Michael Thanheiser ist ein zurückhaltender Mensch. Er spricht leise, in immer derselben Tonlage. Völlig emotionslos stellt er bei der letzten Bilanz-Pressekonferenz im Oktober 2012 das Zahlenwerk der Marseille Kliniken AG (MK AG) vor, als hätte das alles nicht viel mit ihm zu tun. Dabei könnte er sich einen selbstbewussteren Auftritt leisten: Seit Thanheiser am Steuer ist, hat sich die Lage des krisengebeutelten Unternehmens verbessert. Die Auslastung der Pflegeheime ist von 87 auf durchschnittlich 89 Prozent gestiegen.
Die Kosten sind gesunken. Der Wandel vom Klinik- zum Pflegegeschäft ist abgeschlossen, und erstmals seit vier Jahren erhalten die Aktionäre eine Dividende.
Damit saß Thanheiser eigentlich fest im Sattel. Einen erfolgreichen Manager zu entlassen lässt sich schwer begründen. Gleichzeitig, so wird in der Branche vermutet, geht so ein ruhiger Typ wie Thanheiser Keilereien mit Großaktionär Ulrich Marseille aus dem Weg.
Das ist in der Hamburger Zentrale wichtig, um zu überleben. Aber offenbar nicht mehr ausreichend: Mitarbeiter berichten, Thanheiser sei beurlaubt. Ob er danach an seinen Arbeitsplatz zurückkehre, sei ungewiss. Die MK AG bestreitet dies. Thanheiser nehme derzeit seinen ihm vertraglich zustehenden Urlaub.
Falls die Gerüchte stimmen und Thanheiser abserviert werden soll, bräuchte er das nicht persönlich zu nehmen. Kaum ein Manager behält seinen Arbeitsplatz in der Hauptverwaltung lange. Seit Dezember 2007 hat das Unternehmen nicht nur sieben Vorstände verbrannt. Die Fluktuation in der Hauptverwaltung ist insgesamt sehr hoch.
Das dürfte unter anderem an Marseilles Geschäftsgebaren liegen. Ihm gehört neben der Mehrheit an der MK AG noch eine Reihe weiterer Unternehmen, die Geschäfte mit der MK AG machten. Man lieh sich gegenseitig Geld, tauschte Putz- und Bürokräfte aus oder handelte Unternehmen. Immer wieder stand dabei der Verdacht im Raum, dass die Geschäfte zu vorteilhaft für die Eheleute Marseille gewesen sein könnten.
Recherchen der WirtschaftsWoche belegen jetzt: Das wahre Ausmaß übertrifft den erwarteten Umfang an Kungelei bei Weitem.
69 Prozent der Mitarbeiter der Zentrale verließen in einem Jahr die MK AG
So überwies die MK AG einer Privatfirma von Ulrich Marseille eine siebenstellige Summe, anscheinend damit diese ihre Schulden bei einem Konkurrenten begleichen konnte. Zudem kaufte die MK AG 2010 von Estella-Maria Marseille einen Altenpflegedienstleister für 6,5 Millionen Euro, obwohl laut der Ersteinschätzung eines Gutachters das Unternehmen viel weniger wert sein sollte. Zudem sollen in dem Gutachten Mietverpflichtungen des Unternehmens nicht berücksichtigt worden seien.
Familie Marseille würde sich mit Deals zulasten der MK AG zwar selbst schaden, da sie Großaktionär ist. Wenn aber die Unternehmen, die den Profit einstreichen, ihnen zu 100 Prozent gehören, dürften sie insgesamt finanziell gewinnen.
Ulrich Marseille ist der Boss bei der MK AG – ob er ein Amt innehat oder nicht. Das ist auch deshalb möglich, weil im Aufsichtsrat neben seinem Kumpel Thomas Middelhoff, früher Chef des pleitegegangenen Handelskonzerns Arcandor, und Ex-Bild-Chefredakteur Hans Hermann Tiedje Marseilles Ehefrau sitzen.
Hausverbot für Marseille
Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Streit zwischen der Marseille-Fraktion und den Vorständen. Die Ex-Vorstände Thomas Klaue und Stefan Herzberg erteilten dem Großaktionär angeblich wegen laufender Eingriffe in die Geschäftsführung gar ein Hausverbot.
Ein Hamburger Aktienrechtler soll ihnen bescheinigt haben, dass dies unter den damals gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit war, um selbst keine juristischen Probleme zu bekommen. Sowohl Klaue als auch die MK AG bestätigten, dass es das Hausverbot gab, äußerten sich aber nicht zu den Gründen.
