Für die rigiden Gewerkschaften, meint Maugis, müsse man Verständnis haben. Denn – und das ist überraschend – nicht ihre angebliche Stärke sei das Problem: „Die Gewerkschaften sind in Frankreich so schwach, dass die Arbeitnehmer oft keine andere Möglichkeit haben, als mit spektakulären Aktionen Druck zu machen.“ Nur noch fünf Prozent der Arbeiterschaft sind organisiert. In Wirklichkeit, meint Maugis, gehe es doch bei den Eskalationen nur vordergründig um Löhne oder Jobs. Eigentlich wollten die Gewerkschaften nur Augenhöhe, die Arbeiter endlich wieder gehört und mit Respekt behandelt werden. Hetzjagden wie bei Air France sind eine Antwort darauf – 34 Prozent der Stimmen für Le Pen die andere.
Strategie: Politik statt Ökonomie
Ein weiteres Treffen in Paris, wieder mit einem ehemaligen Airline-Manager. Die Umgangsformen des Herren sind distinguiert, sein Anzugstoff fein. Er ist auf der Durchreise, hat noch schnell ein paar Mitbringsel eingekauft. Nun will er über die Politik reden, in die er – natürlich – enge Verbindungen habe. Zu eng? „Wenn Sie Chef der Air France sind, dann sind Sie schon der Boss“, sagt er. Aber man dürfe den Verkehrsminister nicht vergessen, schiebt er nach. Was folgt, ist ein Musterbeispiel politischer Einflussnahme. Natürlich nicht direkt, Gott bewahre. Aber mal angenommen, die Gewerkschaften wollten höhere Löhne oder Jobgarantien und kämen beim Chef nicht weiter. Wo würden sie vorstellig? Beim Minister, am besten kurz vor einer Wahl. Und der, als größter Anteilseigner der Airline, rufe dann bei Air France an. Tage später seien die Sparpläne vom Tisch. „So können Sie immer ausgespielt werden. Die Politik mischt sich ständig ein.“
Die engen Bande zwischen Wirtschaft und Politik werden vor allem auf den Elitehochschulen geknüpft. Kaum ein Manager oder Spitzenpolitiker, der hier nicht Absolvent ist. Berüchtigt ist etwa die École nationale d’administration, kurz ENA, weil sie wie ein riesiger Krake Frankreich im Griff zu haben scheint. Ihren Absolventen sind Topjobs in Regierung, Verwaltung und Unternehmen mit Staatsbeteiligung sicher. Besonders auffällig ist in jüngster Zeit der Abschlussjahrgang 1980. Ihm entstammt nicht nur der scheidende Staatschef François Hollande, sondern auch Umweltministerin Ségolène Royal, Finanz- und Wirtschaftsminister Michel Sapin, der Generalsekretär des Präsidialamts Jean-Pierre Jouyet – und auch Jean-Marc Janaillac, der Air-France-Boss.
Entwicklung: Tradition statt Disruption
So bestimmt eine kleine Pariser Elite darüber, wo es langgeht mit dem Land und seinen großen Unternehmen. Bei der Air France etwa führt das dazu, dass das größte Plus, die Konzernschwester KLM, nicht gut genutzt wird. Werden darf. Die Linie war schon immer die modernste unter Europas Airlines, wirtschaftete effizienter. Doch statt von ihrer Tochter zu lernen, bremst das Pariser Hauptquartier. Als KLM nach einem erfolgreichen Umbau im vergangenen Jahr wachsen wollte, gab es nicht nur ein Veto aus Paris. Das Management dort wollte gar den Partner zwingen, profitable Strecken abzugeben, um den Unterschied zur Mutter nicht zu groß werden zu lassen. Auch die allzu erfolgreiche Billigtochter Transavia wurde gestutzt.
Was Macrons Sieg für Europa bedeuten könnte
Wichtig ist der Erfolg Macrons vor allem deswegen, weil sonst Marine Le Pen Staatschefin geworden wäre. Die Rechtspopulistin hatte im Wahlkampf für eine Abkehr Frankreichs von der Europäischen Union und vom Euro geworben. Ein EU-Austritt Frankreichs würde das komplette europäische Einigungsprojekt infrage stellen - vor allem vor dem Hintergrund des bevorstehenden Brexits.
Frankreich ist nach Deutschland das bevölkerungsreichste EU-Land. Zudem wird es nach dem Brexit das einzige EU-Land mit Atomwaffen und ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat sein. Auch die Wirtschaftleistung ist enorm.
Macron will sich für tiefgreifende Reformen der Union einsetzen. Die Eurozone mit 19 Ländern soll einen eigenen Haushalt, ein Parlament und einen Finanzminister bekommen. Zudem spricht er sich für europäische Mindeststandards in Bereichen wie Gesundheitsvorsorge und Arbeitslosenversicherung aus.
