Wenn Christian Appelt über seine Fahrten mit dem ICE in den vergangenen Jahren redet, spricht er gerne vom „503er“, „206er“ oder „515er“. Die Nummern, die zu jedem ICE im Fahrplan stehen, sind für den 49-Jährigen Synonyme für die vielen Bahnverbindungen geworden, die er regelmäßig nutzt.
Seit Jahren ist der Unternehmensberater Inhaber einer Bahncard 100 für die erste Klasse, die ihn pro Jahr 6.690 Euro kostet und zum unbegrenzten Zugfahren in Deutschland berechtigt. Mehrmals die Woche reist er quer durch die Republik. Rund eine Million Zugkilometer hat Appelt seit 2001 zurückgelegt. „Die Bahn“, sagt er, „ist eigentlich das beste Fortbewegungsmittel.“
Trotzdem hat Appelt seine Bahncard 100, deren Gültigkeit gerade endete, nun nicht wieder verlängert, sondern gibt sich künftig mit einer Bahncard 50 Erster Klasse für 482 Euro zufrieden.
So denkt das Netz über die Deutsche Bahn
"Es gibt Sachen, die sind schlecht. Dann gibt es Sachen, die sind noch schlechter oder am schlechtesten, und dann gibt es noch die Deutsche Bahn."
Twitter-Eintrag am 28. November 2012, 6.03 Uhr
"Hat irgendjemand schon eine Schneeflocke gesichtet? Hab mir gleich mal +60 Minuten auf dem Weg zur Arbeit eingefangen."
Twitter-Eintrag am 25. November 2012, 23.10 Uhr
"WLAN im Wagen 25 des ICE geht natürlich nicht. Ich könnte brechen, wirklich voll tolles träveling wis Deutsche Bahn."
Twitter-Eintrag am 25. November 2012, 12.33 Uhr
"Seit 8 Tagen ist der ICE 1023 nach FRA nur halb so lang. Inzwischen hat die Bahn es noch nicht mal mehr nötig, das anzukündigen."
Twitter-Eintrag am 20. November 2012, 22.53 Uhr
"Vom Pinguin zur Sardine. Danke Deutsche Bahn."
Twitter-Eintrag am 20. November 2012, 22.40 Uhr
Es war dieser Tag im vergangenen September, der Appelts Liebe zur Deutschen Bahn (DB) zerbrechen ließ. Wieder einmal saß der Westfale im ICE 503 von seinem Wohnort Hagen nach Basel. Laut Fahrplan schafft der Hochgeschwindigkeitszug die rund 550 Kilometer lange Strecke in weniger als fünf Stunden. Doch dieser Tag war wieder einmal kein normaler. Wegen einer Stellwerksstörung in Solingen erreicht der ICE 503 Karlsruhe, wo Appelt nach Basel umsteigen muss, mit 70 Minuten Verspätung. Als Appelt in den Bahnhof einfährt, sieht er den ICE, der ihn und andere Reisende außerplanmäßig aufnehmen und nach Basel befördern sollte, vor der Nase abfahren. Appelt muss den nächsten Zug nehmen und erreicht Basel mit zwei Stunden Verspätung. Sein Geschäftstermin ist geplatzt, die ganze Reise sinnlos.
Darüber kann sich Appelt die nächsten Stunden nicht beruhigen. Am Abend macht er seiner Wut schließlich auf der Internet-Web-Site ice-treff.de Luft. „Diese DB der Jetzt-Zeit ist für vernünftiges Arbeiten nicht mehr benutzbar“, schimpft er und droht: „Wir werden SOFORT alle Bahncard 100s in der Firma kündigen! Es reicht!“ Appelt arbeitet mit zwölf freiberuflichen Kollegen zusammen. Rund 80.000 Euro könnte die Deutsche Bahn verlieren, sollte die gesamte Truppe um Appelt nach Ende der Laufzeit wie er ihre Bahncards 100 nicht verlängern.
