GDL-Chef Claus Weselsky "Wer zurückrudert, macht sich unglaubwürdig"

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"Drei Millionen Überstunden bei den Lokführern"

Plus fünf Prozent mehr Geld.

Ja, aber jeder weiß, dass sich eine Gewerkschaftsforderung in der Regel nicht eins zu eins im Tarifabschluss niederschlägt. Eine Stunde Arbeitszeitverkürzung entspricht einer Lohnerhöhung von 2,6 Prozent, das ist uns sehr wohl bewusst. Dass wir nicht nahe fünf Prozent abschließen, wenn es zu einer sinkenden Arbeitszeit kommt, ist doch logisch.

Würden Sie notfalls ganz auf eine Arbeitszeitverkürzung verzichten?

Nein. Wir wollen die Ressource Arbeit bei der Bahn absichtlich verknappen, um den Druck auf die Gegenseite zu erhöhen, neue Leute einzustellen. Die Bahn versucht ja seit Langem, über Langzeitkonten ihre riesigen Personallücken zu verdecken. Es sind mittlerweile drei Millionen Überstunden bei den Lokführern aufgelaufen und eine Million bei den Zugbegleitern.

"Ein ganzes Land in Geiselhaft"
Bundeskanzlerin Angela Merkel empfiehlt ein Schlichtungsverfahren zur Beendigung des Tarifkonflikts. "Es gibt auch die Möglichkeit der Schlichtung, wenn beide Partner zustimmen", sagte die Kanzlerin am Mittwoch in Berlin. Dies hatte die Deutsche Bahn zuvor angeboten. "Ich kann nur an das Verantwortungsbewusstsein appellieren, hier Lösungen zu finden, die für uns als Land einen möglichst geringen Schaden haben - bei aller Wahrung des Rechts auf Streik." Streiks seien eine Möglichkeit der tariflichen Auseinandersetzung, sie müssten aber verhältnismäßig sein, sagte Merkel weiter. Ob dies der Fall sei, darüber könne letztlich nur ein Gericht entscheiden. "Aber es gibt eine Gesamtverantwortung", mahnte Merkel. Gerade im Bereich der Daseinsvorsorge wie dem Verkehr, wo Millionen Bürgern betroffen seien und es um die Zukunft der Wirtschaft gehe, sei von allen Beteiligten ein hohes Maß an Verantwortung notwendig. Quelle: REUTERS
Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt hat die Bahn dazu aufgerufen, notfalls vor Gericht zu ziehen. Der Streik sei unverhältnismäßig und überstrapaziere die Akzeptanz der Bevölkerung in Tarifauseinandersetzungen, sagte Dobrindt am Mittwoch. "Und deswegen muss man, wenn es jetzt nicht zu einer Schlichtung kommt, die Rechtsposition der Bahn wahrnehmen und muss alle Rechtsmittel nutzen." Wenn die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben sei, könne dies auch vor Gericht geklärt werden, fügte der CSU-Politiker hinzu. In einem Tarifkonflikt müsse in besonderer Weise auf die Auswirkungen auf Dritte Rücksicht genommen werden. Dobrindt schloss nicht aus, dass die von der Bahn ins Spiel gebrachte Vermittlung durch zwei unabhängige Schlichter zustande kommen könne. Er halte dies für ein "seriöses Angebot", durch das es möglich sei, zu einem Ergebnis zu kommen. Er stehe in direkten Gesprächen mit dem Staatskonzern, fügte der Minister hinzu. Quelle: REUTERS
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat die GDL ungewöhnlich scharf attackiert und einen Schlichter zur Beilegung des Konflikts gefordert. Er warf der GDL Missbrauch des Streikrechts vor. "Das Streikrecht wurde in den letzten 65 Jahren in Deutschland von den DGB-Gewerkschaften immer verantwortungsbewusst genutzt - und nur dann, wenn es um Arbeitnehmerinteressen ging", sagte er der "Bild"-Zeitung. "Die GDL hat sich von diesem Prinzip verabschiedet." Den Funktionären gehe es nicht um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen, sondern um Eigeninteressen. "Ich appelliere an die Funktionäre der GDL, an den Verhandlungstisch zurückzukommen", sagte Gabriel. Nötig sei jetzt Verantwortungsbewusstsein auf allen Seiten und ein Schlichter oder Vermittler, um den drohenden volkswirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Die SPD steht dem Gewerkschaftslager und vor allem dem DGB gewöhnlich sehr nahe. Quelle: dpa
"visitBerlin"-Geschäftsführer Burkhard Kieker sagte, er könne die Politik des GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky nicht nachvollziehen. "Das scheint ein Profilneurotiker zu sein, der ein ganzes Land in Geiselhaft nimmt." Quelle: REUTERS
Die Deutsche Bahn hält den angekündigten erneuten Lokführerstreik für „reine Schikane“. „Dieser Streikaufruf macht nur noch sprachlos“, sagte Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber. Das Unternehmen plant wie bei den vorherigen Streiks einen Ersatzfahrplan. So soll etwa ein Drittel des sonst üblichen Zugverkehrs angeboten werden können. Quelle: dpa
"Was derzeit bei der Bahn passiert, ist Gift für den Standort Deutschland", sagte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Deutsche Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Achim Dercks. "Neben dem Ärgernis für Urlauber führen Streiks im Güterverkehr bereits nach wenigen Tagen zu Produktionsstörungen, weil Bahntransporte oft nicht kurzfristig auf Straßen oder Schiffe verlagert werden können." In Schlüsselbranchen wie der Automobilindustrie sei die Produktionskette komplett auf Just-in-time-Produktion ausgerichtet, bei der Zuliefer- und Produktionstermine genau aufeinander abgestimmt seien. "Warenlager helfen nur die ersten Tage, dann stockt die Fertigung", sagte Dercks. Quelle: dpa
Das Verständnis der Pendler hält sich in Grenzen. Quelle: Screenshot

