Macrons Reformkurs Warum Air France ein Sinnbild für Frankreichs Probleme ist

Die Krisenairline Air France ist wie ein Vorläufer für die Probleme, auf die Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron mit seinem Reformkurs stoßen wird. Dort läuft schief, was auch in Frankreich schiefläuft.

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Frankreich: Macron und Air France teilen sich das gleiche Problem. Quelle: imago images

Wenn Emmanuel Macron an die Aufgabe denkt, die da vor ihm liegt, kommen ihm zunächst einmal die ganzen schlechten Zahlen in den Sinn. Sie zeugen von Frankreichs Misere: Die Jugendarbeitslosigkeit – liegt bei mehr als 23 Prozent; das Wachstum dümpelt seit zehn Jahren bei einem Prozent, das Defizit im Außenhandel beträgt 48 Milliarden Euro. Und die Verschuldung liegt bei fast 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. 60 Prozent erlauben die Maastricht-Kriterien, da will Macron wieder hin. „Heute beginnt die Erneuerung unserer Republik“, rief er seinen Anhängern deshalb nach der Wahl am Sonntagabend zu. Es brauche nicht weniger als eine nächste französische Revolution. Der Mann liebt eben klare Ansagen.

Mit so deutlichen Botschaften (einem liberalen Wirtschaftsprogramm und klarem Europafokus) hat er gerade bei der Präsidentschaftswahl 66 Prozent der Stimmen gewonnen und Europas Angstgegnerin Marine Le Pen besiegt. Die Partner in der Europäischen Union feiern diese Wahl seitdem, als hätten sich mit ihr so ziemlich alle Probleme des Kontinents in Luft aufgelöst.

Und doch fangen Macrons Schwierigkeiten jetzt erst an.

Die größten Fluggesellschaften Europas

Denn Frankreich, das ist dieser Tage eine Nation, die gespalten ist wie nie zuvor. Eine Republik, in der das Vertrauen zwischen Bürgerlichen und Arbeiterklasse gestört ist, vielleicht gar zerrüttet. Und Macron ist, gelingt ihm bis zu den Parlamentswahlen im Juni kein kleines Wunder, angesichts der dortigen Mehrheitsverhältnisse ein Wahlsieger ohne eigene Macht.

Macron kennt die Probleme allzu gut

Wie schwer es ist, eine solche Ausgangslage in revolutionäre Politik umzusetzen, weiß Frankreichs angehender Präsident noch aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister der Regierung seines Vorgängers François Hollande. Besonders an eine Episode aus diesen Jahren wird sich Macron nun wieder erinnern; an eben jene Geschichte aus dem Spätsommer 2015, die sich im Air-France-Hauptquartier nahe Paris zutrug, ihn viele Nerven kostete. Und die ihm doch jetzt, fast zwei Jahre später, Lösungen liefern könnte für seine aktuellen Herausforderungen.

Als Xavier Broseta damals aus dem Gebäude stürmt, trägt der Personalchef von Frankreichs größter Fluglinie Air France obenherum nur noch einen Schlips. Der Oberkörper ist nackt, in seinen Augen flackert Angst. Nur mühsam hält der Gürtel die Anzughose, während Broseta auf ein Gittertor zuläuft. Ein paar Sicherheitsleute helfen dem Personalchef der Airline über den Zaun. Erst dann kann er aufatmen.

Der Topmanager war eigentlich ins Büro gekommen, um mit dem Betriebsrat ein Sparprogramm zu verhandeln: 2900 Stellen sollten wegfallen. Doch dann stürmten Hunderte Beschäftigte die Air-France-Zentrale, erzwangen den Abbruch der Sitzung – und jagten Broseta vom Hof, nachdem sie ihm das Hemd vom Leib gerissen hatten.

In jedem anderen EU-Land wäre man sich nach so einer Attacke wohl schnell einig gewesen: protestieren – okay. Hemden zerreißen und Menschen jagen aber ist eine deutliche Grenzüberschreitung. In Frankreich hingegen kritisierte man nicht die Jäger – sondern die Behörden. Als am Tag nach den Ausschreitungen einige besonders rabiate Demonstranten festgenommen wurden, kreischten die Gewerkschaften, ihre Mitglieder seien wie „Verbrecher, Drogendealer oder Waffenhändler“ abgeführt worden, und machten anschließend vor Gericht Notwehr geltend. Die Grünen beschimpften die Polizei, die Sozialisten begingen einen „Tag der Trauer“.

