Berliner „Werkbundstadt“ Zukunftsvisionen aus Backstein

Mitten im Berliner Stadtteil Charlottenburg plant der Deutsche Werkbund ein neues Quartier zum Wohnen, Leben und Arbeiten. Die „Werkbundstadt“ soll Antworten auf die Herausforderungen des modernen Städtebaus geben.

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Auf einer Industriebrache in Berlin direkt an der Spree plant der Werkbund ein neues Quartier. Quelle: Werkbund

Berlin Ein verlassenes Tanklager am Berliner Spreeufer rostet seit Jahren vor sich hin. Es liegt keine sechs Kilometer vom Brandenburger Tor entfernt – und könnte unter anderem deshalb zu einer vielversprechenden Wohnlage in der seit Jahren wachsenden Metropole werden. Das dachte sich auch der Deutsche Werkbund, eine 1907 gegründete Vereinigung von Akteuren aus Architektur, Kunst, Handwerk und Industrie. Der Verein plant auf diesem Gelände direkt neben dem Charlottenburger Heizkraftwerk noch etwas mehr als nur Wohnraum: die „Werkbundstadt“.

Auf 28.000 Quadratmetern – einer Fläche von knapp vier Fußballfeldern – soll hier eine Art neuer Stadtteil entstehen: mit Wohnungen, Gastronomie, Gewerbegebiet - und einem zentralen Platz. Und das nicht nur für die Berliner High Society: Ein Drittel der 1.100 Wohnungen sollen mietpreisgebunden und so dem mit der Einwohnerzahl stetig wachsenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum gerecht werden. Berliner Mischkultur statt Gentrifizierung.

Im ersten Halbjahr 2017 wuchs Berlin um 18.400 auf knapp 3,7 Millionen Einwohner, wie das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg meldete. Und das trotz der für viele unbezahlbaren Mietpreise. Wer im dritten Quartal 2017 einen neuen Mietvertrag in Berlin abgeschlossen hatte, bezahlt für eine 60 bis 80 Quadratmeter große Wohnung im Durchschnitt 11,71 Euro pro Quadratmeter. Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten liegt Berlin damit auf dem siebten Platz der teuersten Wohngegenden. Und gleichzeitig zählt es zu den beliebtesten.

Die neue Werkbundstadt soll dieser Entwicklung gerecht werden. „Dichte ist ein wesentlicher Faktor für die Zukunftsfähigkeit unserer Städte“, sagt der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven. Er entwarf ein zentrales, hochgeschossiges Gebäude der neuen Werkbundstadt, das nicht nur Wohnraum bieten soll. Seit 1907 sieht sich der Deutsche Werkbund der Qualität verpflichtet: Die 38 Gebäude des neuen Berliner Viertels sollen „stadträumlich und architektonisch die Voraussetzungen für eine sozial, demografisch, kulturell und funktional vielfältige Struktur der Werkbundstadt schaffen“, heißt es in den Anforderungen an die Architekten.

Finanziert wird die Werkbundstadt durch Investoren, ohne staatliche Förderung. Der Werkbund beauftragte außerdem 33 Architekturbüros, die sich um die Planung der insgesamt 38 Gebäude kümmerten. Einschränkungen gab es aber auch für die Architekten. Die Fassaden müssen zu 60 Prozent aus Backstein sein, um sich in die industriell geprägte Nachbarschaft zu integrieren.

„Ich war mir bei der Planung nicht mehr so sicher, auf welchen Baustoff wir uns jetzt geeinigt haben“, sagt Ingenhoven. „Ziegel, Backstein, Klinker?“ Die Unwissenheit hinderte den bekannten Architekten nicht daran, seinen Entwurf am 12. Oktober vor ausgewähltem Düsseldorfer Publikum vorzustellen: ein üppig begrüntes Wohn- und Gesellschaftsgebäude mit Fronten aus Glas und hier und da ein paar grünen Ziegeln drum herum.

Dass direkt neben der neuen Stadt ein Heizkraftwerk die Nachbarn mit Fernwärme versorgt, störte den Deutschen Werkbund bei der Planung nicht. Die Lärmemissionen, die mit den riesigen Pumpen und oberirdischen Leitungen des Kraftwerks einhergehen, sollen noch vor Fertigstellung des neuen Stadtteils in Charlottenburg unter Kontrolle sein. Und das kann noch dauern: „Bis zum 100-jährigen Jubiläum von Bauhaus schaffen wir es wohl nicht“, sagt der Berliner Architekt Paul Kahlfeldt, Vorstand des Deutschen Werkbunds Berlin.

1919 gründete Walter Gropius das Bauhaus als Kunstschule und setzte damit den Grundstein für ein Umdenken in der Architektur, hin zu mehr Funktionalität und weniger Schnickschnack. Als Mitglied des Werkbunds arbeitete Gropius auch als einer von 17 Architekten an der Stuttgarter Werkbundsiedlung Weißenhof. Mit der Siedlung im schnörkellosen Bauhausstil hatte es die Vereinigung 1927 zu internationaler Bekanntheit gebracht.

