Gemeinwohl Was dient der Allgemeinheit? Und wer?

Um die Definition des Begriffs Gemeinwohl ringen kluge Geister seit mehr als 2000 Jahren. Ein Essay von Prof. Timo Meynhardt und Prof. Peter Gomez über ihren Ansatz beim GemeinwohlAtlas.

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Mitglieder des Technischen Hilfswerks Quelle: REUTERS

Was ist und was soll der GemeinwohlAtlas?

Im Frühsommer 2014 wurde erstmals ein GemeinwohlAtlas in der Schweiz veröffentlicht. Darin haben – repräsentativ für die deutschsprachige Schweiz – insgesamt fast 4500 Menschen mehr als 60 Unternehmen, öffentliche Einrichtungen und NGO bewertet.

Im Mittelpunkt stand jeweils der Beitrag zum Gemeinwohl jeder einzelnen in der Studie untersuchten Organisation. Dass es sich um ein relevantes Thema handelt, darf man nicht nur unterstellen. Die Befragungsergebnisse selbst zeigen es: 68 Prozent sind besorgt, dass dem Gemeinwohl in der Schweiz nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Zur Person

Die Reaktionen auf den ersten Atlas waren durchweg positiv: Verschiedenste Organisationen bekundeten Interesse und wollten besser verstehen, wie die Einschätzungen zustande kommen und wie sie sich verbessern können.

Die Medien haben das Thema wohlwollend aufgenommen und in verschiedensten Veranstaltungen und auch in nachfolgenden öffentlichen Diskussionen über einzelne Unternehmen wird der GemeinwohlAtlas durchaus immer wieder als Bezugspunkt aufgegriffen. Jetzt gibt es den GemeinwohlAtlas auf für Deutschland.

Der gesellschaftliche Nutzen von deutschen Unternehmen und Organisationen systematisch untersucht und transparent abgebildet.

Doch was ist der GemeinwohlAtlas eigentlich? Wem nützt er? Zunächst: Er ist keine weitere Meinungsumfrage neben vielen anderen, die Organisationen aufgreifen und für sich auswerten. Wir meinen, es geht beim Thema Gemeinwohl um mehr und anderes. Es sind drei, miteinander verwobene Funktionen, die wir mit dem Atlas verbinden:

1. Gemeinwohl neu und anders auf die Agenda setzen

Seit Aristoteles‘ Überlegungen zum Gemeinwohl in der Polis steht die Begrifflichkeit im Raum und hat noch jeden beschäftigt, der sich mit der Funktionsweise von großen sozialen Gruppen auseinandersetzt. Die Begriffsgeschichte ist daher lang, schillernd und: sie ist nach vorn offen. Man sollte es sich dabei nicht zu einfach machen und Gemeinwohl endgültig auf den einen definitorischen Punkt bringen zu wollen, getreu dem Motto: „… ist nichts anderes als…“ Eine solche Fixierung hätte garantiert nur eine kurze Halbwertszeit. Man denke nur an die Vereinnahmungsversuche durch Ökonomen, Politiker oder auch Juristen.

So bewerten die Deutschen die wichtigsten Unternehmen und Organisationen nach ihrem Einsatz für die Allgemeinheit.

Erfolgversprechender, aber auch mühsamer ist es, Gemeinwohl im Sinne von Immanuel Kant als regulative Idee zu verstehen, also als eine das menschliche Zusammenleben regulierende gedankliche Vorstellung. Als solche ist sie eben nicht abstrakt, sondern entwickelt ihre Kraft durch die mit ihr verknüpften Emotionen. Somit hängt sie von den Menschen ab, die sie entwickeln und verändern können. Es handelt sich dem Grunde nach in erster Linie um einen Mechanismus in großen Gruppen, ohne den Sozialität nicht möglich ist.

Eine Gesellschaft ist nicht funktionsfähig, wenn ihre Mitglieder nicht eine das Gemeinwesen tragende Gemeinwohlidee ausbilden. Dies wissen all jene sehr genau, die sich in einem säkularen Gemeinwesen letztendlich in komplexen Abwägungen auf das Gemeinwohl beziehen (müssen). Dass es für Gemeinwohlbelange unterschiedliche Begriffe gibt, die Einzelaspekte herausheben ist klar: Gemeinsinn, sozialer Frieden, kulturelle Identität usw. Wichtig ist, dass es jeweils nur Annäherungen und Provisorien sein können, weil man eben regulative Ideen nicht vollständig fassen kann.