Nur einer fand deutliche Worte: Die Gewalt bei Air France, sagte der damalige Wirtschaftsminister Emmanuel Macron angesichts der Bilder, sei das Werk von „dummen Leuten“.

Diese Situation dürfte Macron in diesen Tagen auch deswegen wieder in den Sinn kommen, weil der Air-France-KLM-Konzern in vielerlei Hinsicht ein Spiegelbild des Landes ist, dessen Malaise Macron beheben will. Wie kein zweites Unternehmen stand Air France einst für die französische Art, Erfolg mit Savoir-vivre und Komfort zu vereinen. Eine Linie, die Kontinent und Exkolonien verband, hervorragenden Service bot, die Angestellten fürstlich entlohnte und dabei auch noch einigermaßen profitabel war.

Doch ähnlich wie das Land verlor auch die Air France an Flughöhe, je schneller die Globalisierung voranschritt. Gemessen am Ertrag jedenfalls, ist Europas nach Umsatz zweitgrößte Fluglinie inzwischen die schwächste unter den Marktführern. Während die Konkurrenz Rekorde schafft, packte der französische Konzern zuletzt nur ein Miniergebnis von 792 Millionen Euro nach Steuern. Und so lohnt es sich für Macron, eben hier nach Antworten auf die drängenden Fragen zu suchen. Allen voran dieser einen: Wie lässt sich ein so verkrustetes System aus der Krise steuern?

Eliten: Selbstbeschau statt Weltoffenheit

Vieles davon findet sich im heutigen Air-France-Konzern in der Person von Konzernchef Jean-Marc Janaillac wieder. Zu besichtigen ist das etwa beim Treffen der Luftfahrtindustrie in Brüssel im vergangenen Februar. Während die Chefs von Lufthansa, Easyjet oder British Airways angesichts wieder guter Zahlen eine perfekte Show abliefern, hat Janaillac so gar keine Rolle. Gewerkschaften und Management stemmen sich bei ihm gemeinsam gegen den Wandel, bremsen den Ausbau der Billigtochter Transavia und blockieren den Boost genannten Langstecken-Discounter.

Europas größte Billigflieger

So wirkt Janaillac, dessen Vorgänger einst Anführer in diesem erlauchten Kreis waren, als würde er nur noch der Höflichkeit halber aufs Podium gebeten. Die meisten Anwesenden jedenfalls nutzen seinen altbekannten Vortrag – zu hohe Flughafengebühren, zu wenig staatliche Hilfe – für einen Blick aufs Smartphone. Dass der 64-Jährige seinen Bericht mit leiser Stimme in stark akzentgefärbtem Englisch vorträgt, tut das Übrige.

Tatsächlich sind die mangelnden Fremdsprachenkenntnisse Janaillacs keine Ausnahme. In einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr gaben nur 35 Prozent der französischen Führungskräfte an, verhandlungssicher Englisch zu sprechen. Auf vielen Eliteuniversitäten des Landes wird noch immer vorwiegend in Französisch unterrichtet. Der Sprachfetisch geht so weit, dass, wer Englisch korrekt und womöglich auch noch fließend spricht, sich im Zweifel eines mangelnden Patriotismus verdächtig macht. Neupräsident Macron etwa musste, als er kürzlich einen Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität auf Englisch hielt, zuvor beim Botschafter Abbitte leisten – um daheim dafür doch angegriffen zu werden.

