Frank Mattern (52) gilt unter Mitarbeitern als "super-schlau", gradlinig und offen, aber auch als einer, der von Natur aus andere automatisch auf Distanz hält. Eigenschaften, die dem Deutschlandchef der Strategieberatung McKinsey bei seinen "Town-Hall-Meetings" zupass kommen. Mindestens einmal im Jahr tourt Mattern durch die acht McKinsey-Büros in Deutschland und in Österreich, um mit seinen 1300 Kollegen Tacheles zu reden: Wo stehen wir? Was können wir noch besser machen?
Eine leichte Übung für Mattern - denn im Moment steht der Marktführer unter Deutschlands Consultinghäusern blendend da. Matterns Berater sind bestens gebucht - so gut, dass Mattern die Zahl der Neueinstellungen in diesem Jahr von 230 auf 250 erhöht hat.
Branche am Scheitelpunkt
Der Erfolg von McKinsey ist dabei weder selbstverständlich noch in Stein gemeißelt. Wie fragil das Geschäftsmodell gerade der Topberatungshäuser geworden ist, beschreibt der amerikanische Managementguru und Experte für disruptive Innovation Clayton Christensen: "Die Beraterbranche ist an einem Scheitelpunkt angelangt. Dieselben Kräfte, die schon so viele Geschäfte - von der Stahl- bis zur Verlagsbranche - umgewälzt haben, sorgen jetzt dafür, dass sich auch die Beraterbranche neu formiert".
100 Jahre immun
100 Jahre habe das Geschäftsmodell der Strategieberater darauf basiert, smarte Außenstehende für begrenzte Zeit in Organisationen zu schicken und Lösungen für die schwierigsten Probleme der Kundenunternehmen vorzuschlagen, so Harvard-Professor Christensen. 100 Jahre lang hätten die extreme Intransparenz des Projektgeschäfts und die hohe Veränderungsdynamik, die den Beraterberuf per se innewohne, quasi immun dagegen gemacht, selbst durch Neuheiten verdrängt zu werden. Indem die smarten Vordenker eine neue Idee nach der anderen formulierten, gelang es ihnen über Jahrzehnte, ein Markenimage der scheinbar unschlagbaren Überlegenheit vor sich herzutragen. Und weil sich nur schwer messen lässt, welchen Anteil Berater am Erfolg der von ihnen betreuten Unternehmen tatsächlich haben, mussten den Kunden Reputation, hohe Preise, eloquentes Auftreten und Elitedenken als Garant für Qualität in den meisten Fällen ausreichen.
Knallharter Ausleseprozess
Es mehren sich jedoch die Zeichen, dass dieser ungeschriebene Pakt zwischen den Topberatern und ihren Kunden in den Konzernen aufbricht. "Der Markt für Strategieberatung wächst zwar noch, aber nicht mehr zweistellig wie vor der Finanzkrise und mit viel stärkeren Schwankungen als früher", sagte Dietmar Fink, BWL-Professor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und Direktor der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Management und Beratung (WGMB) kürzlich der WirtschaftsWoche. In den vergangenen fünf Jahren - so der Experte für den Beratermarkt - sei das Preisniveau um gut 20 Prozent eingebrochen. Im Markt tobe ein knallharter Ausleseprozess.
Unzuverlässige Alumni
Als Fluch und Segen zugleich erweisen sich die vielen Ex-Strategieberater, die mittlerweile auf der anderen Seite des Schreibtisches - bei den Kunden - sitzen. Marktforscher Kennedy Research schätzt die jährliche Fluktuation in den Topberatungshäusern über alle Hierarchieebenen hinweg auf rund 20 Prozent. Zusammengenommen kämen die drei Größten der Branche - McKinsey, BCG und Bain - so schätzt Kennedy, auf 50.000 Alumni weltweit. Allein das Ehemaligen-Netzwerk von McKinsey soll 27.000 Ex-Berater zählen. Deren Bereitschaft, Aufträge an ihre Ex-Kollegen zu vergeben, ist sicherlich hoch einzustufen. Doch die Insider entpuppen sich mehr und mehr als unzuverlässige Kantonisten. Selbst Vorstände, die in den letzten Jahren noch die Preisdrückerei der Konzern-Einkaufsabteilungen verurteilten und bei der Vergabe von Aufträgen an Berater immer mal wieder großzügig ausscherten, sind mittlerweile zurückhaltend geworden. Die Topmanager stehen selbst unter zu hohem Ergebnisdruck, kaum einer will und kann es sich im Compliance-Zeitalter mehr leisten, dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass wegen ihm Beraterkosten aus dem Ruder laufen. Der Bostoner Wissenschaftler Christensen geht davon aus, dass der gestiegene Kostendruck bei den Klienten langfristig dazu führt, dass die simple Gleichung "hohe Preise = hohe Qualität" als Argument ausgedient hat.
