Lufthansa-Chef Carsten Spohr hätte wohl nie damit gerechnet, er könnte jemals einen Ansturm der Billigflieger nach Deutschland herbeisehnen. Immerhin haben die ausländischen Billigheimer wie Ryanair, Easyjet oder Norwegian seiner Traditionslinie beim Geschäft bereits stark zugesetzt. Der Druck wurde so stark, dass Spohr gezwungen war, den konzerneigenen Flugdiscounter Eurowings zu stärken.
Doch seit Sonntagnachmittag muss Spohr hoffen, dass ihm die Preisbrecher in Deutschland möglichst schnell um die Ohren fliegen. Es ist der einzige Weg für Spohr, sein bislang ehrgeizigstes Projekt zu retten: eine weitgehende Übernahme von Air Berlin.
Den Anfang dieses Aufkaufs machte Spohr am vergangenen Freitag, als er sich mit Air-Berlin-Hauptaktionär Etihad aus Abu Dhabi einigte, 38 Maschinen inklusive Besatzung anzumelden. Dabei machte er die vieldeutige Äußerung: "Wir können uns vorstellen, unsere Zusammenarbeit in der Zukunft auf andere Bereiche auszuweiten."
Und er füllte sie gleich mit Leben. Am Sonntag setzte er seinen wohl erfahrensten Manager im Bereich Low Cost in den Air-Berlin-Chefsessel: Thomas Winkelmann hat vor seinem heutigen Job als Leiter des Lufthansa-Drehkreuzes München aus der ungeliebten Germanwings die Basis für die heutige Billiglinie Eurowings geschaffen - und sich dabei gegen massive Widerstände im Konzern durchgesetzt.
In der Personalie sehen Insider einen klaren Hinweis, dass Spohr früher oder später auch den Rest von Air Berlin übernehmen will. Der ist – seit der gerade erfolgten Abspaltung des Ferienfluggeschäfts in ein Gemeinschaftsunternehmen mit der Tui und Etihad – noch 75 Jets groß, darunter bald 17 Langstreckenmaschinen.
Die Chronik von Air Berlin
Vor 38 Jahren hob der erste Air-Berlin-Flieger ab. Alles begann mit alliierten Sonderrechten zur Landung im geteilten Berlin. Nach der Wende wuchs Air Berlin zur Nummer Zwei am Himmel über Deutschland heran, doch dann folgte eine jahrelange Krise.
1978: Gründung als Chartergesellschaft durch den Ex-Pan-Am-Pilot Kim Lundgren. Erstflug am 28. April 1979 von Berlin-Tegel nach Mallorca. Die Flotte umfasst zwei Maschinen.
1991: Im April kauft der LTU-Manager Joachim Hunold die Mehrheit der Anteile. Es gibt kurz darauf 15 Flüge pro Tag. Air Berlin expandiert und stationiert zunehmend auch Flugzeuge auf Regionalflughäfen.
1998: Mit dem Mallorca Shuttle Einstieg ins Linienfluggeschäft.
Einstieg zu 25 Prozent bei der österreichischen Fluggesellschaft Niki des früheren Rennfahrers Niki Lauda.
Börsengang und Kauf der Fluggesellschaft dba.
Kauf des Ferienfliegers LTU, damit auch Interkontinentalflüge.
Air Berlin rutscht in die roten Zahlen, legt das erste Sparprogramm auf: Strecken fallen weg, Flugzeuge werden ausgemustert. Die Übernahme des Ferienfliegers Condor scheitert.
Air Berlin kündigt für 2012 den Eintritt in das Luftfahrtbündnis Oneworld an.
Hunold wirft das Handtuch, Hartmut Mehdorn übernimmt. Ein weiteres Sparprogramm soll das operative Ergebnis um 200 Millionen Euro verbessern. 18 der 170 Maschinen werden verkauft.
Die arabische Staatsairline Etihad erhöht ihren Anteil von knapp 3 auf 29,2 Prozent und stützt die Airline mit einem 255-Millionen-Dollar-Kredit. Ein neues Sparprogramm beginnt. Der Verkauf des Vielfliegerprogramms an Großaktionär Etihad bringt nur vorübergehend wieder schwarze Zahlen.
Wolfgang Prock-Schauer wird Vorstandschef und verschärft das von Mehdorn im Vorjahr aufgelegte neue Sparprogramm. Jeder zehnte Arbeitsplatz fällt weg, die Flotte schrumpft auf 142 Maschinen.
Im Februar löst Stefan Pichler den glücklosen Prock-Schauer ab. Air Berlin macht 447 Millionen Euro Verlust - so viel wie nie.
Nach einem juristischen Tauziehen kann Air Berlin den größten Teil der wichtigen Gemeinschaftsflüge mit Etihad weiter anbieten. Die Zahlen bessern sich nicht. Gespräche mit Lufthansa über einen Verkauf von Geschäftsteilen beginnen. Mit einem tiefgreifenden Umbau und der Streichung von bis zu 1200 Arbeitsplätzen will Air Berlin seine Krise überwinden.
Air Berlin bekommt einen neuen Chef. Der Lufthansa-Manager und früheren Germanwings-Chef Thomas Winkelmann wird Vorstandschef. Air Berlin führt ihren Flugbetrieb in zwei getrennten Geschäftsfeldern weiter: Langstreckenflüge und Städteverbindungen in Europa werden zusammengefasst, Urlaubsflüge unter der Marke Niki geführt. Lufthansa erklärt sich bereit, Air Berlin zu übernehmen, wenn der Großaktionär Etihad zuvor die Schulden übernähme.
Air Berlin meldet Insolvenz an. Zuvor hatte Etihad seine finanzielle Unterstützung eingestellt. Ein 150-Millionen-Euro-Kredit des Bundes soll den Flugbetrieb zunächst sichern.
Fast 40 Jahre nach dem Start der ersten Air-Berlin-Maschine in Berlin-Tegel landet am 27. Oktober 2017 um 23.45 Uhr der letzte Air-Berlin-Flieger dort. Die Zukunft der Angestellten und vieler Unternehmensteile ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss.
Das treibt die Not: „Bei dem Deal durften wir auch ein wenig in die Bücher von Air Berlin schauen. Der Anblick hat den Chef wohl beunruhigt“, vermutet ein Lufthanseat. Offenbar ist die Not größer als gedacht. Also entschied sich Spohr für eine weitergehende Übernahme und dafür, mit einem eigenen Mann an der Spitze mitsteuern zu können. Er wollte wohl nicht riskieren, dass nach einer Pleite Air Berlins deren Flugrechte unkontrolliert in die Hände von Konkurrenten wie Ryanair oder Easyjet fallen.
Den Plan hätte wohl noch Ende voriger Woche keiner in der Branche für möglich gehalten. „Dagegen sprachen kurz gesagt drei Gründe: Kredite, Kartell und Kultur“, urteilt ein hochrangiger Unternehmensberater. Was hinter diesen drei Punkten steckt:
1. Kredite: Air Berlins Horrorfinanzen
Unter rein betriebswirtschaftlichen Kriterien dürfte Air Berlin nicht mehr fliegen. Die Linie hat in den vergangenen Jahren jeweils eine Milliarde Betriebsverlust und negatives Eigenkapital angehäuft. Zudem gibt es jede Menge offene Anleihen, die sich inklusive der direkten und indirekten Finanzhilfen von Etihad auf bis zu eine Milliarde Euro summieren. Trotz der jüngsten Kapitalspritze von 300 Millionen Euro durch Etihad über den Verkauf der österreichischen Tochter Niki scheint die Zukunft der Berliner unsicher.