Kurz nach dem Vorfall und anderer skurriler Vorgänge (siehe oben Artikel "Kampf der Maulwürfe") wurde Klaue gefeuert. Herzberg ging nach acht Monaten freiwillig. Wie viele andere auch: Laut einer internen Statistik lag die Fluktuationsquote in der Hauptverwaltung zwischen Frühjahr 2010 und Frühjahr 2011 bei 69 Prozent. Im Durchschnitt blieben die Ex-Mitarbeiter gerade einmal zweieinhalb Jahre.
Hohe Mitarbeiter-Fluktuationen stärken Marseille
Die MK AG erklärte hierzu, der Konzern befinde sich in einer „Rekonstruktionsphase nach dem desaströsen Vorstandsverhalten von Herzberg und Klaue“.
Klaue erklärt hierzu: „Wer immer behauptet, eine hohe Fluktuation bei der MK AG beruhe auf meinem Wirken, der lügt!“ Er habe teilweise sogar schriftlich, „dass der Wunsch, die MK AG zu verlassen, nichts mit mir zu tun hatte“. Herzberg erklärt: Er habe seine Tätigkeit erst im „Februar 2011 begonnen, sodass ich wohl kaum der Grund für eine möglicherweise hohe Fluktuation hätte sein können“.
Ein Ex-Mitarbeiter der AG meint, dass die Fluktuation die Position von Ulrich Marseille festige. Wenn alle um ihn herum ständig wechselten, bleibe er der Einzige, der sich auskennt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Vorfälle wie die folgenden überhaupt möglich sind.
2009 stritt das Bauunternehmen Held Bau – an dem Estella-Maria Marseille beteiligt ist – mit einem Konkurrenten aus Halle, der zu einer türkischen Unternehmensgruppe gehört. Vor dem Landgericht Neuruppin schlossen beide Parteien einen Vergleich. Danach verpflichtete sich die Held Bau, von August 2009 an ein Jahr lang monatlich 132 822,97 Euro an den Konkurrenten zu zahlen.
Eigentlich wäre das Marseilles Privatproblem. Die Held Bau gehört nicht der MK AG. Doch interne Unterlagen legen den Verdacht nahe, dass das Problem zulasten des Konzerns gelöst wurde.
Von August 2009 an – also dem Monat, in dem die Held Bau den Vergleich schloss – überwies die MK AG mindestens neun Monate lang auf ein Konto der Held Bau bei der Hamburger Sparkasse exakt 132 822,97 Euro. Damals war Ulrich Marseille Aufsichtsrat des Konzerns. Unterlagen, aus denen das hervorgeht, liegen der WirtschaftsWoche vor.
Eine Zahlungsaufstellung wurde von einem MK-AG-Mitarbeiter abgestempelt und unterschrieben. Im Frühjahr 2010 hatte Ulrich Marseille – nachdem er noch mal für eineinhalb Jahre Vorstand wurde – dieses Dokument selbst unterschrieben und abgestempelt.
Letzte Zweifel, ob vielleicht die MK AG der Held Bau rein zufällig die gleiche Summe schuldete wie diese dem Bauunternehmer aus Halle, beseitigt die dazugehörige Zahlungsanweisung, die mit einem Notizzettel versehen war. Auf diesem hatte die Controllerin drei Worte notiert: „Vergleichszahlung türkische Baufirma.“ Die MK AG gibt hierzu keine konkrete Stellungnahme ab und verweist auf den Geschäftsbericht und darauf, dass dieses Thema „Gegenstand der Prüfung durch die zuständigen Abschlussprüfer gewesen“ sei.
„Sollte die Marseille Kliniken AG die Kosten für einen persönlichen Rechtsstreit ohne entsprechende Ausgleichsforderung übernommen haben, ist ihr ein Schaden entstanden“, urteilt Thomas Knierim, Rechtsanwalt für Wirtschaftsstrafrecht in Mainz.
Pflegedienst teuer gekauft
Wer dafür verantwortlich ist, wird sich nur schwer eruieren lassen. In jenem Geschäftsjahr wurden alle Vorstandsposten der MK AG einmal durchgetauscht. Sechs verschiedene Manager gaben sich die Staffel in die Hand. In jenem August 2009, als die Zahlungen begannen, war laut Geschäftsbericht mit Axel Hölzer nur eine Führungskraft an Bord. Der wollte sich zu dem Vorgang nicht äußern.