Was haben die GDL die Streiks im vergangenen Jahr gekostet?

Die Rechnung ist einfach. Bei Warnstreiks wird nichts gezahlt. Unsere längere Streikaktion lief über drei Tage. Rund 3000 Kollegen haben dabei pro Tag die Arbeit niedergelegt. Jeder erhält maximal 50 Euro pro Tag an Streikunterstützung. Macht also insgesamt 450 000 Euro...

...die Ihr Dachverband, der Deutsche Beamtenbund (DBB), tragen will.

Moment! Zunächst gehen wir komplett in Vorleistung. Auf Antrag und unter gewissen Vorbedingungen gibt es dann Mittel aus einem Unterstützungsfonds des DBB. Die Erfahrung früherer Arbeitskämpfe zeigt, dass wir am Ende etwa die Hälfte unserer Streikkosten erstattet bekommen.

Das sind die Bahngewerkschaften GDL und EVG

Sind die Finanzen der GDL denn so in Ordnung, dass Ihnen das nicht weh tut?

Absolut. Wir sind eine sehr alte Gewerkschaft und haben im Lauf der Jahrzehnte ein beachtliches Vermögen aufbauen können, Immobilienbesitz inklusive. Die GDL-Zentrale in Frankfurt gehört uns, dazu haben wir eine – zum Teil vermietete – Immobilie in Halle.

Wenn es bei der Bahn künftig zwei Tarifverträge gibt, woher soll der Arbeitgeber dann wissen, welcher Mitarbeiter unter welchen Vertrag fällt? Seine Gewerkschaftsmitgliedschaft will ja sicher nicht jeder dem Chef brühwarm mitteilen. Und nach einem aktuellen Urteil des Bundesarbeitsgerichts muss man das auch nicht.

Das ist auch gar nicht nötig. Die betroffenen Arbeitnehmer müssen dem Arbeitgeber lediglich erklären, unter welchen Tarifvertrag sie fallen wollen. Damit geben sie keinen Hinweis auf ihre Mitgliedschaft. So wird es bereits bei einigen privaten Bahnunternehmen praktiziert.

Und dann wählt man sich das Weihnachtsgeld von der GDL und das Urlaubsgeld von der EVG? Ein solches System lädt doch zum ständigen Tarifhopping ein – ein bürokratisches Horrorszenario für den Arbeitgeber.

Theoretisch ja. Das Problem lässt sich aber durch klare Regelungen ausschließen. Rosinenpickerei wollen wir nicht. Man könnte zum Beispiel festlegen, dass der Wechsel von einem Tarifvertrag zum anderen nur einmal im Jahr möglich ist.

Wie ist derzeit das Verhältnis zu Ihrer Konkurrenzgewerkschaft EVG? Ist das Tischtuch komplett zerschnitten?

Es gibt kein Verhältnis. Die gewerkschafts- und tarifpolitischen Philosophien sind völlig konträr. Und aus dem Dilemma kommen wir auch nicht mehr raus.

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