Knallharte Selektion
Gleichzeitig fordern die Ex-Consultants ihren Beraterkollegen immer mehr Leistung für ihr Geld ab. "Wer selbst aus einer Topberatung kommt, selektiert sehr genau, welche Arbeiten intern erledigt werden können und bei welchen Fragen das Unternehmen auf keinen Fall auf externe Berater verzichten kann", so Eva Manger-Wiemann. Die Partnerin der Metaconsultingfirma Cardea unterstützt Unternehmen seit knapp 15 Jahren bei der Auswahl geeigneter Berater und der Steuerung von Beratungsprojekten. Für ihre Auftraggeber sondiert sie den Beratermarkt laufend nach den Perlen unter den hoch spezialisierten, kleineren Beratungshäusern, überprüft und zertifiziert deren Kompetenz und sorgt neuerdings über die Suchmaschine Consultingsearcher dafür, dass Unternehmen kostenlos selbst die besten Branchen- und Fachspezialisten im Beratungsmarkt ausfindig machen können.
"Große Teile der aufwändigen Analysearbeiten, die früher den externen Strategieberatern gutes Geld einbrachten, erledigen die Kunden zunehmend selbst", sagt die Branchenkennerin. "Es ist längst Standard, größere Projekte in verschiedene Phasen zu stückeln und nach jedem erreichten Meilenstein, neu darüber nachzudenken, welchem Berater der nächste Projektschritt anvertraut werden soll".
Diese Zersplitterung der Beratungsprojekte ermögliche es den Unternehmen, Teilprojekte an kleinere Spezialisten-Boutiquen zu vergeben, die früher fast ausschließlich großen Häusern vorbehalten waren.
Hausgemachte Konkurrenz
Laut Clayton Christensen, früher selbst bei Boston Consulting Group als Berater tätig, geht von den Tausenden von Alumni jedoch noch eine ganz andere Gefahr aus: der Aufstieg neuer Konkurrenten wie Eden McCallum und Business Talent Group (BTG). Diese Firmen stellen für Mandanten schlankere Projektteams aus Freelancer-Beratern zusammen und berechnen dafür nur einen Bruchteil der Kosten der traditionellen Wettbewerber. Der britische Anbieter Eden McCallum und das amerikanische Haus BTG sprechen dafür aktiv ehemalige Topberater an, die sich zuvor bei McKinsey, BCG oder Bain einen Namen gemacht haben und dann dort ausgeschieden sind. So können sie beim Kunden mit erfahrenen Branchenkoryphäen und hochkarätigen Fachspezialisten auftrumpfen, die miteinander harmonieren, weil sie alle über eine ähnliche Ausbildung und denselben Stallgeruch verfügen. Und sie können die Beraterteams viel billiger anbieten, weil sie - anders als die traditionellen Strategieberatungshäuser - weder Geld für Aus- oder Weiterbildung ausgeben müssen noch hohe Fixkosten für Innenstadtbüros und Berater zu tragen haben, die gerade mal nicht ausgebucht sind.
Entzauberte Berater
Auch das Argument der Topstrategieberater, ihre weltweiten Research-Abteilungen und exklusiven Benchmark-Datenbanken lieferten den Kunden einzigartige Erkenntnisse über Märkte und Wettbewerber, verliert an Zugkraft. Schon seit geraumer Zeit lagern die Unternehmen solche Aufträge an Marktforschungsunternehmen wie Gartner oder Forrester aus. Im Trend liegen - so argumentiert Christensen - zudem Netzwerke wie Gerson Lehman Group (GLG), die den Informations- und Wissensaustausch mit Industrieexperten ermöglichen oder auch Database-Provider wie ISM Health, die rund um die Uhr hoch fundierte und hoch spezialisierte Markt- und Branchenanalysen liefern, auf Wunsch auch auf mobile Geräte. Einige dieser Datenanbieter versuchten sich sogar gerade selbst als spezialisierte Berater aufzustellen.