Wenn „Vorstände davon wussten, hätten sie den objektiven Tatbestand der Untreue erfüllt und könnten für einen Schaden der AG persönlich haftbar gemacht werden“, sagt Strafrechtler Knierim.
Das dürfte auch für einen weiteren Deal aus dem Marseille-Reich gelten. In Gera hat Ulrich Marseille die Florentinen Wohnanlage gebaut. Mehrere Unternehmen verdienen dort ihr Geld, zum Beispiel die im Besitz der Familie Marseille befindliche DL Immobilienverwaltung KG als Vermieter altengerechter Wohnungen und Estella Marseilles Allgemeine Ansgar Pflegedienste (AAP), die Bewohner bei Bedarf pflegen soll.
Nun wollte Familie Marseille die AAP im Sommer 2010 an die MK AG verkaufen. Das hatte von vornherein ein G’schmäckle: Ulrich Marseille war damals Vorstand bei der MK AG, Geschäftsführer der Verkäuferin – eine Gesellschaft namens TTVS – sowie der AAP. Er vertrat also alle Parteien.
6,5 Millionen zahlte die MK AG für eine bis dato verlustreiche Pflegefirma
Den Wert jener AAP sieht ein Wirtschaftsprüfer laut einem Schreiben an den Aufsichtsrat vom 23. Juni 2010 zwischen 5,4 und 5,8 Millionen Euro. Der Prüfer merkt an, dass er die „wesentlichen bewertungsrelevanten Sachverhalte“ geprüft hat und sich im Rahmen der Detailprüfung nur noch „geringfügige“ Veränderungen ergeben können.
Wundersamer Wertzuwachs
Einen Tag später stimmt der Finanz- und Investitionsausschuss der MK AG dem Kauf zu. Laut Ergebnisprotokoll der Sitzung soll der gutachterlich festgestellte Wert der AAP 6,5 Millionen Euro betragen haben statt des maximal vom Gutachter angesetzten Werts von 5,8 Millionen.
Die Aufsichtsräte Uwe Bergheim und Thomas Middelhoff müssen bei der Sitzung hellseherische Fähigkeiten gehabt haben. Einige Tage später erstellt der Gutachter nämlich ein neues Pamphlet. Nun hält er 6,5 Millionen Euro für angemessen. Die MK AG beruft sich darauf, dass der AAP-Kauf Gegenstand der Abschlussprüfung gewesen sei, und verweist auf den Geschäftsbericht.
Das Gutachten macht nicht nur wegen dieses wundersamen Wertzuwachses einen wenig glaubwürdigen Eindruck. Es stützt sich auch vor allem auf Planzahlen von Ulrich Marseille. Das hält ein Wirtschaftsprüfer, den die Vorstände Klaue und Herzberg damit beauftragt haben, den vor ihrem Amtsantritt vollzogenen Kauf zu beleuchten, für problematisch. Er deutet an, dass Vorstand und Aufsichtsrat gegen ihre Pflichten verstießen, weil sie auf ein umfangreiches Gutachten verzichteten.
Strafrechtler Knierim meint, dass die Aufsichtsräte sich zunächst auf die Zahlen von Ulrich Marseille beziehungsweise dem darauf beruhenden Gutachten hätten verlassen dürfen. „Doch wenn der Gutachter die Bandbreite des Unternehmenswertes wenige Tage nach seinem ersten Gutachten um mehrere Hunderttausend Euro oder mehr als zehn Prozent nach oben korrigiert“, sagt der Anwalt, „hätten die Aufsichtsräte hellhörig werden und eine eingehende Begründung der Korrekturen verlangen oder ein komplett neues, unabhängiges Gutachten in Auftrag geben müssen.“
Das gehöre zu ihren Sorgfaltspflichten. Ob dies geschehen ist, ist nicht bekannt. Aufsichtsratschef Middelhoff äußerte sich gegenüber der WirtschaftsWoche nicht. Mit einem neuen Gutachten hätten die Räte folgende unangenehme Überraschung verhindern können: Dem Anschein nach lagen dem Gutachter nämlich wichtige Informationen nicht vor.
So hatte die AAP, als sie noch einer Gesellschaft von Estella-Maria Marseille gehörte, 32 Mietverträge mit Ulrich Marseilles DL Immobilienverwaltung abgeschlossen. Die daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen der AAP in Höhe von jährlich rund 81 000 Euro wurden bei der Berechnung des Werts der AAP aber offenbar nicht einbezogen. In einem Gutachten zu dem Vorgang von September 2011 heißt es: „Nach den Feststellungen des Vorstands und des Abschlussprüfers“ seien die Mietverträge „nicht berücksichtigt“ worden.