Folglich wird das Gemeinwohl immer wieder neu und abhängig von den weltanschaulichen und politischen Einstellungen inhaltlich anders aufgeladen und vereinnahmt. Gelegentlich muss das Verständnis vom Gemeinwohl repariert und neu ausgerichtet werden, um einen Minimalkonsens in der Gesellschaft zu erreichen.

Gerade in Zeiten von Verunsicherung taucht dann die Frage vermehrt auf, was denn im „öffentlichen Interesse“, im „Interesse des Landes“ usw. ist. Nicht umsonst tauchen dann vermehrt Vorschläge auf, um diese Lücken zu füllen. Man denke stellvertretend nur an die auf Ernest Renan zurückgehende Idee von der Schweiz als Willensnation, an die Suche nach der Swissness oder auch an die außenpolitische Identitätskonstruktion der Schweiz als neutraler Staat.

Der GemeinwohlAtlas ist nun in doppelter Hinsicht neu und anders: Er greift zum einen auf einen der wissenschaftlich fundierten Bedürfnispsychologie entlehnten Bezugsrahmen auf. Damit wird die kollektive Gemeinwohlebene mit der Conditio humana konfrontiert und aufeinander bezogen. Das schwer greifbare Gemeinwohl wird somit mit der individuellen Erfahrung verbunden und aus dem gedanklichen Orbit ins Lebensweltliche übersetzt. Damit erhält Gemeinwohl eine empirisch überprüfbare Basis und wird den Sonntagsreden, metaphysischen Übungen und abstrakten Gedankenspielen gegenübergestellt. Mehr soziale Bedürfniserfüllung =  mehr Gemeinwohl – so die einfache Formel. Wer andere Bezugsrahmen heranziehen möchte, kann dies natürlich tun.

Unser Ansatz beruht auf einem ganzheitlichen Menschenbild, offen für je andere Ausgestaltungsformen und Variationen von Grundbedürfnissen. Durch die Verbindung von Individuum und Kollektiv über den Gemeinwohlbegriff wird die in der Moderne so kompliziert gewordene Beziehung zwischen einem sich (vermeintlich) selbst gestaltendem und handlungsmächtigen Subjekt und einer zunehmend als wenig überschaubaren und entfremdeten Gesellschaft thematisiert.

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Ein zweiter wichtiger Gedanke bildet das Rückgrat des GemeinwohlAtlas. Ganz im Sinne von Peter Drucker, dem so wirkungsmächtigen Vordenkers modernen Managements wird unseren Organisationen und ihrem Handeln eine besonders gemeinwohlrelevante Rolle zugeschrieben: Nicht primär das im Gesetzestext, in religiösen Schriften oder abstrakten Staatsprinzipien festgeschriebene Gemeinwohl, sondern dass durch kleine und große Organisationen tagtäglich im Alltag verfertige Gemeinwohl wird hier thematisiert. Es sind unsere Institutionen – also vor allem auch unsere Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen und NGO die unser Gemeinwohlempfinden prägen, formen und auch verändern.

In dieser Sichtweise erhält auch der in der Betriebswirtschaft gängige Begriff der Wertschöpfung eine erweiterte, teils neue Bedeutung. Organisationen leisten nicht nur einen Beitrag zum Gemeinwohl, man kann noch stärker formulieren: Sie machen aktiv Gesellschaft. Über Organisationserfahrungen als Kunde, Mitarbeiter oder Bürger machen wir Gesellschaftserfahrungen, die auf unsere Bedürfnisstrukturen einwirken.

2. Messbar machen, was vernünftig messbar ist

Einen Atlas erstellen heißt, etwas zu vermessen und im Ergebnis dessen einen inneren Zusammenhang zu charakterisieren. Ist es nicht anmaßend, in unserem Fall von „Messung“ sprechen? Wohl nicht, wenn man akzeptiert, dass der Erhebungsansatz sich an transparenten Qualitätsstandards orientiert und überprüfbar ist. Das Zusammenziehen viele individueller Meinungen und deren Vereinigung unter einem Mittelwert ist dann der Versuch, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der gesellschaftlich geteilte Werte beschreiben soll. Entscheidend ist dabei die Nachvollziehbarkeit und Plausibilität, nicht der mit einem szientifischen Ideal einhergehende, aber nicht erreichbare Präzisierungsanspruch.