In Hassliebe verbunden
Die jährlichen Fahrplanwechsel bei der Deutschen Bahn sind Tage des Selbstlobs, der Kritik durch Fahrgastvertreter, der Vor- und der Rückschau, kurz: der Bilanz. Wenn es am kommenden Wochenende wieder so weit ist, wird Bahn-Chef Rüdiger Grube alles versuchen, die jüngsten Meldungen über weitere Verzögerungen bei der Inbetriebnahme neuer ICE- sowie neuer Regionalzüge vergessen zu machen.
Es gibt neue Direktverbindungen von Düsseldorf nach Stuttgart. Auch für den Winter ist besser vorgesorgt. Die Bahn setzt zusätzliche Anlagen ein, um vereiste Züge abtauen zu können. Alle 48.000 Weichen auf Strecken mit Personenverkehr werden beheizt, 6.000 Weichen zusätzlich mit Abdeckungen gegen Eisbrocken geschützt. Durch den vorübergehenden Einsatz von Intercity- anstelle von ICE-Zügen bis zum 15. März soll es mehr Reservezüge geben.
Das Eisenbahnsystem kränkelt
Doch selbst Bahn-Enthusiasten wie Appelt wird Grube damit nicht gewogen stimmen. Dazu krankt das deutsche Eisenbahnsystem an zu vielen Fehlern, deren Beseitigung in nächster Zeit nicht zu erwarten ist. Was Viel- wie Gelegenheitsfahrer immer wieder zu Wutausbrüchen treibt, wird der Fahrplanwechsel nicht im Ansatz verhindern. Dazu sind die Pannen und Unzulänglichkeiten zu sehr nur Symptome tief sitzender Probleme, die zu lösen Jahre und Milliarden Euro kostet. Die teils fremd-, teils selbst verschuldeten Fehler werden Kunden auch weiterhin so bitter aufstoßen, dass viele von ihnen mit der Bahn bestenfalls eine Hassliebe verbindet.
Auf unbestimmte Zeit am Limit
Die Deutsche Bahn steckt in einem Dilemma. Sie will den Fernverkehr zur Hochglanzsparte aufpolieren, doch ausgerechnet hier wiegen die Systemfehler besonders schwer.
Die ICE- und Intercity-Züge sollen 2015 laut interner Planung mehr Gewinn einfahren als der staatlich gepäppelte Regionalverkehr. Im vergangenen Jahr spülten sie rund 3,8 Milliarden Euro in die Bahn-Kasse. Der operative Gewinn vor Zinsen und Steuern lag bei 157 Millionen Euro – ein Plus von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres konnte der Konzern zudem die Zahl der Fahrgäste gegenüber dem Vorjahreszeitraum um vier Prozent auf mehr als eine Milliarde steigern – ein neuer Rekord. Die Auslastung legte in den vergangenen Monaten außerdem auf mehr als 50 Prozent zu. Die Bahn fährt im Fernverkehr damit ihrem besten Ergebnis entgegen.
Trotzdem leidet das Geschäft seit Jahren an einem Grundübel, das die Bahn in den kommenden Jahren kaum beseitigen kann: Die Flotte ist mittlerweile viel zu klein und teilweise völlig veraltet.
Die Ursachen dafür reichen weit zurück. Manche sind selbst verschuldet. So gibt es im Eisenbahngeschäft, anders als in der Flugbranche, keinen Secondhand-Markt. Die Deutsche Bahn und ihre staatlichen europäischen Schwesterunternehmen pflegten seit Jahren ihr Gesicht des hässlichen Monopolisten. Lieber verschrotteten sie die meisten alten Waggons, als dass sie einen Gebrauchtfahrzeugmarkt etablierten, auf dem sich Konkurrenten schnell und einfach bedienen könnten. Gäbe es diesen, hätte die Deutsche Bahn kurzfristig Züge als Notreserve kaufen können.
