Der Deutsche Beamtenbund (DBB) droht der Deutschen Bahn mit „einem der schlimmsten Arbeitskämpfe aller Zeiten“. Die Bahn müsse der Lokführergewerkschaft GDL bis zum Mittwoch kommender Woche ein Angebot "ohne Vorbedingungen" unterbreiten, sagte der Zweite DBB-Vorsitzende Willi Russ der "Süddeutschen Zeitung" vom Freitag. "Im Vergleich zu dem, was uns dann bei der Bahn bevorstehen wird, war alles Bisherige nur Kinderkram." Der DBB ist der Dachverband der GDL, er unterstützt die Lokführergewerkschaft.
Die Bahn muss die Drohung ernst nehmen – trotz oder gerade wegen des Tarifeinheitsgesetzes, das die Bundesregierung gestern im Kabinett verabschiedet hat. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles will mit dem Gesetz zwar die Macht der Kleingewerkschaften einschränken und verhindern, dass einzelnen Berufsgruppen ein ganzes Land lahmlegen können. Doch genau das könnte jetzt passieren.
Das Gesetzesvorhaben wirkt kurzfristig wie ein Streik-Verstärker. Das Gesetz muss noch durch den parlamentarischen Prozess, der bis Sommer 2015 abgeschlossen sein könnte. Gerade deshalb gilt bei der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) das Motto: Jetzt erst recht! Bevor das Gesetz die Befugnisse der GDL einschränkt, wird sie also mit voller Vehemenz für ihre aktuellen Forderungen eintreten. Die Lokführer fordern höhere Löhne, geringere Arbeitszeiten und wollen künftig auch für Zugbegleiter und Bordgastronomie-Mitarbeiter tarifieren. Das Herbeireden eines der schlimmsten Arbeitskämpfe aller Zeiten ab Mitte Januar ist also keine übliche Streik-Rhetorik, sondern sie hat Endspiel-Charakter.
Natürlich gibt es auch Grenzen. Die Rechtsprechung verlangt, dass ein Streik verhältnismäßig sein muss und im konkreten Fall nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf. Ein Streik über viele Wochen wäre also ausgeschlossen. Zudem hängt die Dauer auch von der Streikkasse ab. Die Gewerkschaften machen daraus ein großes Geheimnis, um sich im Verhältnis zum Arbeitgeber nicht selbst klein zu machen.
Doch die GDL gilt als eine der solventesten Gewerkschaften in Deutschland. Pro Streiktag zahlt sie ihren Mitgliedern bis zu 50 Euro als Ausgleich für entgangene Gehälter. Die GDL hat 34.000 Mitglieder und kassiert als Beitrag 0,65 Prozent des Bruttoeinkommens. Pro Mitglied sind das für Lokführer zwischen 16 und 20 Euro pro Monat. Die Streikkasse dürfte damit gut gefüllt sein. Hinzu kommt, dass die GDL in der Vergangenheit erst wenige Streiks finanzieren musste, weil alle Lokführer bis 1994 Beamte waren, die nicht streiken durften.
Was die GDL erreichen will
Wie immer geht es zwischen Arbeitgeber und den Gewerkschaften um Einkommen, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen. Das Besondere an diesem Tarifkonflikt ist jedoch, dass zusätzlich die GDL (34 000 Mitglieder) mit der viel größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG (210 000 Mitglieder) um die Vertretungsmacht bei einem Teil der Belegschaft konkurriert. Die Bahn wiederum will Tarifkonkurrenz vermeiden. Für eine Berufsgruppe soll ihrer Meinung nach nur ein Tarifvertrag gelten.
Die GDL will die Verhandlungsmacht auch für rund 8800 Zubegleiter, 2500 Gastronomen in den Speisewagen, 3100 Lokrangierführer sowie 2700 Instruktoren, Trainer und Zugdisponenten. Das macht zusammen 17 100 Mitarbeiter. Mit den rund 20 000 Lokführern bildet die GDL daraus die Gruppe „Zugpersonal“ mit 37 000 Mitarbeitern. In dieser Gruppe habe sie die Mehrheit der Mitglieder. Die EVG hält von der GDL vorgenommene Zusammenführung für willkürlich und bezweifelt deren Zahlenangaben.
