Gemeinwohl Die Deutschen misstrauen der Unternehmenselite

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Womit leisten Unternehmen einen Gemeinwohlbeitrag?

Weit entfernt wirken da Zeiten, in denen der verstorbene US-Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman im Grab den Managerzeitgeist mit seinem Satz prägte: „The business of business is business“; die soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es, ihre Profite zu vergrößern.

Die Wissenschaftler aus St. Gallen – die für diese Studie finanziell von der Unternehmensberatung EY unterstützt werden – interpretieren es wie folgt. Gemeinwohl zielt auf die Frage, wie Bürgerinnen und Bürger ihr gesellschaftliches Umfeld wahrnehmen und welche Werte dort wirklich zählen. Welchen Stellenwert haben Fairness und Anstand im Zusammenleben? Was bedeutet Lebensqualität? Welche Rolle spielt Geld? Diese und andere gesellschaftlichen Werte werden heutzutage gerade durch Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Nichtregierungsorganisationen entscheidend beeinflusst. Sei es, dass diese mit ihrem Verhalten Traditionen bewahren oder mit ihren Produkten und Dienstleistungen ein neues Verständnis fördern, was als wertvoll in einer Gesellschaft gelten soll. Sie leisten damit einen Gemeinwohlbeitrag.

Diese Organisationen halten die Deutschen für besonders wichtig fürs Gemeinwohl

Aber: Fakten allein reichen nicht aus. Gemeinwohl entsteht nur dann, wenn die Gesellschaft das Geleistete auch als Wohltat anerkennt.

Daran herrscht in der Bundesrepublik offensichtlich großer Mangel. Denn der Atlas manifestiert in Zahlen, was sich in Deutschland schon länger beobachten lässt: ein großes Missverständnis zwischen den Chefs und der Bevölkerung. Die Unternehmerschaft investiert in Corporate Social Responsibility, kurz CSR, und gönnt sich eigene Abteilungen für den guten sozialen Ruf – doch die Bürgerschaft nimmt ihnen den plötzlichen Eifer nicht ab. Zwischen deutschen Unternehmern und deutschen Bürgern klafft eine Vertrauenslücke. 85 Prozent der Befragten sind besorgt bis sehr besorgt, dass dem Gemeinwohl in Deutschland zu wenig Beachtung geschenkt wird, Ostdeutsche sorgen sich mehr als Westdeutsche.

Selbst Studienleiter Timo Meynhardt, Professor in St. Gallen, ist überrascht: „Erstaunlich finde ich in Deutschland die Dominanz von öffentlichen, halbstaatlichen oder auch zivilgesellschaftlichen Organisationen im Spitzenfeld. Die Wirtschaft ist nicht die erste Adresse in der Bevölkerung, wenn es ums Gemeinwohl geht.“ Und das hat, wohlgemerkt, mit dem VW-Skandal gar nichts zu tun. „Manager müssen wieder lernen, ökonomische und gesellschaftliche Fragen zusammen zu denken“, sagt Meynhardt.

Der Irrtum

Machen die Manager zu wenig oder erwarten die Bürger zu viel? Woran liegt die große Skepsis der Bundesbürger? Andre Habisch, Professor für Christliche Gesellschaftslehre der Katholischen Hochschule Eichstätt, nennt zwei tief liegende Gründe: „Das Stichwort ‚Gemeinwohl‘ ist in Deutschland durch den Missbrauch im Nationalsozialismus historisch belastet, als galt: ‚Du bist nichts – Dein Volk ist alles‘. Hinzu kommt die ‚Systemdebatte‘ um krisenhaften Kapitalismus.“ Diese Diskussion führten Soziologen und Sozialwissenschaftler in Deutschland noch immer mit größerer Leidenschaft als anderswo. Bis hin zu der Unterstellung, dass ein freiwilliges gesellschaftliches Engagement sozial verantwortlicher Unternehmerpersönlichkeiten grundsätzlich ausgeschlossen sei.

Diese Unternehmen halten die Deutschen für besonders wichtig fürs Gemeinwohl

Der Wissenschaftler Meynhardt hat noch einen Punkt: „Managern fehlt eine angemessene Sprache, die einerseits der Komplexität der Wirtschaftsprozesse entspricht und andererseits so überzeugend ist, dass sie auch den Bürger anspricht.“ Das Bemühen um CSR, Nachhaltigkeit und Ähnliches sei bisher oft der hilflose Versuch, sich eine neue Sprache anzueignen und damit einen Zugang zur Bevölkerung zu finden.

Dabei wäre mehr Mühe angebracht, denn 77 Prozent aller Befragten würden lieber in Organisationen arbeiten, denen dieser Ansatz wichtig ist. Aber wie das so ist mit der kognitiven Dissonanz: Allen guten Worten zum Trotz wären nur 17 Prozent bereit, für Produkte und Dienstleistungen lobenswerter Unternehmen auch bis zu zehn Prozent mehr zu bezahlen, in diesem Fall Westdeutsche eher als Ostdeutsche.

Die ersten Reaktionen allein auf die Ankündigung des Atlas zeigen seine Relevanz für die Unternehmen. Lidl, die Sparda-Banken, dm-Drogeriemärkte, die Dr. Oetker-Gruppe, RTL, die Bundesagentur für Arbeit, Unicef und auch der Fußballverein Bayern München baten in St. Gallen bereits um Termine für vertiefende Gespräche.

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