Flugreisen Warum die Beinfreiheit ausstirbt

Keine Beinfreiheit zwischen Flugsitzen. Quelle: Getty Images

Die Airlines schrauben immer mehr Sitze und Passagiere in ihre Maschinen. Doch hinter dem abnehmenden Komfort steckt nicht nur böser Wille, sondern die nackte Not – und der Geiz der Kunden.

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Wer den Chef der Deutschen Lufthansa auf den Komfort seiner Fluglinie ansprach, musste lange Zeit mit einer deutlichen Antwort rechnen. „Sie können uns mit Low-Cost-Linien gar nicht vergleichen, allein schon weil wir weniger Sitze an Bord haben und unseren Kunden deutlich mehr Platz bieten.“ Dann verwies er darauf, dass an Bord seiner Maschinen rund ein Fünftel weniger Sitze waren.

Von dieser Äußerung Jürgen Webers, Lufthansa-Chef von 1991 bis 2003, ist heute wenig übrig. Waren im LH-Airbus A320 des Jahres 1997 noch 144 Plätze, so hat der neue A320neo 180 Plätze.

Damit ist die Lufthansa nicht allein. Fast alle Fluglinien haben in den vergangenen 20 Jahren ihre Jets deutlich dichter bestuhlt. Hatten Passagiere der Economy Class vor 20 Jahren noch 0,4 Quadratmeter für sich und ihren Sitz, sind es heute oft nur noch 0,3 Quadratmeter. Aktuell beginnt selbst bei etablierten Linien wie der spanischen Iberia oder TAP aus Portugal der Standardabstand bei gut 71 Zentimetern. Der Schnitt liegt bei 76 Zentimetern. „Vor zehn Jahren waren es noch 82 Zentimeter und in den achtziger Jahren sogar mehr als 85 Zentimeter“, sagt Jami Counter, Abteilungsleiter Flug bei den Beratungsportalen Tripadvisor und Seatguru.

Standard-Sitzabstände ausgewählter Fluglinien (Kurzstrecke)

Zwar schwören die Fluglinien, dass bei all dem die Bequemlichkeit der Passagiere nicht leidet. Weil die Sitze deutlich dünner geworden sind über die Jahre, so die Airlines, hätten die Passagiere rein rechnerisch fast genauso viel Platz wie vorher.

Doch die Rechnung übersieht eines: Mag der persönliche Freiraum auch kaum kleiner geworden sein: 42 Leute mehr auf den 87 Quadratmetern, die die Sitze in einem A320 einnehmen, bedeuten mehr Stress durch längere Wartezeiten beim Einsteigen, mehr Kämpfe um den knappen Platz in den Gepäckfächern oder Schlangen vor den Toiletten. Und wer mal genau nachmisst, merkt, dass er am Ende eben doch eingepfercht sitzt. „71 Zentimeter ist eng, egal wie groß man ist“, so Seat-Guru-Experte Counter.

Der missbrauchte Passagier

Dazu drehen die Fluglinien auch an den Sitzbreiten. So sind nun nicht nur bei Maschinen wie den Boeing-Modellen 777 und dem Jumbojet 747 elf Sitze pro Reihe die Regel – wo es früher nur zehn waren. Auch Airbus zeigt sich offen für mehr Enge bei ihrem Topmodell der A380, um den schleppenden Verkauf des Superjumbos anzukurbeln. Der leidet im Vergleich zu neueren und kleineren Langstrecken-Modellen wie der Boeing 787 oder dem Airbus A350 unter höheren Betriebskosten pro Passagier – er hat vier Triebwerke anstatt der üblichen zwei und wurde im Hinblick auf eine ursprünglich geplante Langversion mit einem größeren und schwereren Flügel als nötig gebaut.

Um diesen Nachteil bei den Spritkosten pro Passagier wett zu machen, wirbt Airbus nun mit einer neuen Version mit ebenfalls elf Sitzen pro Reihe sowie anderen Änderungen. Durch die insgesamt 85 zusätzlichen Plätze sinken die Flugkosten pro Sitz um mehr als ein Sechstel.

Ideen für neue Anordnungen

Auf den ersten Blick mag der Breiten-Unterschied von rund 2,5 Zentimetern gering wirken. „Doch er bedeutet, dass die Passgiere an Bord nun so nah sitzen, dass sie sich fast ständig wieder die Schultern berühren und sie öfter um die – natürlich schmalere – Armlehne kämpfen“, so Counter. Und das lässt den ohnehin oft hohen Stresspegel weiter steigen.

Der Weg in die Enge ist noch nicht das Ende. „Der Platz, den ein Flugzeugsitz einnehmen darf, wird immer weiter reduziert. So wollen Airlines immer mehr Sitze in eine Kabine installieren“, sagt Fabian Zimmermann aus der Eigentümerfamilie des Sitzherstellers ZIM aus Markdorf am Bodensee.

Schon gibt es Ideen für neue Anordnungen wie die Idee des französischen Sitzriese Zodiac. Der schrumpft bei seinem Hexagon-Sessel nicht nur die Rückenlehne auf die Stärke eines Wartesessels im Busbahnhof. Er dreht auch jeden zweiten Platz in einer Reihe gegen die Flugrichtung und verzichtet komplett auf Armlehnen. Das bringt nochmal zwei Zentimeter zwischen den Reihen, weil größere Passagiere leichter schräg sitzen und ihre Beine nun unter den Platz des Gegenübersitzenden strecken können.

