Nachmittags an einem Feiertag in Shanghai: Gestern hat die Andy-Warhol-Ausstellung „15 Minutes Eternal“ in der Shanghai Power Station of Art eröffnet. 20 Yuan, etwa 2,50 Euro, kostet das Ticket. Die Schau umfasst 400 Exponate aus allen Schaffensperioden, darunter die berühmten Campbell’s-Dosen, die Ikonen von Marilyn Monroe und „Empire“, Warhols achtstündigen Film über das Empire State Building. Nur die Mao-Bilder fehlen. Die würden die Gefühle des chinesischen Volkes verletzen, erklärt Li Xiangyang, Direktor des Museums und selbst Künstler. Allein, das Volk ist gar nicht da. Nur vereinzelt stehen ein paar meist junge Besucher vor den Bildern des Pop-Art-Künstlers. Die eine Hälfte sind Ausländer, junge Expatriates, Studenten, Praktikanten aus Europa und den USA. Die andere Hälfte sind junge, hippe Chinesen, die große Brillen ohne Gläser tragen und Frisuren, bei denen die Haare an den Seiten ausrasiert sind. Hipster, Mittelschichtkids, die sich nach Westen orientieren.
Wang Bingxia fällt mit ihren 81 Jahren aus der Reihe. Die kleine, geradezu winzige Frau steht vor einer Campbell’s-Dose. Sie geht mindestens einmal im Monat ins Museum. „Noch in den Achtzigern gab es in Shanghai gerade mal zwei Museen, da habe ich Bücher gelesen“, sagt die Greisin.
Museen in China
gibt es in China, 390 neue Kunsthallen eröffneten allein 2011
beherbergt eine chinesische Kunsthalle im Durchschnitt
der Bevölkerung Shanghais haben Interesse an einem Museumsbesuch
Ansonsten: Leere. Dabei wäre schon das Gebäude einen Besuch wert. Es wurde 1897 als Shanghais erstes Kraftwerk in Betrieb genommen, um Strom für die ersten Straßenlaternen zu produzieren. Zur Expo 2010 wurde der Quader als Expo Pavillon of the Future wiedereröffnet. Seit Oktober 2012 dient es als Chinas erstes Museum für zeitgenössische Kunst. Es ist eines von Dutzenden Museen, die in den letzten Jahren in der Metropole eröffnet wurden. Nach der Shanghai Biennale, die im März endete, zeigt das Museum nun Warhol.
Chinas Museumslandschaft boomt. Das Land soll nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell zur Weltspitze aufschließen. So steht es im Fünfjahresplan, der 2011 verabschiedet wurde. Museen müssen her, so schnell und so viele wie möglich. Allein 2011 eröffneten 390 neue Kunsthallen. Insgesamt hat China nun über 3400 Museen – zehnmal so viele wie 1978. Viele beeindrucken mit ihrer Architektur. In Datong, in der Provinz Shaanxi, zum Beispiel soll für 500 Millionen US-Dollar ein von Norman Foster entworfenes Kulturmuseum fertiggestellt werden. In Yinchuan, Hauptstadt einer der ärmsten Provinzen des Landes, wird gerade für 280 Millionen US-Dollar das Yellow River Arts Centre gebaut. Auch abseitige Interessen werden bedient: In Peking gibt es ein Leitungswasser-Museum, ein Eunuchen-Museum, ein Panzer-Museum und eines, das ausschließlich tote Pferde zeigt, die einst einem Kaiser als Grabbeigabe geopfert wurden. Es gibt ein Währungsmuseum, ein Polizeimuseum und eines für Bienenzucht – alle in den letzten Jahren aus dem Boden gestampft.
Verordnetes Interesse
„Lokalregierungen führen einen Wettbewerb untereinander“, sagt David Ye von der Unternehmensberatung Roland Berger. „Jeder will das neueste, modernste Museum haben.“ Manche erhoffen sich von einem Museum auch einen Wertsteigerungseffekt für Immobilien in der Umgebung, anderen geht es um Prestige.
Ye ist Autor einer Studie, die sich mit dem Boom kritisch auseinandersetzt. Denn die meisten großen Ausstellungen sind leer. Viel können Chinesen mit Kunst bislang nicht anfangen: Bei einer Umfrage unter Shanghais Stadtbevölkerung gaben elf Prozent an, sie würden einen Museumsbesuch als Freizeitaktivität in Betracht ziehen.
Letztlich unterscheidet sich der Museumsboom in China nicht von anderen megalomanen Projekten. So ist in der Inneren Mongolei eine Stadt für 300.000 Menschen gebaut worden, in der gerade einmal 70.000 leben. Auch die riesigen Bahnhöfe in Provinzstädten sind meist menschenleer. Der Slogan lautet: „Erst mal bauen wir, die Leuten werden schon kommen“, sagt Mathieu Borysevicz, ein Berater für Kuratoren in Shanghai. Die Regierung setzt auf die wachsende urbane Mittelschicht des Landes. Denn erst, wenn materielle Bedürfnisse gedeckt sind, entstehe auch der Wunsch nach Bildung.
