Hilfsorganisation Warum SOS Kinderdorf harte Einschnitte braucht

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Einsparungen in den aufstrebenden Ländern

SOS-Kinderdörfer

Am stärksten betroffen sind Lateinamerika und Osteuropa. 76 SOS-Projekte mit über 600 Mitarbeitern stehen dort auf dem Prüfstand. Ziel ist eine globale Umverteilung: Was die Organisation in den 35 aufstrebenden Ländern einspart, soll finanzielle Spielräume für Projekte in den 36 ärmsten SOS-Ländern schaffen. „Das ist das Herzstück des Wandels“, sagt Wilfried Vyslozil, Geschäftsführer des finanzstarken Vereins mit dem sperrigen Namen SOS-Kinderdörfer weltweit/Hermann-Gmeiner-Fonds Deutschland (HGFD) mit Sitz in München.

Profitieren von der Umschichtung der Finanzmittel sollen etwa Nicaragua, Haiti, Liberia, Niger, Angola und Laos. Doch dafür müssen heute gebundene Mittel frei werden. Auf die eigenen Beine kommen müssen deshalb die SOS-Vereine etwa in China, Indien, Brasilien, Chile Mexiko, Südafrika – und im Libanon.

SOS-Kinderdörfer im Libanon

Die Ursachen, dass es so weit kommen konnte, reichen zwei, drei Jahrzehnte zurück. In wirtschaftlich guten Zeiten und bei wachsendem Spendenaufkommen ist die Hilfsorganisation in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu ambitioniert gewachsen. Zwar fuhr die Zentrale seit 2003 Neubauprojekte herunter, um gegenzusteuern. Aber die Fixkosten der weltweit 545 Kinderdörfer und mehr als 1800 Zusatzeinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Berufsbildungszentren, medizinische Zentren, Sozialzentren, Familienstärkungsprogramme explodierten – vor allem in Schwellenländern mit rapide wachsenden Lebenshaltungskosten und teilweise hoher Inflation.

Die Bank geplündert

Um die gestiegenen Ausgaben auszugleichen, blieb SOS nur, immer wieder Nachtragshaushalte aufzulegen und Rücklagen aufzulösen. Fast zehn Jahre geschah das unbemerkt von der Öffentlichkeit und stets in guter Absicht. Aber lange konnte das nicht mehr weitergehen. Denn die Rücklagen des HGFD schrumpften durch solche Notoperationen seit 2005 um gut ein Viertel: von 238 Millionen Euro auf heute 175 Millionen.

Der riskante Weg von SOS in Zahlen
Spendeneinnahmen des in Millionen Euro 2011
Spenden in Deutschland
Herkunft der SOS-Einnahmen
Um die in den vergangenen Jahren gestiegenen Ausgaben für die Kinderdörfer auszugleichen, musste SOS Rücklagen aufgelösen. Die Rücklagen des Hermann-Gemeiner-Fonds schrumpften seit 2005 um gut ein Viertel. (zu 2: vorläufige Zahlen)Quellen: DZI, SOS, eigene Recherchen
944 Millionen Euro betrug das Budget der SOS-Kinderdörfer 2012.(zu 3: einschließlich öffentlicher Zuwendungen)Quellen: DZI, SOS, eigene Recherchen
Der größte Anteile der Gesamtausgaben entfiel dabei auf die Kinderdörfer. Danach folgten Familienunterstützungsprogramme und Ausbildungsstätten.Quellen: DZI, SOS, eigene Recherchen

Der HGFD ist das wirtschaftliche Herz der SOS-Kinderdörfer. Die SOS-Spendeneinnahmen werden größtenteils in 18 SOS-Vereinen in Europa und Amerika gesammelt. Der HGFD und sein deutscher Schwesterverein SOS-Kinderdorf e. V. stehen für zwei Fünftel der gesamten SOS-Einnahmen, weshalb Mitarbeiter den HGFD halb im Scherz „die Bank“ nennen. Das SOS-Hauptquartier in Innsbruck aber steuert weitgehend die Aktivitäten in den 133 Ländern und verteilt das Geld.

Lange verließ sich der Dachverband auf die Rücklagen des HGFD, die größten in der weltweiten SOS-Organisation. Doch diese Zeiten sind vorbei, die Zahlen „zeigten ganz klar Handlungsbedarf“, sagt ein Außenstehender und Kenner der Organisation. Im Klartext: Das SOS-Imperium hatte begonnen, seine Bank zu plündern.

Zum Showdown zwischen den Geldgebern in Deutschland und den SOS-Kinderdorf-Managern in Österreich kam es 2012, als HGFD-Geschäftsführer Vyslozil die Reißleine zog. Das SOS-Hauptquartier hatte wie gewohnt zusätzlichen Bedarf für Projekte in Lateinamerika nachgemeldet, die aus deutschen Spendengeldern finanziert werden. Sechs Millionen Euro sollte der HGFD 2012 aus den Rücklagen lockermachen.

Solche Forderungen waren Selbstläufer, bis der HGFD eine Zahlung 2011 mit einer ernsten Warnung nach Innsbruck verband. 2012 dann sagte Vyslozil, 56, gelernter Betriebswirt, Nein zu dem geforderten Nachtragshaushalt, um die finanzielle Auszehrung des HGFD zu stoppen. Der Aufsichtsrat des formal von Innsbruck unabhängigen HGFD stärkte ihm dabei den Rücken – vor allem Christoph Kahl. Der geschäftsführende Gesellschafter und Gründer des Immobilieninvestors Jamestown in Köln verkörpert im HGFD-Aufsichtsrat den wirtschaftlichen Sachverstand und gehört zu Vyslozils engsten Beratern. Das Veto des HGFD gegen den Nachtragshaushalt war „SOS-intern ein Erdbeben“, sagt ein Insider, „das hat alle wachgerüttelt“.

Vordergründig endete das Erdbeben zwar mit einem schalen Kompromiss: Der HGFD zahlte die Hälfte der geforderten sechs Millionen Euro, den Rest gaben andere europäische SOS-Vereine hinzu. Gleichzeitig gab es aber im Sommer 2012 den gemeinsamen Beschluss der SOS-Oberen, den Raubbau an den Reserven zu beenden. Das Ergebnis kennen SOS-Insider inzwischen als „Sustainable Path“.

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