Dem Gutachten zufolge legte die dem Ehepaar Marseille gehörende Vermietungsgesellschaft dem MK-Vorstand jene Mietverträge, die teilweise bis November 2007 zurückgingen, im Juni 2011 vor. Gleichzeitig forderte die Vermietungsgesellschaft von der AAP und damit der MK AG Mietzahlungen in Höhe von 220 000 Euro. Ulrich Marseille äußerte sich gegenüber der WirtschaftsWoche hierzu nicht.
Tatbestand des Betruges?
„Wenn Ulrich Marseille die Existenz der Mietverträge gegenüber dem Käufer oder dem Gutachter verschwiegen hat, hat er über den wahren Wert des Unternehmens getäuscht“, sagt Anwalt Knierim. Das würde den objektiven Tatbestand des Betruges erfüllen. Vorstand und Aufsichtsrat seien in einem solchen Fall auch nachträglich verpflichtet, einen entstandenen Schaden geltend zu machen.
„Ansonsten liegt eine vorsätzliche Pflichtverletzung vor“, sagt der Experte für Wirtschafts-Strafrecht. „Und dann haften Vorstand und Aufsichtsrat persönlich für einen bleibenden Schaden der AG.“
Darum müsste sich neben den Aufsichtsräten Middelhoff, Tiedje und Estella-Maria Marseille der neue Vorstand Dieter Wopen kümmern. Dass die Forderungen sich gegen den Großaktionär und Ehemann richten würden, dürfte sie davon nicht abhalten.
Managerhaftpflicht ohne Selbstbehalt nötig
Middelhoff gab gegenüber der WirtschaftsWoche weder zu dem AAP-Vorgang noch zu anderen Themenkomplexen eine Stellungnahme ab.
Ob sich die AAP seit dem Kauf nach Plan entwickelt, ist unklar. Der letzte veröffentlichte Geschäftsbericht stammt von 2010. Aber offenbar schöpft sie ihre Möglichkeiten, Geld zu verdienen, nicht aus. Nach Recherchen der WirtschaftsWoche verzichtet die AAP auf einen Teil der ihr zustehenden Vergütung – und davon dürfte eine Firma von Ulrich Marseille profitieren.
Das funktioniert so: Die Wohnungen in der Florentinen Anlage werden von der dem Ehepaar Marseille gehörenden DL Immobilienverwaltung vermietet. Die Pflege erbringt die MK-Tochter AAP. Einen Teil der Kosten übernimmt die Pflegekasse. Den Rest müssen die Bewohner selbst zahlen.
Hier kollidieren die Interessen von Marseilles DL Immobilienverwaltung als Vermieter und der MK AG. Die AAP hat ein Interesse daran, dass sie den Bewohnern der Florentinen Anlage viele Dienste in Rechnung stellen kann. Die Vermietungsgesellschaft dagegen hat ein Interesse daran, dass die Pflegeleistungen möglichst billig sind, damit sich viele Senioren die Wohnanlage leisten können.
Die AAP verzichtete nun einfach auf einen Teil ihres Honorars. In einem Fall hätten der AAP für die Pflege einer älteren Dame monatlich rund 1000 Euro zugestanden. Davon rechnete sie 619 Euro einfach nicht ab. Eine entsprechende Rechnung liegt der WirtschaftsWoche vor.
Insidern zufolge ist das kein Einzelfall. Damit entsteht der MK AG ein Schaden. Über dieses Thema wurde nach Informationen der WirtschaftsWoche auch im Aufsichtsrat gesprochen. Weder Middelhoff noch die MK AG wollten hierzu eine Stellungnahme abgeben.
Kein Wunder, dass die Marseille Kliniken für ihre Aufsichtsratsmitglieder eine Managerhaftpflicht ohne Selbstbehalt abgeschlossen haben – was gegen den Kodex guter Unternehmensführung verstößt, wonach ein Aufsichtsrat mindestens für zehn Prozent der von ihm verursachten Schäden selbst geradestehen sollte. Doch laut dem letzten Geschäftsbericht würde dies „die Gewinnung geeigneter Aufsichtsratsmitglieder erschweren“. Damit dürften die Verantwortlichen ausnahmsweise mal recht haben.