Damit passt in jede Reihe ein Platz mehr auf der Kurzstrecke und bei großen Langstreckenfliegern sogar zwei. Und der Kunde fühlt sich wohl, glaubt Antoine Doutriaux, Chef des Zodiac-Sitzgeschäfts. „Er hat zwar nun ein Gegenüber – knapp 40 Zentimeter vor der Nase. Dafür entfällt der Streit um die Armlehne.“

Noch einen Schritt radikaler denkt der italienische Hersteller Aviointeriors mit seinem Skyrider genannten Stehsitz. Der zwingt die Kunden auf einer Art Sattel zu hocken und erlaubt dadurch einen Sitzabstand von weniger als 60 Zentimetern. Doch auch wenn sich die Billiglinie VivaColombia Ende Juni wieder für den Sitz stark machte, stehen die Chancen gering.

Die größten Zulieferer der Luftfahrt
Platz 10: Spirit Aerosystems Quelle: dpa Picture-Alliance
Platz 9: Precision Castparts Quelle: dpa
Platz 8: Mitsubishi Quelle: REUTERS
Platz 7: Textron Quelle: dpa
Platz 6: L3 Technologies (ehemals L-3 Communications) Quelle: Presse
Platz 5: Honeywell Quelle: REUTERS
Platz 4: Rolls-Royce Quelle: REUTERS

Denn am Ende ist die Idee selbst für Ryanair-Chef Michael O’Leary zu viel, obwohl der sonst für jede Zumutung zu haben ist: „Dieses Ding da kostet das Gleiche wie ein normaler Sitz, aber wir bringen kaum mehr Leute unter – und angeblich macht es sogar impotent.“

Dahin stecken freilich nicht – oder nicht nur – böse Absichten. Der Ertrag der Enge ist für die Airlines unverzichtbar. Denn die Flugpreise haben sich in den vergangenen 25 Jahren mehr als halbiert. Kostete ein Ticket laut einer Übersicht des europäischen Fluglinienverbands A4E im Jahr 1994 bei Berücksichtigung der Inflationsrate noch fast zwei Dollar für die branchentypische Maßeinheit Tonnenkilometer so sind es heute nur noch 84 Cent. „Dagegen haben sich die Ausgaben für Dinge wie Kerosin, den Flugzeugkauf und die Gebühren für Flughäfen teilweise verdoppelt“, so Willie Walsh, Chef der IAG genannten Dachgesellschaft von British Airways und Iberia.

Neue Einnahmequellen

Zwar bemühen sich die Airlines auch immer geschickter um neue Einnahmequellen – etwa durch den Verkauf von Extras wie Gepäckaufgabe, Mahlzeiten oder bessere Sitze. Durch diese Nebengeschäfte nehmen laut einer aktuellen Übersicht der US-Marktforscher Ideaworks manche Fluglinien wie United Airlines bereits mehr als sechs Milliarden Dollar im Jahr ein und für manche wie Ryanair ist es angesichts der niedrigen Ticketpreise gar die einzige Gewinnquelle.

Auch hier werden Einnahmen aus dem Aufpreis für Sitze mit mehr Freiraum – etwa an den Notausgängen oder in den weiter bestuhlten Economy-Plusabteilen – immer wichtiger. Linien wie Delta aus den USA erlösen hiermit bereits weit mehr als eine Milliarde Dollar Euro zusätzlich im Jahr.

Doch am Ende sind mehr Sitze an Bord eine wesentlich sichere Einnahmequelle. Denn um die müssen sich die Fluglinien – anders als um den Verkauf von Brötchen und Getränken oder Gebühren aus der Vermittlung anderer Reiseteile wie Mietwagen und Übernachtungen – nicht mit anderen und moderneren IT-Riesen wie Booking.com streiten.

Skytrax-Ranking: Die besten Airlines der Welt

„Sitze sind eines der letzten Schräubchen im Flugbetrieb, an dem die Airlines noch drehen können, damit in ihren Kassen etwas mehr Geld bleibt“, sagt der Hamburger Flugexperte Heinrich Großbongardt.

Denn für die Airlines bedeutet mehr Sitze automatisch höhere Einnahmen. Wenn etwa Lufthansa 42 Sitze mehr in ihrem A320 hat, heißt das bei der üblichen Auslastung von knapp 90 Prozent drei Dutzend zusätzliche Kunden. Und weil die im Schnitt pro Strecke keine 20 Euro mehr kosten, steigt bereits bei einem 99 Euro-Sparticket der Gewinn pro Flug durch die zusätzliche Kundschaft um fast 1000 Euro.

Dazu kostet die enge Bestuhlung fast nichts zusätzlich. Die bis zu 5000 Euro pro Stück teuren Sessel müssen die Fluglinien nach sechs bis acht Jahren ohnehin als verschlissen austauschen und können bei dem Anlass gleich mehr Sitze einbauen.

Bei welchen Airlines das Essen extra kostet
Air-France Quelle: AP
Air-Berlin Quelle: REUTERS
American-Airlines Quelle: AP
Emirates Quelle: AP
Lufthansa Quelle: dpa Picture-Alliance
Turkish Airlines Quelle: imago images
KLM Quelle: AP

Den Unmut der gepressten Passagiere müssen die Airlines dabei nicht fürchten. Denn die suchen erfahrungsgemäß nicht nach Linien mit bequemerer Einrichtung, sondern achten fast ausschließlich aufs Geld. „So zeigen alle Umfragen, dass der Preis bei der Flugbuchung das entscheidende Kriterium ist, inzwischen sogar merkwürdigerweise mit knappen Abstand vor dem Image bei der Sicherheit“, wundert sich ein führender Lufthanseat. Danach folgen der Ruf bei Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, die Flugzeit – und dann erst der Service.

Also geht der Kampf um jeden Millimeter beim Sitz weiter. Und geführt wird er in Deutschland vor allem von einem Unternehmen: dem Sitzhersteller Recaro.

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