Die Ressourcenverschwendung rächt sich bitter, seit im Juli 2008 ein ICE bei der langsamen Einfahrt in den Kölner Bahnhof entgleiste, weil eine Radsatzwelle geborsten war. Seitdem müssen alle ICE der dritten und neuesten Generation bis zu zehn Mal häufiger als früher zur Kontrolle in die Werkstätten. Im täglichen Betrieb fehlen der Deutschen Bahn dadurch zwölf Züge. Während die Nachfrage nach Bahnreisen seit 2009 um neun Prozent zugenommen hat, ist die Anzahl der verfügbaren Sitzplätze dadurch um vier Prozent gesunken. Ein Problem, unter dem die Fahrgäste vor allem zu Stoßzeiten leiden.
„Ich sehne mich nach dem Tag, an dem wir mehr Züge bekommen“, sagte Bahn-Personenverkehrsvorstand Ulrich Homburg im September. Doch darauf muss er weiter warten. Eigentlich sollte Siemens acht neue ICE-Züge bis Dezember liefern, mit denen Homburg eine kleine Reserve für den bahnfeindlichen Winter aufbauen wollte. Doch die nagelneuen High-Tech-Wunder bremsen nicht so prompt, wie das Eisenbahnbundesamt es verlangt, weswegen die Behörde die Zulassung jetzt verweigerte. Vielleicht kommen die Züge nun im Frühjahr – eineinhalb Jahre später als von Siemens vertraglich zugesagt.
Das Oligopol der Eisenbahnindustrie
Schuld hat die Eisenbahnindustrie, die sich in den vergangenen 20 Jahren zum Oligopol entwickelte. Konzerne wie Siemens, der kanadische Anbieter Bombardier und Frankreichs Alstom teilen sich das Geschäft zumindest in Europa mehr oder weniger friedlich untereinander auf oder kooperieren sogar. Wer erst einmal einen Großauftrag gewonnen hat wie Siemens 2008 als alleiniger Bieter für den neuen ICE, kann sich danach fast alles erlauben.
So war Alstom-Managern nach Informationen der WirtschaftsWoche schon 2008 klar, dass sie die verlangten ICE wegen der komplexen Zulassungsprozedur nicht wie von Siemens versprochen bis 2011 würden liefern können. Die Franzosen zogen sich deshalb aus dem Bieterverfahren zurück. Der Auftrag ging unter dem damaligen Bahn-Chef Hartmut Mehdorn an Siemens, die Quittung erhält nun Nachfolger Grube.
Dennoch entschied der sich im Mai 2011, den gigantischen Auftrag über bis zu 220 ICE der künftigen Generation von 2016 an für sechs Milliarden Euro ebenfalls an Siemens zu vergeben. Alstom wollte sich dem Vernehmen nach von Grube nicht dazu bewegen lassen, ein Gegenangebot zu unterbreiten. Die Franzosen ahnten vermutlich, dass ein deutsches Staatsunternehmen wie die Bahn einen solchen Auftrag mit Blick auf die Jobs kaum ins Ausland vergeben würde.
Aus dieser Zwickmühle kommt die Bahn allenfalls langsam heraus. Konzernchef Grube hat das Manko zumindest erkannt und begonnen, die Zahl der Zuglieferanten zu erhöhen. Mit Hitachi aus Japan, Pesa aus Polen und CAF aus Spanien hat die Bahn inzwischen drei weitere Hersteller gewonnen, die mit Regionalzügen gegen die bisherigen Anbieter antreten – und vielleicht auch irgendwann einmal mit Fernzügen. Doch das wird dauern, wenn es überhaupt jemals dazu kommt. Wahrscheinlicher ist sogar, dass Konkurrenten der Deutschen Bahn mit Hochgeschwindigkeitszügen wie dem AGV von Alstom hier auftauchen. In Italien ist genau das passiert, und der Wettbewerb zwischen Neapel und Mailand brummt.
Hartnäckige Engpässe
Es gab Zeiten, da galt bei der Bahn: Niemals soll ein ICE den Bahnhof verlassen, während gerade ein anderer ICE mit Anschluss-Reisenden einfährt. Für so viel Kulanz fehlen inzwischen aber nicht nur die Züge, sondern an großen Bahnhöfen zudem die Gleise für wartende Züge.