Was wie Komödie klingt, hat bittere Folgen. Zu oft endet der Horizont vieler Franzosen an der Landesgrenze. Stattdessen betrieben sie „ständige Nabelschau“, wie es ein Beobachter ausdrückt. Wie die funktioniert, lässt sich bei einem Treffen am Airport Paris-Charles-de-Gaulle erfahren, Abflugebene. In einem kleinen Café empfängt ein Manager, der bei Air France bis vor einigen Monaten zu den Topleuten gehörte. Enttäuscht ist er dann geflohen. Nun gibt er einen Bericht aus dem Innenleben des maroden Konzerns. Verkrustet sei er, ein Komplex aus den Achtzigerjahren, vor allem aber: immer nur mit dem Blick nach innen. Noch vor ein paar Jahren zählte die Airline, die einst stolz die Concorde in drei Stunden zwischen Paris und New York fliegen ließ, zu den Branchenvorreitern beim Service, führte als eine der ersten Betten in der First Class ein, machte später die Premium-Economy-Kabine populär. Seither aber tut sich wenig. „Niemand in Frankreich ist bereit, sich mit Wettbewerbern von außen zu vergleichen. Der Blick geht immer nur auf das eigene Unternehmen, das eigene Land“, sagt der Manager.

In Pariser Amtsstuben ein ähnliches Bild. Selbst in höchsten politischen Kreisen wird die angeblich „wilde Globalisierung“ oft als Grund für den wirtschaftlichen Abstieg der vergangenen Jahre genannt. In Wirklichkeit liege die Ursache für Arbeitslosigkeit und sozialen Rutsch „nicht beim internationalen Handel, sondern in der Unfähigkeit Frankreichs, sich darauf einzustellen“, kritisiert der Ökonom Sylvain Fontan. Während die direkten Nachbarn Deutschland und Spanien ihre Arbeitsmärkte flexibilisierten, das Rentenalter erhöhten und die Lohnstückkosten senkten, glaubte Frankreich an 35-Stunden-Woche, hohe Sozialabgaben und Ruhestand mit 62. Macron will das nun ändern. Die große Frage aber wird sein: Wie will er die Franzosen dabei mitnehmen? Die pflegen eher die scharfe Konfrontation zwischen verschiedenen Interessengruppen als einen echten Diskurs.

Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron

Spannungen zwischen den Piloten und dem Management gehören in der Flugbranche zum Alltag. Doch bei keiner Linie in Europa sind sie derzeit größer als bei Air France. „Auch wenn es in Frankreich zuletzt weniger Streiks gab als bei Lufthansa, ist die Lage in Frankreich schlimmer“, sagt ein hochrangiges Mitglied der deutschen Pilotenvereinigung Cockpit. „Bei uns mögen die beiden Seiten oft aneinander vorbeireden. Dort reden sie fast gar nicht miteinander.“

Es ist ein Befund, den Guy Maugis teilt. Der Mann ist als Berater von Bosch in Frankreich, vor allem aber Präsident der Deutsch-Französischen Handelskammer.

Die Franzosen mögen keine Reformen, aber sie lieben Revolutionen

Für die rigiden Gewerkschaften, meint Maugis, müsse man Verständnis haben. Denn – und das ist überraschend – nicht ihre angebliche Stärke sei das Problem: „Die Gewerkschaften sind in Frankreich so schwach, dass die Arbeitnehmer oft keine andere Möglichkeit haben, als mit spektakulären Aktionen Druck zu machen.“ Nur noch fünf Prozent der Arbeiterschaft sind organisiert. In Wirklichkeit, meint Maugis, gehe es doch bei den Eskalationen nur vordergründig um Löhne oder Jobs. Eigentlich wollten die Gewerkschaften nur Augenhöhe, die Arbeiter endlich wieder gehört und mit Respekt behandelt werden. Hetzjagden wie bei Air France sind eine Antwort darauf – 34 Prozent der Stimmen für Le Pen die andere.