Welche Rolle(n) Berater heute spielen
In vielen Unternehmen ist das Branchen-Know-how und Erfahrungswissen vorhanden, um neue Lösungen zu finden. Es muss nur aus den Mitarbeitern herausgekitzelt werden. Als Moderator bereitet der Berater die wesentlichen Arbeitsschritte und Methoden hierfür vor, sorgt für eine strukturierte Diskussion, fördert neue Ansichten, gibt kollektivem Denken eine Struktur und entwickelt gemeinsam mit Management und Mitarbeitern neue Strategien, Organisationsmodelle und Prozesse. Ein guter Moderator ist Organisator, Didaktiker, Trainer, Coach und Sparringspartner des Topmanagements zugleich.
Bei der klassischen Form der Beratung kaufen Unternehmen Fach- und Erfahrungswissen ein, das im Unternehmen selbst nicht vorhanden ist. Seit den Anfängen der Strategieberatung á la McKinsey prägt die Expertenrolle das öffentliche Bild der Beraterbranche. Und so bieten noch heute praktisch alle Beratungsunternehmen diese Rolle an, sehr ausgeprägt auch bei Spezialistenboutiquen zu finden, die sich auf ein Fachgebiet (z.B. Einkauf oder Controlling) oder eine Branche (z.B. Finanzdienstleistung) fokussiert haben. Die Beratungsprojekte, in denen Experten gefragt sind, zeichnen sich durch längere Analyse- und Konzeptionsphasen aus. Denn hier kann der Experte mit seinem Fachwissen am meisten bewirken.
Bei besonders kniffligen und komplexen Fragestellungen erwarten die Kunden von Beratern wahre Starqualitäten. Der Vordenker muss entweder überragende intellektuelle Fähigkeiten mitbringen oder über langjährige Industrieerfahrung verfügen. In der Praxis wird zwischen so genannten Brain- und Grey-Hair-Projekten unterschieden. Bei Brain-Projekten ist die zu lösende Aufgabe neu und von großer Komplexität. Der Berater muss vor allem mit Kreativität, Innovation und Pionierleistungen bei neuen Ansätzen, Konzepten und Techniken aufwarten können. Bei Grey-Hair-Projekten sind dagegen kundenindividuelle Lösungen gefragt, die Aufgabenstellung ist jedoch meist im Grundsatz bekannt und Lösungsansätze können durchaus aus anderen Projekten übertragen werden. Die Kunden erwarten von Grey-Hair-Vordenkern nutzbare Erfahrungen und Vorwissen aus früheren Projekten sowie Urteilsvermögen. Bei Brain- wie bei Grey-Hair-Projekten sind Standardlösungen unakzeptabel. Hier zählt vor allem Seniorität und Spezialwissen.
Bei umfangreicheren Beratungsprojekten, die zum Beispiel in mehreren Ländern gleichzeitig stattfinden, übertragen Unternehmen die Projektkoordination und -steuerung gerne Beratungsdienstleistern. Der Projektmanager stellt sicher, dass die einzelnen Maßnahmen und Projektschritte termingerecht umgesetzt werden. Diese Rolle erfordert Organisationstalent und Methoden-Know-how.
"Umbauarbeiten" gehören heute in Unternehmen zum Tagesgeschäft. Beim Gros der Beratungsprojekte handelt es sich um sogenannte "Procedure-Projekte" – das heißt, dem Unternehmen ist das zu bearbeitende Problem gut bekannt, es hat aber selbst nicht genug Leute und häufig auch nicht das Know-how, um diese Umbauarbeiten aus eigener Kraft heraus zu stemmen. Bei IT- oder Transformationsprojekten liefern Berater wie z.B. Accenture, Capgemini, IBM oder BearingPoint Lösungen, die sie anschließend gemeinsam mit dem Kunden auch umsetzen.