Am größten ist die Verzweiflung der Fahrgäste, die wie Ex-Bahncard-100-Besitzer Appelt ihrem Anschlusszug hinterherschauen, immer wieder in Köln, Mannheim und Hannover. Die Bahnhöfe sind zentrale Umsteigestationen. In Köln teilen sich zum Beispiel die Strecken nach Düsseldorf und nach Hagen, in Hannover wechseln Reisende die ICE Richtung Hamburg oder Berlin sowie nach Köln oder Frankfurt.
Passagiere unter Zeitdruck
Für Senioren und Familien mit kleinen Kindern ist der Umstieg in Hannover, für den der Fahrplan acht Minuten vorsieht, schon eine sportliche Herausforderung. In der Praxis ist der Wechsel des Zuges jedoch ein erfolgloses Querbahnsteigeinrennen. Denn allzu oft sind die Züge so verspätet, dass zum Umsteigen nur noch eine Minute bleibt. Der Bahnhof Hannover und seine Vielfahrer-Lounge strotzt dann vor genervten Kunden. Schuld sind fehlende Gleise. In der Hauptverkehrszeit reichen selbst zehn Gleise für den Nah- und Fernverkehr oft nicht mehr aus, weil die vorhandenen Schienenwege für nachfolgende Züge freigegeben werden müssen.
Zu den Engpässen auf der Schiene kommen unsichtbare wirtschaftliche Zwänge. So reißt in Mannheim die Reisekette häufig ab und treibt den Adrenalinspiegel der Fahrgäste in die Höhe. Denn hier treffen die Züge in Richtung München und Frankfurt auf diejenigen von und nach Basel. „In Hauptverkehrszeiten werden bis zu 30 Prozent der Anschlussverbindungen nicht erreicht“, sagt Felix Berschin von der Nahverkehrsunternehmensberatung Südwest.
Ursache sind auch drohende Strafen. Wenn etwa der ICE von Berlin über Basel nach Interlaken nicht zur vereinbarten Zeit das eidgenössische Schienennetz erreicht, verdonnern die Schweizer Bundesbahnen (SBB) ihre deutschen Kollegen zu saftigen Strafzahlungen. Ein ICE, der deswegen in Mannheim nicht auf einen verspäteten Zug aus dem Norden wartet, erspart der Bahn zusätzliche Kosten.
Auch Regionalzüge fahren möglichst auf die Minute ab, weil sie sonst unnötig Geld verschlingen. Insbesondere private Bahn-Konkurrenten vermeiden dadurch empfindliche Vertragsstrafen von ihren Auftraggebern, den Verkehrsverbünden und Bundesländern. Wartende Fahrgäste dagegen kosten die Bahnunternehmen nichts.
Zumindest teilweise Abhilfe brächte ein deutschlandweiter Takt-Fahrplan, weil dieser der Bahn helfen würde, die Anschlüsse zu halten. Dazu müsste der Bund als Hauptfinanzier das Schienennetz entsprechend ausbauen. In der Praxis stecken die Politiker Geld aber lieber in den Bau prestigeträchtiger schneller Punkt-zu-Punkt-Verbindungen wie die fünf Milliarden Euro teure Schnellstrecke Nürnberg–Erfurt.
Nur langsam greift die Einsicht, dass dies nicht den Reisenden dient. Bundesverkehrsminister Peter Raumsauer (CSU) will nun nach Informationen der WirtschaftsWoche eine Machbarkeitsstudie zum sogenannten Deutschland-Takt ausschreiben. Ziel ist der Bau nur noch solcher neuer Strecken, die dem optimalen Fahrplan dienen. Doch bis es so weit ist, wird noch eine Pendler-Generation ins Land ziehen.