Strategie: Politik statt Ökonomie

Ein weiteres Treffen in Paris, wieder mit einem ehemaligen Airline-Manager. Die Umgangsformen des Herren sind distinguiert, sein Anzugstoff fein. Er ist auf der Durchreise, hat noch schnell ein paar Mitbringsel eingekauft. Nun will er über die Politik reden, in die er – natürlich – enge Verbindungen habe. Zu eng? „Wenn Sie Chef der Air France sind, dann sind Sie schon der Boss“, sagt er. Aber man dürfe den Verkehrsminister nicht vergessen, schiebt er nach. Was folgt, ist ein Musterbeispiel politischer Einflussnahme. Natürlich nicht direkt, Gott bewahre. Aber mal angenommen, die Gewerkschaften wollten höhere Löhne oder Jobgarantien und kämen beim Chef nicht weiter. Wo würden sie vorstellig? Beim Minister, am besten kurz vor einer Wahl. Und der, als größter Anteilseigner der Airline, rufe dann bei Air France an. Tage später seien die Sparpläne vom Tisch. „So können Sie immer ausgespielt werden. Die Politik mischt sich ständig ein.“

Ende eines Arbeitskampfes: Um Aufmerksamkeit und Augenhöhe zu bekommen, neigen Frankreichs Gewerkschaften zu radikalen Aktionen. Wie 2015, als man den Air-France-Personaldirektor nach abgebrochenen Gesprächen vom Hof jagte. Quelle: Laif

Die engen Bande zwischen Wirtschaft und Politik werden vor allem auf den Elitehochschulen geknüpft. Kaum ein Manager oder Spitzenpolitiker, der hier nicht Absolvent ist. Berüchtigt ist etwa die École nationale d’administration, kurz ENA, weil sie wie ein riesiger Krake Frankreich im Griff zu haben scheint. Ihren Absolventen sind Topjobs in Regierung, Verwaltung und Unternehmen mit Staatsbeteiligung sicher. Besonders auffällig ist in jüngster Zeit der Abschlussjahrgang 1980. Ihm entstammt nicht nur der scheidende Staatschef François Hollande, sondern auch Umweltministerin Ségolène Royal, Finanz- und Wirtschaftsminister Michel Sapin, der Generalsekretär des Präsidialamts Jean-Pierre Jouyet – und auch Jean-Marc Janaillac, der Air-France-Boss.

Entwicklung: Tradition statt Disruption

So bestimmt eine kleine Pariser Elite darüber, wo es langgeht mit dem Land und seinen großen Unternehmen. Bei der Air France etwa führt das dazu, dass das größte Plus, die Konzernschwester KLM, nicht gut genutzt wird. Werden darf. Die Linie war schon immer die modernste unter Europas Airlines, wirtschaftete effizienter. Doch statt von ihrer Tochter zu lernen, bremst das Pariser Hauptquartier. Als KLM nach einem erfolgreichen Umbau im vergangenen Jahr wachsen wollte, gab es nicht nur ein Veto aus Paris. Das Management dort wollte gar den Partner zwingen, profitable Strecken abzugeben, um den Unterschied zur Mutter nicht zu groß werden zu lassen. Auch die allzu erfolgreiche Billigtochter Transavia wurde gestutzt.

Was Macrons Sieg für Europa bedeuten könnte

Ebenso war es bislang in der Politik. Die Franzosen mögen keine Reformen, ist ein beliebtes Bonmot dieser Tage – aber sie lieben Revolutionen. Emmanuel Macron ist eine Revolution. 39 Jahre alt, parteilos, wirtschaftsliberal, europafreundlich. Ausgestattet mit 66 Prozent Zustimmung – aber auch mit der Bürde von vier Millionen ungültigen Stimmen und nur 75 Prozent Wahlbeteiligung.

Ob er Frankreich umkrempeln kann, hängt von den nächsten fünf Wochen ab. Dann wird die Nationalversammlung gewählt – und mit ihr Macrons Macht bestimmt. Wenn er bis dahin Brücken schlagen kann zwischen den Reformverweigerern und denen, die den Aufbruch suchen, wenn er sich von den Verstrickungen zwischen Wirtschaft und Politik nicht beeindrucken lässt in seinem Elan, hat das Land eine Chance auf echten Wandel. Wenn das nicht passiert, wenn sich Frankreichs Eliten weiter abschotten, den Verlust der eigenen Rolle in der Welt beweinen, dann könnte der ehemalige Air-France-Manager in Paris recht behalten. „Ich glaube“, sagt er zum Ende des Gesprächs, „es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder findet man nun einen kompletten Neuanfang – oder wir gehen radikal pleite.“ Der Mann spricht nicht nur von der Airline – sondern vom Land.

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