WirtschaftsWoche: Herr Otto, angeblich hat Deutschland die erste Halbzeit der Digitalisierung bereits verloren. Schaffen wir in der zweiten Halbzeit noch ein Unentschieden?
Michael Otto: Dafür müssen große Anstrengungen unternommen werden, angefangen bei der digitalen Infrastruktur. Es muss massiv in den Breitbandausbau investiert werden. Und wir müssen Start-ups besser fördern – von der Ermutigung, sich selbstständig zu machen, über Finanzierungsfragen bis hin zum Abbau der Bürokratie. Als mein Sohn sich zum ersten Mal selbstständig gemacht hat, musste er ein Dreivierteljahr auf einen Gewerbeschein warten. Die ganze Gesellschaft muss sehr viel mehr tun, um die Gründungskultur zu stärken.
Sie stecken über Ihre Fonds E.ventures und Project-A viel Kapital in Start-ups. Könnten Sie Ihr Geld nicht sinnvoller anlegen?
Unser Investment in über 100 Beteiligungen in fünf Ländern ist gut angelegtes Geld. Wir bekommen dadurch viele Einblicke in neue Geschäftsmodelle und lernen tüchtige junge Unternehmer kennen, mit denen wir mitunter auch operativ kooperieren. So ist das Engagement mehr als ein Finanzinvestment.
Wenn Start-ups an Konzernstrukturen andocken, verlieren sie oft Schnelligkeit und Flexibilität. Wie wollen Sie das verhindern?
Sie müssen den Firmen unbedingt viel Freiraum lassen. So wie bei unserem konzerninternen Start-up Collins und dessen Modemarktplatz About You. Die Start-ups nutzen einerseits die Möglichkeiten des Konzerns, beispielsweise in der Logistik und im Einkauf. Andererseits liefern sie uns viel Input zu neuen Technologien, die Unternehmen unserer Gruppe übernehmen können. Nicht zu vergessen: Die Zusammenarbeit ist für uns auch sehr wichtig, um unsere digitale Unternehmenskultur voranzubringen.
Zur Person
Otto, 73, leitete den Versandhändler von 1981 bis 2007, heute ist er Aufsichtsratschef. Der Konzern setzte bereits ab 1995 aufs Internet und wurde zu einem der größten Onlinehändler. Die Otto Group hat heute etwa 50.000 Mitarbeiter.
Und dazu gehört es auch, dass seit einigen Wochen jeder den Chef duzen darf?
Wir haben keinen Duz-Zwang, das ist ein Angebot des Vorstands. Das Duzen ist ein wichtiges Symbol für das, worum es bei unserem Kulturwandel 4.0 geht – flache Hierarchien, hohe Transparenz und eine agilere Organisationsstruktur. Deshalb bauen wir auch die Bürolandschaften um, damit sie zu den modernen, offenen Strukturen passen. Wir wollen vom Ich zum Wir.
Das behaupten inzwischen viele Unternehmen, wie wollen Sie das erreichen?
Indem wir die Führungskräfte zum Umdenken bringen. Sie dürfen nicht mehr nur Anweisungen geben und kontrollieren. Sie müssen Ziele vorgeben, aber die Mitarbeiter so eigenständig wie möglich die Schritte dahin entwickeln lassen. Dabei müssen wir viel mehr Fehler zulassen, aus denen wir lernen und die wir dann natürlich schnell korrigieren. Dazu gehört auch, Macht und Kontrolle abzugeben.
Führungskräfte sollen freiwillig auf Macht verzichten – kann das klappen?
Selbstverständlich. Bei der hohen Geschwindigkeit des digitalen Wandels können die Chefs nicht mehr alles besser wissen.
Und das sehen alle ein?
Wir veranstalten viele Workshops und bilden zu Schwerpunktthemen Teams aus allen Konzernbereichen und Hierarchiestufen. Dort merken wir: Die obere Führungsspitze ist bereit für den Wandel, auch die Mitarbeiter an der Basis wollen mehr Freiheit und Verantwortung. Nun müssen wir das Mittelmanagement mitnehmen. Einige sind mit Begeisterung dabei, bei anderen dauert es länger. Aber natürlich ist so ein Kulturwandel ein Prozess, der viele Jahre dauert. Dazu gehört es auch, über Arbeitszeiten zu sprechen.
Das Mittelmanagement mitnehmen
Inwiefern?
Wenn junge Mitarbeiter in einem Projekt stecken, wollen sie nicht gezwungen werden, nach zehn Stunden nach Hause zu gehen. Engagierte Leute müssen länger arbeiten dürfen, wenn sie das wollen – und dafür dann zu anderen Zeiten früher Schluss machen können. Ebenso wichtig ist uns aber auch weiterhin, dass sich die Mitarbeiter nicht selbst ausbeuten.
Leidet bei so viel Lockerheit nicht das Geschäft?
Es gibt natürlich weiter definierte Ziele und Kennzahlen. Trotzdem darf das Controlling nicht ständig eingreifen und dazwischenreden. Es muss das Vertrauen in die Mannschaft haben, dass sie selbst reagiert, wenn die Zahlen nicht stimmen. Die neue Form der Führung ist auch nötig, um die Digital Natives ins Unternehmen zu bekommen und zu halten.
Die dürften mit Otto hauptsächlich antiquierte Kataloge verbinden.
So antiquiert sind die gar nicht. Immerhin nutzen diese Kataloge inzwischen auch andere, ehemals reine Onlinehändler. Aber auch bei uns hat sich deren Bedeutung gewandelt: 93 Prozent des Umsatzes bei der Einzelgesellschaft Otto erzielen wir online, nur 7 Prozent mit dem Katalog. Sie sind aber ein wichtiges Marketinginstrument und inspirieren Kunden dazu, ins Internet zu gehen, daher halten wir daran fest.
Bei Mode im Internet fällt vielen Menschen heute allerdings zuerst Zalando ein. Wollen die jungen Bewerber nicht auch eher zur Konkurrenz?
Der Bekanntheitsgrad von Otto ist immer noch höher. Und Collins mit dem Shop About You war 2015 das Onlinemodeunternehmen mit dem höchsten Wachstum in Europa. Wir respektieren die Konkurrenz, müssen uns aber nicht verstecken.
About You ist das Start-up Ihres Sohnes Benjamin. Hat er denn nach der Freiheit des Gründerlebens überhaupt noch Lust, irgendwann einen Großkonzern zu leiten?
Sie können ein Familienunternehmen aus dem Vorstand oder Aufsichtsrat heraus führen. Über diese Frage habe ich mit meinem Sohn viele Gespräche geführt. Seine Stärken liegen darin, Strategien zu entwickeln und den Wandel voranzubringen, anstatt sie im Tagesgeschäft umzusetzen. Daher kümmert er sich jetzt als gestaltender Gesellschafter aus dem Aufsichtsrat heraus um die Digitalisierung. Das begrüße ich sehr.
Ist die Ära vorbei, in der Kinder automatisch die Unternehmen der Väter weiterführten?
Eltern sollten Kinder nie in eine Position drängen. Sie müssen selbst den Willen und die Begeisterung haben, in das väterliche oder mütterliche Unternehmen zu gehen. Sonst hat es meist negative Folgen – für alle Beteiligten.
Und wenn Ihr Sohn Musiker geworden wäre?
Dann wäre das für mich auch in Ordnung gewesen. Aber ich freue mich natürlich, dass er Spaß am Unternehmertum hat.