Störungen durch alte und anfällige Gleise
Der Kölner Hauptbahnhof gilt Vielfahrern als Hölle am Rhein. Während die S-Bahnen im Minutentakt geschmeidig mit Tempo 50 über die Hohenzollernbrücke in Richtung Gleis 11 ziehen, bekommen die Reisenden im ICE die Skyline der Domstadt meist länger zu sehen, als ihnen recht ist. Denn wenn der Hochgeschwindigkeitszug von seiner Tempo-300-Rennstrecke aus Frankfurt naht, wird ihm häufig die Einfahrt auf einem der verstopften Gleise für die ICE verwehrt. Und/oder die uralten Weichen vor dem Hauptbahnhof erlauben dem weißen Blitz nur Schrittgeschwindigkeit.
Ungelöste Probleme
Damit steht die Millionenstadt nicht allein. Das verschlissene und verstopfte Schienennetz ist eines drängendsten ungelösten Probleme der Bahn. Gleise, Weichen und Brücken altern – der Instandhaltungsaufwand wird immer größer. Den Infrastrukturberichten der Bahn zufolge ist von 2005 bis 2011 das Durchschnittsalter der Weichen von 16,5 auf 19,7 Jahre, der Gleise von 19,7 auf 20,8 und der Eisenbahnbrücken von 52,4 auf knapp 55 Jahre gestiegen.
Verantwortlich dafür sind die Bahn, weil sie Geld aus den Infrastruktursparten abzieht, sowie die Bundesregierung, weil sie die nötigen Investitionen scheut, obwohl der Bund laut Grundgesetz dafür zuständig ist. Bahn-Infrastrukturvorstand Volker Kefer forderte jetzt mehr öffentliche Mittel – die Infrastruktur sei nicht „nachhaltig finanziert“. Der Bund müsste mindestens eine Milliarde Euro mehr pro Jahr in das bestehende Netz investieren, meinen Experten. „Oder die Bahn könnte selber mehr aus ihren eigenen Gewinnen ins Netz einbringen“, sagt Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Das Unternehmen ziehe derzeit mehr Finanzmittel aus der Infrastruktur, als es in das Schienennetz investiere.
Geschäftsentwicklung von DB Regio
Ergebnis: 922 Millionen Euro
Umsatzrendite: 17,5 %
Ergebnis: 732 Millionen Euro
Umsatzrendite: 13,5 %
Ergebnis: 545 Millionen Euro
Umsatzrendite: 10,1 %
Ergebnis: 765 Millionen Euro
Umsatzrendite: 14,2 %
Doch selbst mit einer Milliarde Euro mehr bliebe Deutschland bei den Investitionen pro Kilometer Schiene im europäischen Vergleich das Schlusslicht. Deutschland leistet sich zwar nach der Schweiz und den Niederlanden das am stärksten ausgelastete Netz, investiert aber derzeit jedes Jahr nur 130.000 Euro pro Schienenkilometer in den Erhalt. Die Holländer geben sieben Mal so viel dafür aus, die Schweizer fünf Mal und die Österreicher, Italiener und Spanier immerhin noch fast drei Mal so viel. Zwar hat Verkehrsminister Ramsauer 750 Millionen Euro mehr für den Verkehrsetat 2013 herausgehandelt, doch davon gehen nur 40 Millionen Euro in die Schiene. Das Gros erhält der Straßenbau.
Zu starr und zu komplex
„Information zu ICE 951 nach Berlin Ostbahnhof. Dieser Zug verkehrt heute in umgekehrter Wagenreihung.“ Viele Reisende kennen solche Durchsagen und die Folgen: Sie stehen mit ihrer Platzkarte an der richtigen Stelle am Bahnsteig, müssen nun aber rennen und binnen Kurzem durch 400 und mehr Wartende hecheln.
Und warum? Weil die Deutsche Bahn dafür sorgte oder zuließ, dass das „Rad-Schiene-System“, wie Ex-Chef Mehdorn gern sagte, immer komplexer und damit unflexibler wurde. Dafür sorgten fast ein Jahrzehnt lang Grubes Vorgänger Mehdorn und dessen Finanzchef Diethelm Sack, indem sie die Bahn bis 2008 börsenfähig machten und dadurch an allen Ecken und Enden auf Kante nähten. Der Gang aufs Parkett scheiterte durch die Zuspitzung der Finanzkrise nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers.