Nach dem Hilfe-zur-Selbsthilfe-Prinzip schulen praxiserfahrene Spezialisten die Mitarbeiter des Kunden in Methoden- oder Fachtrainings, damit diese Aufgabenstellungen selber lösen und umsetzen können. Die Idee: Wenn die eigenen Mitarbeiter befähigt werden, Projekte umzusetzen, muss das Unternehmen künftig nicht mehr so viel Geld für Beratung ausgeben. Um anderen etwas beizubringen, braucht es Fachwissen, Empathie und didaktisches Geschick.
Der Berater stellt dem Unternehmen bereits entwickelte und in der Praxis getestete Methoden und Prozesslösungen – wie zum Beispiel Lean Management oder Six Sigma - zur Verfügung.
Diese Rolle beinhaltet hauptsächlich das Design und die Steuerung von Transformations- und Veränderungsprojekten. Der Berater bietet (verhältnismäßig) kleinen fachlich-inhaltlichen Input, er ist mehr Begleiter, Treiber, Controller, Anreger und Coach. Deshalb haben darauf spezialisierte Berater häufig auch keine explizite Branchen- oder fachliche Spezialisierung.
Der Berater verabschiedet sich von seiner Rolle als Berater und übernimmt als Senior Projektmanager selbst weitgehend die Führungs- und Umsetzungsfunktion. Interims-Manager sind bei der Überbrückung von Engpässen oder Umbruchsituationen gefragt. Diese Rolle übernehmen meist nur Berater, die vorher eigene Linienverantwortung in der Industrie gesammelt haben oder Ex-Linienmanager ohne explizite Beratungserfahrung.
Beim Management von Unternehmen werden datenanalytische Fähigkeiten immer wichtiger. Einige Beratungsunternehmen haben dazu eigene Teams im Angebot, die nur darauf spezialisiert sind, Daten zu erheben, zu analysieren und zu interpretieren, etwa um den Vertrieb zu verbessern und Kunden besser kennen lernen zu können.
Kunden fragen auch Beratung nach, um Entscheidungen oder Vorhaben zu legitimieren. Die Bestätigung der eigenen Meinung mittels einer neutralen Sichtweise kann der (fachlichen) Absicherung, der Entscheidungssicherheit, aber auch der Kommunikation dienen. Für die Legitimationsfunktion werden häufig die bekannten Brands herangezogen, aber auch externe Gutachter mit Spezialwissen können diese Rolle übernehmen.
Globale Größe gefragt
Hinzu kommt: Die global tätigen Konzernkunden pochen gegenüber den großen Strategieberatern auf Größe und globale Lieferfähigkeit. "Immer weniger Kunden sind bereit, hier Abstriche zu machen", sagt Manger-Wiemann. Der Kostendruck, der dadurch entsteht, ist enorm. Branchenexperten wie Dietmar Fink, gehen davon aus, dass dieser Kraftakt nur ein, zwei, maximal drei Häusern wirklich durchgängig gelingen wird. "Die anderen werden Abstriche bei der regionalen oder inhaltlichen Abdeckung machen müssen".
Innovation in eigener Sache
Marktführer McKinsey ist sich offenbar der Verletzlichkeit seines klassischen Geschäftsmodells schon seit längerem bewusst – und hat seine Aktivitäten in den vergangenen Jahren sukzessive ausgebaut. Laut Clay Christenson heißt der wichtigste Schachzug des Marktführers dabei: "McKinsey Solutions". Seit 2007 hat McKinsey unter diesem Arbeitstitel für 14 verschiedene Branchen- und Themenschwerpunkte - vom Krankenhausmanagement über die Bergbauindustrie bis hin zum Supply Chain Management - Standard-Pakete für Unternehmen entwickelt.
Die Idee dahinter: Wenn Kunden uns in Zukunft weniger maßgeschneiderte Diagnosen und Lösungen abkaufen, sollten wir sie wenigstens mit strukturiertem und erprobtem Wissen versorgen, mit dem sie weniger komplexe Probleme mit Hilfe standardisierter Prozesse anpacken können. McKinsey zeigt seinen Kunden so auch, wie Probleme durch den gezielten und vor allem reduzierten Einsatz von McKinsey-Beratern kostengünstiger gelöst werden können. So behält McKinsey als Berater seinen Fuß in der Tür und sorgt gleichzeitig selbst für die disruptive Innovation, die der Beraterbranche ohnehin blüht.