Das ist der heikle Punkt, weil die Gewerkschaften aus dem Organisationsgrad ihr Verhandlungsmandat für die jeweiligen Berufsgruppen ableiten. Wer stärker ist, soll in Tarifverhandlungen das Sagen haben. Die Frage ist jedoch, welche Organisationseinheit man dabei betrachtet: Einen Betrieb, ein Unternehmen im Konzern, eine Berufsgruppe? Je nach dem kann die Mehrheit mal bei der einen, mal bei der anderen Gewerkschaft liegen.
Bei den Lokführern ist die Sache klar: 20.000 sind bei der Bahn beschäftigt. Die GDL reklamiert 78 Prozent von ihnen als ihre Mitglieder, das wären etwa 15.500. Die EVG gibt ihre Mitgliederzahl unter den Lokführern mit 5000 an, davon seien 2000 Beamte. Das geht nicht ganz auf, selbst wenn alle Lokführer gewerkschaftlich organisiert wären. Aber: Das Kräfteverhältnis ist eindeutig, drei zu eins für die GDL. Schwieriger und umstritten ist es bei den übrigen rund 17.000 Mitarbeitern, die nach GDL-Definition zum Zugpersonal zählen. Die EVG sagt, 65 Prozent der Zugbegleiter und 75 Prozent der Lokrangierführer seien bei ihr organisiert. Das wären zusammen allein bei diesen beiden Berufsgruppen 9860 Beschäftigte. Die GDL macht eine andere Rechnung auf: 37.000 Beschäftigte (inklusive Lokführer) gehörten zum Zugpersonal. Davon seien 19.000 GDL-Mitglieder, das sei eine Mehrheit von 51 Prozent.
Für die GDL ist das sehr bedeutsam. Denn ein solches Gesetz könnte ihre Handlungsmöglichkeit einschränken. Möglicherweise verlöre sie in bestimmten Ausgangslagen das Streikrecht. Damit wäre die GDL wie andere Berufsgewerkschaften in ihrer Existenz bedroht. Die GDL hat bereits angekündigt, dass sie ein solches Gesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen würde.
Streiks in rascher Folge, Lähmung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft sollen erschwert werden. Die Diskussion hatte durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes schon vor vier Jahren an Fahrt gewonnen. Die Richter stärkten die Tarifvertrags-Vielfalt und die Konkurrenz unter großen und kleinen Gewerkschaften. Der Grundsatz „Ein Betrieb - ein Tarifvertrag“ wurde damals hinfällig.
Die Deutsche Bahn hat zwei Möglichkeiten: Zum einen kann sie der GDL ein Stück weit entgegenkommen und ihr anbieten, in Zukunft neben den Lokführern auch für Zugbegleiter und Bordgastronomen zu sprechen. Das gilt als unwahrscheinlich. Zum anderen könnte sie weiter darauf pochen, dass in Zukunft für ein und dieselbe Berufsgruppe auch nur ein Tarifvertrag existieren darf. Dann dürfte das neue Tarifeinheitsgesetz bei der Deutschen Bahn wohl bald als erstes Anwendung finden.
Doch selbst dann bleibt die GDL eine mächtige Gewerkschaft. Das Gesetz definiert Streitlösungen für den Fall einer Tarifkollision „in einem Betrieb“. Die Deutsche Bahn hat jedoch mehr als 300 Betriebe. In der Mehrheit der Gesellschaften dürfte die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) die Mehrheit der Mitglieder vertreten. In zahlreichen Betrieben ist aber auch die GDL die stärkste Gewerkschaft.
Ohnehin ist unklar, ob das Gesetz am Ende des parlamentarischen Prozesses so bleibt wie es derzeit ist. Der Bundestag muss zustimmen, doch unter den Abgeordneten befinden sich auch namhafte Kritiker des Gesetzes. Rudolf Henke ist nicht nur Mitglied des Bundestages, sondern gleichzeitig auch Präsident des Marburger Bundes. Die Ärztelobby lehnt wie die GDL das Gesetz ab. Der CDU-Politiker wird in den kommenden Wochen und Monaten alles dran setzen, das Gesetz in wesentlichen Punkten zu verändern und dafür Mitstreiter in den eigenen Reihen zu mobilisieren.
Bis Sommer 2015 könnte das Gesetz also aufgeweicht werden – für den schlimmsten Arbeitskampf aller Zeiten wäre das aber zu spät.