Ankerherz-Verlag Der Bestseller, den das Meer gemacht hat

Der kleine Ankerherz Verlag feiert die Helden des Alltags auf hoher See – und landet mit den Memoiren eines Kapitäns einen Bestseller.

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Jürgen Schwandt erinnert sich noch genau an die Schreie des Ozeans. Im Winter 1955 gerät der Kapitän mit seinem Frachter vor der kanadischen Küste in einen Orkan. Mehr als 24 Stunden hält der Sturm die Franziska Sartori und ihre Mannschaft gefangen. Der Strom fällt aus, ein Brecher zerschlägt die Brücke, die See flutet Gänge und Kabinen. „Durch den Ausgang der Kombüse trete ich hinaus aufs Achterdeck, wo mir der Orkan den Atem nimmt“, erinnert sich Schwandt, „es ist, als wolle er in seiner Wut alles Leben davonreißen.“

Die Verletzten können nicht versorgt werden, die Bordapotheke ist zerstört, jetzt kann nur noch Cognac helfen. Wer den bezahle, fragt der Steward, als Schwandt die Flasche öffnet. „Eine Antwort erhält er prompt, und meine Faust trifft ihn präzise auf die Nase.“

Rau geht es zu in den Geschichten von Kapitän Schwandt. Seine Erinnerungen wecken Kindheitsträume und Sehnsüchte nach einer untergegangenen Abenteuerwelt, in der die Seeleute noch Bräute in jedem Hafen hatten, nachts Ladung plötzlich verschwinden konnte und die Tattoos mit der Nähnadel gestochen wurden. „Diese Erinnerungen sind kein Geplauder, sondern konzentrierte Quintessenz aus einem Leben, das sich den Wogen stellte, statt zu dümpeln“, schreibt ein begeisterter Leser. Schwandt, heute 79, zählt mehr als 80.000 Follower bei Facebook. Vor wenigen Wochen stieg seine „Sturmwarnung“ auf Platz 15 der „Spiegel“-Bestsellerliste ein und kletterte in der vergangenen Woche bis auf Platz neun, beim Onlinehändler Amazon erreichte sie sogar Rang eins. Ein Überraschungserfolg. Und für Schwandts Kleinverlag Ankerherz beinahe ein Wunder.

Fünf erfolgreiche Kleinverlage

Denn wenn es in Deutschland an einem nicht mangelt, dann an Lesestoff und Druckerzeugnissen. Rund 2000 Verlage mit mehr als 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr zählt der deutsche Buchmarkt, bei einem Umsatz von rund 9,2 Milliarden Euro. Den größten Teil des Rahmes schöpfen laut einer Rangliste des „Buchreports“ die Branchenriesen ab, allen voran der Bertelsmann-Verlag Random House mit 329 Millionen Euro und – mit großem Abstand auf Rang zwei – S. Fischer mit 82,9 Millionen Euro.

Die großen Verlage drücken mit viel Aufwand und Werbung ihre Titel in den Markt: Ihre Bücher sind es, von denen sich auch die Buchhändler mehr Umsätze versprechen; ihre Bücher sind es, die in Bahnhöfen um das Interesse der Laufkundschaft wetteifern. Die Produkte der meisten kleinen Verlage hingegen kann man nicht finden. Die muss man suchen.

Um sich mehr Sichtbarkeit zu verschaffen, haben sich viele Kleinverlage zusammengeschlossen. Mehr als 100 von ihnen unterstützen zum Beispiel die Kurt Wolff Stiftung. Sie wurde im Oktober 2000 von Verlegern und dem damaligen Kulturstaatsminister Michael Naumann gegründet, um die Vielfalt der Literaturszene zu fördern. Wer Mitglied werden will, darf pro Jahr maximal fünf Millionen Euro umsetzen. Viele dieser Verlage zeichnet ein klares Profil aus. Manche eine erstaunliche Qualität. Und einige sind echte Perlen.

Das kleine Unternehmen Ankerherz vor den Toren Hamburgs war vor neun Jahren noch ein weiterer belächelter Newcomer. Ein Verlag mit einem einzigen Buch im Programm, noch dazu geschrieben von seinem Gründer. Heute immerhin hat Ankerherz schon 40 Werke im Programm, darunter Anthologien und Kochrezepte, Kinderbücher und vor allem Biografien.

Die meisten handeln von vergessenen Helden: DDR-Flüchtlingen und Kriegsfotografen zum Beispiel – Menschen, die etwas Besonderes gewagt oder zu erzählen haben. Er interessiere sich für Leute mit Würde und Haltung, sagt Verleger Stefan Krücken, für Menschen, die an ihre körperlichen oder psychischen Grenzen gehen, die Risiken auf sich nehmen, für sich oder für andere, die an eine bessere, gerechtere Welt glauben und sich dafür einsetzen.

So wie die barmherzigen Schwestern, die ihr Leben anderen widmen – und dafür oft belächelt werden. „Menschen wie Nonnen, Hebammen oder Altenpfleger, Polizisten, Bergwerker und Feuerwehrleute haben uns was zu sagen. Die wollen was. Die spüren einen Auftrag.“ Ankerherz will ihnen bei der Erfüllung dieses Auftrags helfen – und hat sich dafür ein cleveres Geschäftsmodell überlegt.