An den fehlenden Reserven krankt die Bahn bis heute und vermutlich noch längere Zeit. Beispiel Hauptbahnhof Hamburg: Trifft ein ICE abends verspätet ein, und erreicht er die Werkstatt im Stadtteil Eidelstedt erst nach dem Ende der Tagesschicht, wird es knapp: Zeit und Personal reichen dann oft gerade noch aus, um den Zug über Nacht zu säubern und ihn zu warten. Den ICE dann auch noch zu wenden, um ihn am nächsten Morgen mit Waggons in der richtigen Reihenfolge loszuschicken, geht nicht mehr: dauert mindestens zwei Stunden, also zu lang, bräuchte zusätzliches Personal sowie eine nächtliche Sondergenehmigung der Leitstelle.
Auch die Waggons kurzerhand einfach elektronisch umzunummerieren ist unmöglich. Das verhindert die Anordnung des Kinderabteils, des Bordbistros, der ersten Klasse und der im Reiseplan an den Plätzen ausgewiesenen Behindertenplätze und -Toiletten.
Anzeichen für Verbesserungen
Auf die Spitze getrieben wird die Inflexibilität, weil die ICE-Züge quasi am Stück gebaut sind. Einen der acht Wagen einfach mal eben abzukoppeln, zum Beispiel weil er technische Probleme bereitet, fällt im Gegensatz zum alten Intercity aus. Zwar ist das Auswechseln eines Wagens grundsätzlich denkbar. Doch Insider berichten von mindestens „einem halben Tag, allein um einen einzelnen Wagen auszutauschen“. Hinzu komme eine oft mehrstündige Anfahrt zu einer der Bahn-Werkstätten.
Immerhin gibt es Anzeichen für Verbesserungen. Die starre Anordnung der Waggons wird bei der neuen ICE-Generation der Vergangenheit angehören. Siemens und die Deutsche Bahn haben sich auf ein revolutionäres Konzept verständigt, das die Zuglänge problemlos an die Nachfrage auf einer Strecke anpassen kann. Doch bis dahin werden noch viele Züge in falscher Reihenfolge durchs Land rattern – denn die neuen kommen frühestens 2016 – wenn Siemens das bis dahin schafft.
Eine U-Bahn ohne Lokführer
Online-Verbindung vielfach nicht möglich
Konzernchef-Grube will die Bahn moderner und komfortabler machen, kann die geweckten Erwartungen aber häufig nicht erfüllen. So wirbt die Bahn mit einem „besonderen Service“. In vielen ICE-Zügen mit WLAN könnten sich die Fahrgäste „drahtlos ins Internet einloggen – und das sogar bei bis zu 300 km/h“, heißt es auf der Web-Site des Konzerns. „Kein anderes Verkehrsmittel bietet so optimale Bedingungen zur Internet-Nutzung wie der ICE.“
Ortwin Wanke hat ganz andere Erfahrungen gemacht. Der 49-Jährige organisiert Kongresse und Workshops für die Pharma- und Gesundheitsbranche und fährt beruflich mindestens zwei Mal pro Woche ICE, samstags auch privat zu Fußballbundesligaspielen nach Hannover. Er besitzt eine Bahncard 100 für die zweite Klasse zum Preis von 3.990 Euro pro Jahr. Er könne in der Bahn „größtenteils gut arbeiten oder entspannen“, sagt der freiberufliche Eventmanager aus Berlin.
Doch „größtenteils gut arbeiten“ schließt bei Wanke ein, dass er das ausgerechnet nicht zwischen Berlin und Hannover sowie Hamburg kann, wo er jede Woche mindestens einmal unterwegs ist. Hier sei das Internet im ICE „eine Katastrophe“, sagt Wanke. „Ich überlege ernsthaft, wieder auf den Flieger umzusteigen“ – trotz Flugangst.