Wann die Berliner Werkbund-Siedlung gebaut wird, steht noch nicht fest: Die Architekturbüros haben die Entwürfe für die einzelnen Gebäude fertig, das Modell der Werkbundstadt im Maßstab 1:2000 steht schon seit längerem. Im Moment befindet sich das Projekt aber noch im Genehmigungsverfahren, das noch zwei Jahre dauern kann.

Alle Beteiligten, darunter Senat und das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, stünden hinter den Plänen zur Werkbundstadt, sagt Projektleiterin Corinna Scheller. Doch es gibt noch Hürden zu nehmen. Das Heizkraftwerk von Vattenfall als direkter Nachbar könnte so eine sein. Öltanklager in der Nachbarschaft sorgen für Explosionsgefahr. Nicht nur das schloss eine Wohnbebauung auf einem Teilgebiet der Werkbundstadt nach europäischem Planungsrecht bisher aus.


Keine Parkplätze, dafür E-Autos und Leihräder

Das strenge Baugesetz stand nicht nur im Fall der Werkbundstadt dem immer dringender werdenden Bedarf an neuem Wohnraum in Stadtgebieten entgegen. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks sah das Problem und machte sich für eine neue Gesetzgebung im „urbanen Gebiet“ stark. Das Kabinett hatte den entsprechenden Gesetzentwurf zur „Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt“ am 30. November 2016 beschlossen, der Bundestag dem Gesetz im März 2017 zugestimmt.

„Mit dem ,Urbanen Gebiet‘ schaffen wir eine wichtige Voraussetzung für den Wohnungsbau in den Städten. Die Städte bekommen damit ein neues Instrument an die Hand, um dichter und höher zu bauen und das Miteinander von Wohnen und Arbeiten in den Innenstädten zu erleichtern", so Barbara Hendricks in einer Pressemitteilung der Bundesregierung. Nach zwei Jahren der Planung sind die Hürden für den Werkbund dadurch etwas kleiner geworden. Mit Rückschlägen kennt der sich allerdings auch aus.

Ein früheres Projekt des Werkbunds, die Siedlung Wiesenfeld in München, ging in eine ähnliche Richtung wie die Werkbundstadt. Ein altes Kasernengelände, knapp vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, sollte zu einer Wohnsiedlung umgebaut werden. Der Vorschlag des japanischen Architekten Kazunari Sakamoto, der 2006 die Ausschreibung des Werkbunds gewann: 24 schmale, vier- acht- und elfgeschossige Häusertürme mit hängenden Gärten und öffentlichen, begrünten Dachterrassen – Alpenblick inklusive. Die Hälfte der Wohnungen sollten öffentlich gefördert werden. Im Zentrum der Siedlung plante der Architekt einen Kindergarten und ein Schwimmbad.

Architektenverbände wie BDA und die Architektenkammer sprachen sich für die Pläne des Werkbunds aus. So sei der Entwurf des Japaners ein zukunftsfähiges, ökologisches und sozial vorbildliches Modell für verdichtetes, ideal belichtetes und belüftetes innerstädtisches Wohnen, wie das Architekturmagazin „Baunetz“ schreibt. SPD und Grüne lehnten dieses Modell wegen angeblicher ökologischer und sozialer Mängel jedoch ab. Wiesenfeld wurde nie gebaut. 

Auch in Berlin steht das letzte Urteil noch aus. Dass höhere Häuser und ein Arbeitsplatz direkt um die Ecke nicht die einzigen Veränderungen sind, die mit einer immer moderner werdenden Großstadt einhergehen, ist dieses Mal auch dem Werkbund klar. Er beschäftigte sich im Berliner Projekt auch mit der Frage, wie und womit sich die Städter zukünftig durch die Metropolen bewegen werden.

Mit dem Ergebnis, dass die Verkehrssituation heute nicht an zu wenig Parkraum, sondern an zu vielen Autos scheitert. Öffentliche Parkplätze soll es in der Werkbundstad nicht geben, wohl aber eine Flotte von 400 Elektrofahrzeugen und 1200 Fahrrädern. Ein Car-Sharing-Prinzip. Absprachen darüber soll es bereits mit BMW gegeben haben.  

Die neue Werkbundstadt soll an die Berühmtheit der Weißenhofsiedlung anknüpfen. Diese entsprach der damaligen Vorstellung von modernem Wohnen. Auf einem nahezu gleichgroßen Grundstück hatte der Werkbund 1927 in Stuttgart 33 Gebäude errichtet. Sie boten Platz für 60 Wohnungen. In 90 Jahren änderten sich die Ansprüche an das Wohnen in der Stadt. Die Werkbundstadt bietet in ihren 38 Gebäuden fast doppelt so viele Wohneinheiten wie damals in Stuttgart und verkörpert so das Motto: Siedlung war gestern. Die Stadt ist morgen.

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