Geschäftsmodell: Tolle Persönlichkeiten plus Ghostwriter

Für die Bücher heuert der Verlag Ghostwriter an, meist Journalisten. Sie erzählen die Geschichte der Protagonisten, dazu lichten Fotografen sie in persönlichen Bildern ab. Auch äußerlich werden die Bücher aufwendig gestaltet. Das verantwortet Julia Krücken, Ehefrau des Verlagsgründers, Geschäftsführerin und ehemalige Fotojournalistin. Sie sorgt für edles Papier aus nachhaltiger Herstellung, lässt in Deutschland drucken, um bei Problemen schnell vor Ort zu sein, ummantelt die Bücher mit Leinen und lässt die Frontseite prägen.

Bibliophile spüren es sofort: Die Krückens lieben Bücher. Doch diese Liebe kostet. Zurzeit ist kaum ein Buch in den Bestsellerlisten so teuer wie Kapitän Schwandts „Sturmwarnung“. 29,90 Euro. Das ist schon ein Wort.

Dass sich die Bände trotzdem gut verkaufen, wundert Literaturexperten wie Rolf-Bernhard Essig nicht. „Der Trend zur Personalisierung hält an, nicht nur in der Presse und im Fernsehen. Auch die Literatur bricht Themen heute gerne in Einzelschicksale herunter“, sagt Essig, dessen Vater selbst Seefahrer war.

Als nüchternes Sachbuch sei ein Thema wie „Der Wandel der Seefahrt im vergangenen Jahrhundert“ vielen Lesern erst mal zu sperrig. Erzählen aber die Kapitäne von ihren Erlebnissen, von den Veränderungen an Bord, von der Entromantisierung ihrer Profession, werde von dem Buch sogleich angenommen, es lese sich flüssig, spannend und informativ zugleich. Hinzu kommt, dass das Sujet der Ferne, des Aufbruchs und des Abenteuers offenbar besonders leicht verfängt. „Seefahrer faszinieren uns“, sagt Essig, weil „sie immer wieder in eine Welt aufbrechen, die wir nicht kennen und die wir uns deshalb umso fantastischer, bedrohlicher oder romantischer ausmalen können“.

Die beliebtesten Bücher seit Erfindung des Buchdrucks

Entsprechend viele Helden zur See kennt die Literatur, von der Irrfahrt des Odysseus bei Homer über Jack Londons „Seewolf“ bis hin zu Pi, dem Jungen aus Yann Martels „Schiffbruch mit Tiger“. Immer geht es um das Wagnis, es als Mensch mit der Natur aufzunehmen, hinauszufahren auf das offene Meer, den Elementen zu trotzen – und zu überleben. Insofern spiele der Ankerherz Verlag mit seinen Kapitänen geschickt mit einem uralten Menschheitsthema, sagt Essig – und mit der Differenz, die zwischen dem Abenteuer von einst und dem effizienten Containerschiff-Alltag von heute liegt: Je größer die modernen Schiffe, desto größer die Verklärung der Koggen, Windjammer und Dieselkähne.

Tatsächlich wirken Krückens maritime Helden wie aus der Zeit gefallen. Weil sie für den Job hohe Risiken eingehen – anders als die meisten Berufe in den Industrienationen bleibt die Seefahrt aller technischen Hilfsmittel zum Trotz gefährlich. Und weil sie körperlich hart arbeiten. Mut und Kraft sind immer noch wichtige Zutaten für überzeugende Helden, sagt Essig.

Zumindest bilden sie die Basis des Ankerherz-Rezepts. Helden des Alltags also, Schweiß, Blut und Tränen, Männlichkeit à la Hemingway: neben Kapitänen auch Boxer und Zechenarbeiter. Und natürlich starke Frauen. Eine eigensinnige Person wie die Malerin Françoise Gilot etwa, die Pablo Picasso verließ, um nicht im Schatten des Genies zu ersticken („Die Frau, die Nein sagt“). Ein Sturkopf wie der New Yorker Polizist Edward Conlon, der Mordversuchen trotzt, Bandenkriege bekämpft und dabei den Glauben an das Gute nicht verliert („In den Straßen der Bronx“). Oder die Erfolgsgeschichte des ehemaligen Bundesligafußballers Bobby Dekeyser, der ein millionenschweres Unternehmen hochzieht und dennoch dem Geldbesitz abschwört („Unverkäuflich!“).

Diese kulturellen Highlights bietet 2016
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Ein weiterer Trumpf des Ankerherz Verlags: Er weiß die persönliche Nähe seiner Figuren im Umgang mit den Kunden zu beglaubigen. Noch heute verpacken die Mitarbeiter in einer alten Tanzhalle in Hollenstedt, 40 Kilometer südwestlich von Hamburg, jedes Buch einzeln, wenn es bei Ankerherz direkt bestellt wird. Schlagen es in Seidenpapier ein und legen Stammkunden einen handgeschriebenen Gruß dazu. Lädt der Verlag zur Lesung in eine Hamburger Hafenkneipe, liest der Chef selbst.

Und so hat es sich weit herumgesprochen, dass der Verlag Lebensgeschichten überzeugend inszeniert. Die Zahl der unverlangt eingesandten Manuskripte steigt, auch die von Stars und Sternchen. Doch das Hauptaugenmerk der Krückens liegt auf dem Ausbau des Kerngeschäfts: Abenteuer und Seemannsgarn. Wer mag, kann bei Ankerherz neuerdings den Whiskey zum Buch bestellen – oder gleich eine Schiffsreise.

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