Mit solchen Unzulänglichkeiten frustriert die Bahn ihre jüngeren und ihre zahlungskräftigsten Kunden. Aber offenbar spielen die Verantwortlichen bei der Bahn auf Zeit und hoffen auf den neuen superschnellen Mobilfunkstandard LTE. Dann können die Kunden über das Handynetz surfen, und die bislang nur halbherzig aufgebaute teure Bord-WLAN-Infrastruktur mit neuen Funkmasten an den Strecken wäre obsolet. Doch flächendeckend ist damit nicht vor 2015 zu rechnen.
Bahn-Bashing Teil des Geschäfts
Wohl kein Unternehmen muss sich mit so viel feindlich gesonnenen Kunden herumschlagen wie die Deutsche Bahn. Das „Bahn-Hasser-Buch“ oder die Spottschrift „Senk ju vor träwelling“ stehen für ein Phänomen, das in der deutschen Unternehmenslandschaft seinesgleichen sucht.
Einer, der Erklärungsversuche für die zahllosen Wutausbrüche an den Bahnsteigen und in den Zügen unternimmt, ist der Marktforscher Stephan Grünewald vom Kölner Rheingold Institut. Zwischen Kunden und Bahn gebe es ein „besonderes Verhältnis“, sagt der Psychologe. Die Deutsche Bahn sei kein „normales Unternehmen“. Sie werde vielmehr „als staatliche Instanz wahrgenommen, die den Menschen gehört“. Insofern glaube der Kunde, einen „staatlich verbrieften Anspruch“ auf Grundversorgung mit Transportleistung zu haben.
Persönliche Kränkung
Daraus leitet Grünewald eine These ab, die für die Bahn seiner Ansicht nach einer Art Naturgesetz gleichkommt. „Unpünktlichkeit erleben viele Reisende als persönliche Kränkung“, sagt der Ergründer der Konsumentenseele. Denn anders als beim Auto, in dem sich das Individuum als Herr über das Verkehrsmittel wähne, meinten die Kunden bei der Bahn, mit dem Kauf einer Fahrkarte ihre Eigenständigkeit zu verlieren. „Im Zug fühlen sie sich dann ohnmächtig einem fremden Räderwerk ausgeliefert“, sagt Grünewald. „Verspätungen oder störende Mitreisende empfinden sie als Zuspitzung der Ohnmacht. Der artikulierte Ärger ist dann ihr Versuch, ein Stück Autonomie zurückzugewinnen.“
Bashing ist für Grünewald deshalb ein integraler Bestandteil des Bahn-Geschäfts, ja geradezu „unvermeidlich“. Weil Zugfahren ein „Akt partieller Selbstaufgabe“ sei, gewinne der Kunde „durch Bahn-Bashing wieder die Oberhand“.
Die Deutsche Bahn will das Problem in den Griff bekommen, indem sie versucht, Wutattacken ihrer Kunden die Spitze zu nehmen. Dazu hat sie in dem Kurznachrichtendienst Twitter den Kanal @db_bahn eingerichtet. Auf ihm können ungehaltene Reisende ihre Aggressionen in 140 Zeichen lesbar für alle Twitterer loswerden. Ein Twitter-Team aus rund einem Dutzend Mitarbeiter antwortet darauf in der Regel innerhalb von Minuten – in geschult höflichem Ton und inhaltlich kompetent.
Das Twitter-Team hätte die Entscheidung von Bahn-Fan Appelt, seine teure Bahncard 100 durch die viel preiswertere Bahncard 50 zu ersetzen, aber wohl kaum verhindern können. So testete die WirtschaftsWoche die Überredungskünste der Kundenberuhiger mit der Beschwerde: „Immer diese Verspätungen. Hätte gute Lust, meine Bahncard 100 zu kündigen. Was halten Sie von der Idee?“ Daraufhin kam von der Deutschen Bahn letztlich die Antwort: „Es tut mir leid, dass Sie von Verspätungen betroffen waren. Vielleicht geben Sie uns ja noch eine Chance.“