zu kommen.“ Die Konditionen seien schwer durchschaubar, auch was etwa die Risiken bei Unfall oder Krankheit betreffe.
Wallraffs geheime Recherchen
Zwischen 1963 und 1965 schlich Wallraff sich in verschiedene Industriebetriebe ein. Darunter war auch ein Stahlwerk von Thyssen.
1969 erscheint das Buch, in dem Wallraff von seinen Erfahrungen in der Rolle eines Alkoholikers in einer Psychatrie, eines Studenten auf Zimmersuche oder etwa eines Obdachlosen berichtet.
1976 nahm Wallraff die Rolle eines Waffenunterhändlers an. So kam er in Kontakt mit dem ehemaligen Staatspräsidenten Portugals, General Spínola. Bevor dieser seinen geplanten Putsch durchführen konnte, ging Wallraff mit den Details an die Öffentlichkeit.
1977 schlich Wallraff sich für über drei Monate als Redakteur mit dem Namen "Hans Esser" bei der Bild-Zeitung ein. Über seine Erfahrungen in einer der Lokalredaktionen schrieb er ein Buch, in dem er der Bild-Zeitung unter anderem unsaubere Recherchemethoden vorwirft. Die Folge war eine Klage der Axel Springer AG. Der WDR produzierte dazu einen Dokumentarfilm, 1979 und 1981 erscheinen zwei weitere Bücher.
Zwischen 1983 und 1985 schlug Wallraff sich als türkischer Gastarbeiter bei Unternehmen wie McDonald’s und Thyssen durch. Auch dazu erschein ein Buch („Ganz unten“) in dem er seine negativen Erfahrungen schildert, außerdem gründete Wallraff einen Hilfsfonds mit dem Titel „Ausländersolidarität“.
Als türkischer Arbeiter mit dem Namen „Ali“ sprach Wallraff 1996 mit dem damaligen PKK-Führer Abdullah Öcalan. Dabei ging es um den kurdischen Dissidenten Selim Cürükkaya und dessen Buch „Die Suren Apos“, wegen dem ein Mordbefehl gegen ihn verhängt wurde.
Seit 2007 recherchiert Wallraff für das Zeit-Magazin. Seine erste Reportage führte ihn in ein CallOn-Callcenter, wo er am Telefon Systemlotto-Scheine von LottoTeam verkaufte. Dafür ließ er sich von Maskenbildnern 16 Jahre jünger machen. Hier prangerte er unter anderem die Belästigung von Angerufenen und Gesetzesverstöße an.
2008 arbeitete Wallraff ein paar Wochenlang bei der Gebr. Weinzheimer Brotfabrik. Deren alleiniger Abnehmer war zu dieser Zeit Lidl. Neben mangelnder Hygienebedingungen kritisierte Wallraff hier schlechte Bezahlung und Arbeitsbedingungen. 2010 wurde der Betrieb in Folge der Enthüllungen geschlossen.
Drei Monate lang recherchierte Wallraff in Obdachlosenheimen in Großstädten wie Köln und Frankfurt am Main, um im Zuge dessen zahlreiche Missstände aufzudecken. Dazu gehörten ein Mangel an Personal und Fälle von Gewaltanwendungen.
Als Somalier mit dunkler Hautfarbe getarnt reiste Wallraff 2009 als „Kwami Ogonno“ begleitet von einem Kamerateam durch Deutschland. Dabei stieß er oft auf rassistische Anfeindungen. Die Süddeutsche Zeitung hingegen kritisierte Wallraffs Methode selbst als rassistisch.
In der GLS-Germany-Zentrale in Neuenstein und bei der als GLS-Pressestelle angegebenen Agentur Stroomer PR in Hamburg war am Abend kurz vor Ausstrahlung der TV-Doku bei RTL zunächst niemand für eine Stellungnahme erreichbar. Auf eine Anfrage des „Zeit-Magazin“ antwortete GLS: „Die Transportunternehmen werden bei der Erledigung von Transportaufträgen von GLS grundsätzlich zur Beschäftigung von Fahrern in rechtskonformen, sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnissen verpflichtet.“
Nach Wallfraffs Einschätzung ist der Konzern nicht der einzige, der Dumpinglöhne zahlt und Verstöße gegen arbeitsrechtliche Regelungen bewusst in Kauf nimmt. „Bei mir häufen sich Zuschriften von vielen Betroffenen aus den unteren Hierarchie-Ebenen, aber auch von Managern, die diese Zustände nicht mehr verantworten wollen.“
„Viele werden total ausgebeutet“
„Fahrer werden dort zu schwer durchschaubaren Bedingungen und in oft nur mündlichen Verträgen als Subunternehmer verpflichtet, ohne dass GLS sie auf die unternehmerischen und finanziellen Risiken hinweist. Viele werden total ausgebeutet, geraten in eine Schuldenfalle - und GLS stiehlt sich geschickt und komplett aus der Verantwortung“, sagte Wallraff am Mittwoch in Düsseldorf.
GLS (General Logistics Systems) mit Sitz in Amsterdam hat nach eigenen Angaben gut 210.000 Kunden in Europa, davon rund 40.000 in Deutschland. Laut Homepage gibt es bundesweit für den Paket- und Express-Service 57 Depots, und 3850 Zustellerfahrzeuge sind im Einsatz.
Wallraffs Vorwürfe gegen GLS im Wortlaut
„Es konnten oft keine Pausen gemacht werden, nachts waren nur vier oder fünf Stunden Schlaf drin. Das Unfallrisiko ist enorm. [...] Es ist ein System, das eine Form von moderner Sklaverei mitten in Deutschland darstellt.“
„Wir waren in verbeulten Karren und bei Schnee und Eis auch mit Sommerreifen unterwegs.“
„Ein Skandal ist auch, dass die ersten Stunden gar nicht bezahlt werden. Wenn die Fahrer um 0500 Uhr die Pakete aus den Depots holen, vom Band nehmen, scannen und in die Wagen tragen, werden diese zwei, drei Stunden nicht bezahlt.“
„Fahrer werden dort zu schwer durchschaubaren Bedingungen und in oft nur mündlichen Verträgen als Subunternehmer verpflichtet, ohne dass GLS sie auf die unternehmerischen und finanziellen Risiken hinweist. Viele werden total ausgebeutet, geraten in eine Schuldenfalle - und GLS stiehlt sich geschickt und komplett aus der Verantwortung.“
„Gegenüber den Behörden werden manipulierte Angaben gemacht.“
Wallraff hat auch diesmal sein Aussehen verändert und sich auf jünger trimmen lassen. Seit den siebziger Jahren sorgt der Schriftsteller mit seinen Undercover-Recherchen für Schlagzeilen, etwa als „Bild“-Reporter oder als türkischer Gastarbeiter Ali. Seine Recherche über schlechte Bezahlung und mangelnden Arbeitsschutz in einer Großbäckerei, die einem Discounter zuliefert, führte zu einem noch laufenden Prozess gegen den Firmenchef.
Den Namen des Unternehmens hatte Wallraff bis kurz vor Ausstrahlung seiner einstündigen Reportage bei RTL nicht nennen wollen. Er habe eine einstweilige Verfügung gegen die Veröffentlichung im Fernsehen und auch im „Zeit-Magazin“ am Donnerstag befürchtet, sagte er zur Begründung.
Der Verbraucher könne diesem expandierenden europäischen Konzern möglicherweise Einhalt gebieten oder Verbesserungen bewirken, in dem er nicht immer „online, schnell und billigst“ bestelle, meinte Wallraff.
Mit Material von dpa und dapd