Zunächst einmal handelt es sich um eine mit den Mitteln sozialwissenschaftlicher Methodik erstellte Umfrage über einzelne Organisationen oder genauer: über die Bilder, die wir von ihnen im Kopf haben und im Moment der Befragung damit aktiv verbinden. Diese sind niemals eine einfache Abbildung einer bloss zu erkennenden Realität. Nein, sie sind das Ergebnis vielfältiger externer Einflüsse, aber auch innerer Zustände. So sagen wir natürlich mit unseren Bewertungen über andere (hier über konkrete Organisationen) immer auch etwas über uns selbst. Das geht auch gar nicht anders, wenn Menschen selbst das Messinstrument sind. Was sonst könnte auch als Thermometer für den Zustand einer Gesellschaft herhalten? Damit ist eine ganz wesentliche Grundproblematik jeder Gemeinwohlforschung angesprochen: Spätestens seit den bahnbrechenden Überlegungen des Philosophen Immanuel Kant wissen wir über die Unmöglichkeit einer vom Beobachter selbst unabhängigen Erkenntnis unserer Umwelt. Im Alltag versuchen wir aber genau diese später als Unschärferelation gekennzeichnete Einsicht zu verdrängen und die damit einhergehende Erkenntnisunsicherheit zu unterlaufen.

Der GemeinwohlAtlas berührt unser Selbstverständnis im doppelten Sinne: Einmal geht es für mich als Befragungsteilnehmer um mein eigenes Verständnis der mich umgebenden bzw. affizierenden Organisationen. Ich werde also um Werturteile gebeten und muss Farbe bekennen, was mir einzelne Organisationen wert sind. Der Atlas ist so gestaltet, dass auch jeder für sich die Gewichte setzen und somit seine individuelle Gemeinwohldefinition setzen kann. Es geht also nicht um passives Meinen, sondern um aktive Teilnahme am Diskurs.

Natürlich geht Meinen sehr leicht. Allerdings eine solche Befragung als simples Ankreuzen von Sprüchen zu verstehen hieße, die Menschen nicht ernst zu nehmen. Dies wäre snobistisch und letztlich demokratiefeindlich. Es geht auch nicht um schwankende Meinung, sondern verdichtete Erfahrung, auf den Punkt (oder hier: auf das Kreuz) gebrachte Einstellungen und Werthaltungen.

Wir reden über eine – ob einem das passt oder nicht – psychische Realität, die weder wahr noch falsch, sondern einfach real ist. Aber Achtung: Der GemeinwohlAtlas bildet diese nicht einfach ab. Vielmehr schafft das Ankreuzen von Aussagen erst diese Realität. Sie wird gewissermaßen durch den Befragungsvorgang selbst induziert und ins Werk gesetzt. Trefflich kann man und muss man darüber streiten, wie man die Messgenauigkeit vernünftig steigern kann. In jedem Fall ist der Atlas eine soziale Repräsentation von Bewusstseinstatsachen einer sorgfältig ausgewählten Teilmenge der Bevölkerung.

In der Summe geht es dann aber auch um ein kollektives Selbstverständnis, also um einen Ausdruck der Schweizer Seelenlage, des gemeinsamen Gefühlshaushaltes. Wie können wir mit uns selbst zufrieden sein, wenn das Umfeld nicht stimmt? Wie stark fühle ich mich aber verpflichtet, selbst Verantwortung zu übernehmen, mein Schicksal in die Hand zu nehmen.  Insofern tragen „gute“ Organisationen nicht nur zu unserer individuellen Lebenszufriedenheit bei, sondern wecken auch Leistungswillen und Lebensenergie. Der Menschen ist eben ein soziales Wesen, welches sich als Individuum erst im Antlitz der anderen bestimmen kann.

3. Von der Vokabel über die Sprache zum Dialog bringen

Gemeinwohl gehört zu jenen Begriffen, die in der Kulturgeschichte der Menschheit immer wieder für einen Schlacht- oder auch Weckruf herbeigezogen wurden, um ans „Ganze“ zu appellieren. Der Begriff kann andererseits ebenso völlig suspendiert werden. Man denke nur an das Gesellschaftsbild, welches der Stakeholder-Ansatz in der Betriebswirtschaftslehre transportiert: Sämtliche Beziehungen zwischen Unternehmen und ihrem Umfeld werden auf Einzelbeziehungen reduziert, in denen jeweils entsprechende Ansprüche regieren. Perfekt lassen sich also mit dem Gemeinwohl politische Energien mobilisieren und/ oder eben auch Partikularinteressen verschleiern.

