Gemeinwohl Was dient der Allgemeinheit? Und wer?

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2. Messbar machen, was vernünftig messbar ist

Einen Atlas erstellen heißt, etwas zu vermessen und im Ergebnis dessen einen inneren Zusammenhang zu charakterisieren. Ist es nicht anmaßend, in unserem Fall von „Messung“ sprechen? Wohl nicht, wenn man akzeptiert, dass der Erhebungsansatz sich an transparenten Qualitätsstandards orientiert und überprüfbar ist. Das Zusammenziehen viele individueller Meinungen und deren Vereinigung unter einem Mittelwert ist dann der Versuch, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der gesellschaftlich geteilte Werte beschreiben soll. Entscheidend ist dabei die Nachvollziehbarkeit und Plausibilität, nicht der mit einem szientifischen Ideal einhergehende, aber nicht erreichbare Präzisierungsanspruch.

Zunächst einmal handelt es sich um eine mit den Mitteln sozialwissenschaftlicher Methodik erstellte Umfrage über einzelne Organisationen oder genauer: über die Bilder, die wir von ihnen im Kopf haben und im Moment der Befragung damit aktiv verbinden. Diese sind niemals eine einfache Abbildung einer bloss zu erkennenden Realität. Nein, sie sind das Ergebnis vielfältiger externer Einflüsse, aber auch innerer Zustände. So sagen wir natürlich mit unseren Bewertungen über andere (hier über konkrete Organisationen) immer auch etwas über uns selbst. Das geht auch gar nicht anders, wenn Menschen selbst das Messinstrument sind. Was sonst könnte auch als Thermometer für den Zustand einer Gesellschaft herhalten? Damit ist eine ganz wesentliche Grundproblematik jeder Gemeinwohlforschung angesprochen: Spätestens seit den bahnbrechenden Überlegungen des Philosophen Immanuel Kant wissen wir über die Unmöglichkeit einer vom Beobachter selbst unabhängigen Erkenntnis unserer Umwelt. Im Alltag versuchen wir aber genau diese später als Unschärferelation gekennzeichnete Einsicht zu verdrängen und die damit einhergehende Erkenntnisunsicherheit zu unterlaufen.

Der GemeinwohlAtlas berührt unser Selbstverständnis im doppelten Sinne: Einmal geht es für mich als Befragungsteilnehmer um mein eigenes Verständnis der mich umgebenden bzw. affizierenden Organisationen. Ich werde also um Werturteile gebeten und muss Farbe bekennen, was mir einzelne Organisationen wert sind. Der Atlas ist so gestaltet, dass auch jeder für sich die Gewichte setzen und somit seine individuelle Gemeinwohldefinition setzen kann. Es geht also nicht um passives Meinen, sondern um aktive Teilnahme am Diskurs.

Natürlich geht Meinen sehr leicht. Allerdings eine solche Befragung als simples Ankreuzen von Sprüchen zu verstehen hieße, die Menschen nicht ernst zu nehmen. Dies wäre snobistisch und letztlich demokratiefeindlich. Es geht auch nicht um schwankende Meinung, sondern verdichtete Erfahrung, auf den Punkt (oder hier: auf das Kreuz) gebrachte Einstellungen und Werthaltungen.

Wir reden über eine – ob einem das passt oder nicht – psychische Realität, die weder wahr noch falsch, sondern einfach real ist. Aber Achtung: Der GemeinwohlAtlas bildet diese nicht einfach ab. Vielmehr schafft das Ankreuzen von Aussagen erst diese Realität. Sie wird gewissermaßen durch den Befragungsvorgang selbst induziert und ins Werk gesetzt. Trefflich kann man und muss man darüber streiten, wie man die Messgenauigkeit vernünftig steigern kann. In jedem Fall ist der Atlas eine soziale Repräsentation von Bewusstseinstatsachen einer sorgfältig ausgewählten Teilmenge der Bevölkerung.

In der Summe geht es dann aber auch um ein kollektives Selbstverständnis, also um einen Ausdruck der Schweizer Seelenlage, des gemeinsamen Gefühlshaushaltes. Wie können wir mit uns selbst zufrieden sein, wenn das Umfeld nicht stimmt? Wie stark fühle ich mich aber verpflichtet, selbst Verantwortung zu übernehmen, mein Schicksal in die Hand zu nehmen.  Insofern tragen „gute“ Organisationen nicht nur zu unserer individuellen Lebenszufriedenheit bei, sondern wecken auch Leistungswillen und Lebensenergie. Der Menschen ist eben ein soziales Wesen, welches sich als Individuum erst im Antlitz der anderen bestimmen kann.

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