Macron sagt: „Ich bin ein Pro-Europäer.“ Er verteidige die europäische Idee und die europäische Politik, weil er glaube, „dass sie sehr wichtig für die französische Bevölkerung und für unser Land in Zeiten der Globalisierung sind.“
Auf absehbare Zeit gering. Vieles, was Macron fordert, wird in der EU schon seit langem diskutiert. Mangels Einigkeit gab es allerdings kaum Fortschritte. In Brüssel wird darauf gehofft, dass sich das nach dem für 2019 vorgesehenen EU-Austritt Großbritanniens ändern könnte. Macron warnt davor, sich zuviel Zeit zu lassen. Wenn in der EU alles beim Alten bleibe, drohe der „Frexit“ (Austritt Frankreichs) oder ein weiteres Erstarken der Front National.
„Ich bin überzeugt, das Emmanuel Macron ein guter Partner für Deutschland sein wird.“ Mit diesen Worten hatte Frankreichs scheidender Präsident François Hollande in der vergangenen Woche auf den möglichen Wahlsieg seines früheren Wirtschaftsministers geblickt. Das dürfte jedoch nicht heißen, dass Macron immer ein leichter Partner sein wird.
Das ist schwer zu sagen. Macron selbst sagt, er sei „weder rechts noch links.“ Im Wahlkampf bekam der frühere Sozialist deswegen sowohl von Unionspolitikern als auch von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen Unterstützung. Kanzlerin Merkel sagte jüngst mit Blick auf einen möglichen Wahlsieg Macrons: „Sein Erfolg wäre ein positives Signal für die politische Mitte, die wir ja auch hier in Deutschland stark halten wollen.“ Nachdem Merkel ihn im März im Kanzleramt empfangen hatte, sprach Macron von „großer Übereinstimmung“.
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz stellte schon einmal selbstbewusst fest: Macron als Präsident in Frankreich und „ich als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland“ würden die Reform der EU in Angriff nehmen. Für Schulz etwas misslich ist nur, dass er sich in der ersten Wahlrunde für Benoît Hamon von den französischen Sozialisten stark gemacht hatte. Der Kandidat der SPD-Schwesterpartei PS war dort mit einem deutlich linkeren Programm angetreten als Macron und klar gescheitert.
Abgesehen von der Reform der Euro-Zone vor allem in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Macron ist - wie US-Präsident Donald Trump - ein scharfer Kritiker des deutschen Exportüberschusses. Neulich sagte er: Deutschland müsse zu der Einsicht kommen, „dass seine wirtschaftliche Stärke in der jetzigen Ausprägung nicht tragbar ist“. Deutschland profitiere vom Ungleichgewicht in der Eurozone und erziele sehr hohe Handelsüberschüsse. „Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden.“
Der deutsche Exportüberschuss könnte zum Beispiel abgebaut werden, indem die Bundesregierung die Überschüsse im Bundeshaushalt nutzt, um mehr zu investieren, etwa in den Straßenbau. Zudem fordern manche Ökonomen, dass die Löhne in Deutschland stärker steigen müssten, um die Binnennachfrage zu stärken. Die Kaufkraft ließe sich auch über Steuersenkungen erhöhen.
Ebenso war es bislang in der Politik. Die Franzosen mögen keine Reformen, ist ein beliebtes Bonmot dieser Tage – aber sie lieben Revolutionen. Emmanuel Macron ist eine Revolution. 39 Jahre alt, parteilos, wirtschaftsliberal, europafreundlich. Ausgestattet mit 66 Prozent Zustimmung – aber auch mit der Bürde von vier Millionen ungültigen Stimmen und nur 75 Prozent Wahlbeteiligung.
Ob er Frankreich umkrempeln kann, hängt von den nächsten fünf Wochen ab. Dann wird die Nationalversammlung gewählt – und mit ihr Macrons Macht bestimmt. Wenn er bis dahin Brücken schlagen kann zwischen den Reformverweigerern und denen, die den Aufbruch suchen, wenn er sich von den Verstrickungen zwischen Wirtschaft und Politik nicht beeindrucken lässt in seinem Elan, hat das Land eine Chance auf echten Wandel. Wenn das nicht passiert, wenn sich Frankreichs Eliten weiter abschotten, den Verlust der eigenen Rolle in der Welt beweinen, dann könnte der ehemalige Air-France-Manager in Paris recht behalten. „Ich glaube“, sagt er zum Ende des Gesprächs, „es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder findet man nun einen kompletten Neuanfang – oder wir gehen radikal pleite.“ Der Mann spricht nicht nur von der Airline – sondern vom Land.