Nur: Gute Begriffe halten auch dies über die Zeitläufte hinweg aus und erneuern sich von innen heraus. Das Gemeinwohl scheint so ein Stehaufmännchen zu sein, dass sich hin und wieder nicht nur in Vereinnahmungsgefahr befindet, sondern auch an Beschreibungsnotstand leidet. Dies gilt insbesondere, wenn es zur Leerformel verkommt oder eben: zur Vokabel degradiert wird.

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Den Unterschied zwischen Vokabel und Sprache artikuliert der Schriftsteller Martin Walser messerscharf:  Sprache wird für ihn „ immer dann zum Vokabular, wenn sie positiv werden soll… Sprache ist erfahrbar. Vokabular verstehbar… Sprache muss nicht recht haben. Vokabular hat recht“ (2004, S. 72, 89). Der GemeinwohlAtlas muss ebenfalls nicht „recht haben“, er soll unsere gesellschaftliche Wirklichkeit erfahrbarer machen. Die immerwährenden Messprobleme jeder Umfrage werden also etwas relativiert, wenn man im GemeinwohlAtlas mehr noch die darin enthaltene Anregung zur Artikulation und Reflexion eigener und sozialer Erfahrung nach vorn rückt. Wieder mit Kant: Denn was sind Anschauungen ohne Begriffe und Gedanken ohne Inhalte?

Entfremdung beginnt dort, wo das Gespräch aufhört, auf den Austausch von Vokabeln reduziert wird oder in gegenseitigen Vorurteilen und Verurteilungen gedacht und gefühlt wird. Miteinander im Gespräch sein bedeutet auch, gemeinsame Erfahrungen zu machen. Und dies ist auch der Kern des Ganzen: Gemeinwohl kann man nur erleben, nicht definieren.

Insofern ist der GemeinwohlAtlas auch ein Resonanzraum, ein Quasi-Objekt eigener Art, welches Bezugspunkte für den Diskurs bietet. Der GemeinwohlAtlas schafft eine Öffentlichkeit für das Gemeinwohl.

Klar, zunächst sieht man erst einmal nackte Zahlenwerte, die ihren Sinn erst durch Interpretation preisgeben und damit eine „Wahrheit“ zutage fördern bzw. ins Leben rufen. Falsch wäre es, unmittelbar Gründen und Ursachen zu suchen. Diese wird man einfach nicht finden, wenn man nicht erst einmal – und dies ist keineswegs therapeutisch gemeint – auf seine eigene, innere Stimme achtet und für sich selbst herausfindet, was einem an diesem Thema wichtig ist.

Dem Gemeinwohl empirisch auf die Spur kommen zu wollen, ist zudem vom Anliegen her eine zutiefst demokratische Angelegenheit. Wer als die Bevölkerung selbst sollte darüber Auskunft geben können? Es ist der Souverän selbst, der Legitimation und Stimme besitzt, über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu sprechen.

Der GemeinwohlAtlas ist ein Spiegel, den die Gesellschaft ihren Organisationen vorhält. Ob sich diese in dem Bild wiedererkennen oder nicht, ist eine Sache. Eine andere betrifft die Gesellschaft selbst, die in den Atlas ihre Einstellungen hineinprojiziert. Der GemeinwohlAtlas ist als auch Ausdruck eines kollektiven Gefühlshaushalts, in dem sich eine innere Ordnung oder auch kulturelle Selbstvergewisserung entfaltet. Der GemeinwohlAtlas verdichtet öffentliche Meinung und hebt sie darüber in den Stand einer veröffentlichten Meinung. Das ist keine metaphysische Übung, sondern eine praktische kollektive Selbstreflexion.

Auf die Frage Cui bono? können wir jetzt antworten: Im besten Fall nützt der GemeinwohlAtlas uns allen, jedem Einzelnen in seiner eigenen Standortbestimmung und jenen Organisationen, die sich über ihre Rolle und Wirkung in der Gesellschaft verständigen und neue Brücken bauen möchten.

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