Rund 250 Millionen Menschen verdienen heute mehr als 18.000 US-Dollar im Jahr. Diese Schicht soll sich in den nächsten Jahren verdoppeln – und für Kunst interessieren. Zudem hat China im internationalen Vergleich noch immer sehr wenige Museen: Im Schnitt eines für 550.000 Einwohner. Bis zum Ende des Fünfjahresplans soll ein Museum auf 250.000 Einwohner kommen. In Tokio liegt der Wert bei eins zu 99.000. „Die Nachfrage wird wahrscheinlich entstehen, denn immer mehr Familien sehen Bildung als Wert an sich“, sagt David Ye von Roland Berger.
Ob sich das Interesse an Kunst staatlich verordnen lässt, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Für die meisten Chinesen ist ein Museumsbesuch etwas völlig Neuartiges. „Er gehört nicht zur chinesischen Kultur“, sagt Berater Borysevicz. „Für die meisten Chinesen ist Kunst ein Luxusinvestment und keine spirituelle Bereicherung.“
Museumsbesucherin Sarah Xu arbeitet selbst in einer Galerie und besucht mindestens zweimal im Monat ein Museum. Die Shanghainesin meint, die Museen täten zu wenig, um Besucher anzulocken. „In der Schule wird Kindern viel zu wenig über Kunst beigebracht“, sagt die 37-jährige Mutter. „Die Regierung sollte mehr tun, als nur billige Tickets anzubieten.“
Zudem werden die Gebäude oft mit einem Mangel an Fantasie geführt. So reiht das Glas-Museum in Shanghai Glasobjekt an Glasobjekt und ermüdet selbst den gutwilligsten Besucher. Was fehlt, ist geschultes Personal – und eine Vision. Kooperationen mit Schulklassen gibt es kaum. „Die Museen müssen da besser werden“, sagt David Ye. Der Schulunterricht konzentriere sich auf naturwissenschaftliche Fächer, eine umfassende Bildung komme zu kurz. Deswegen sei es wichtig, mit einer Ausstellung eine Geschichte zu erzählen.
Zuwachs an privaten Museen
Immerhin ist ein Trend erkennbar: Existierten 2005 nur drei private Museen, waren es 2010 schon 43. Eines davon ist das Long-Museum (oder Dragon-Museum) in Pudong, dem neuen Stadtteil Shanghais. Im Herbst 2012 eröffnete das Milliardärs-Ehepaar Wang Wei und Liu Yiqian den ästhetisch ansprechenden Bau, vor allem um ihre eigene Sammlung im Wert von mehreren Hundert Millionen US-Dollar der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Paar, das mit Investmentgeschäften reich geworden ist, zählt auch international zu den renommiertesten Kunstsammlern.
Neben temporären Ausstellungen zeigt das Long-Museum auf drei Stockwerken chinesische Kunst verschiedener Epochen: vorrevolutionäre Kunst aus der Qing- und Ming-Dynastie, Propaganda-Werke aus der Revolutionszeit und moderne Kunst. Besuchern ohne Vorbildung vermittelt das Museum allein durch seinen Aufbau einen Crashkurs in chinesischer Kunst. Einen Stock über den Mao-Gemälden ist das teuerste Objekt der Ausstellung zu bestaunen, ein Bildnis des Song-Kaisers Huizhong aus dem 12. Jahrhundert. Wang erwarb es 2009 für 9,9 Millionen US-Dollar.
Museum im Netz
Die Kunstwerke aus der Kaiserzeit müssen vor Licht geschützt werden, sie werden erst beleuchtet, wenn die Betrachter direkt davorstehen. Und weil sie bisher noch wegbleiben, schlendert man durch menschenleere, dunkle Hallen, umgeben von jahrhundertealten Meisterwerken.
Dabei macht das Long-Museum alles richtig: Es nutzt Social Media wie Weibo, die chinesische Variante von Twitter, es kooperiert mit Universitäten, und es lädt Professoren zu Vorträgen ein. Zwischen 100 und 200 Besucher hat das Long-Museum im Moment pro Tag, sagt Direktor Wang Wei. Das Ziel ist es, die Besucherzahlen auf 1000 pro Tag zu steigern. Das wären immerhin 365.000 Besucher im Jahr. Zum Vergleich: 2010 gingen allein in Bayern 20 Millionen Menschen in ein Museum. Noch dieses Jahr will das Paar ein zweites Museum auf der anderen Flussseite eröffnen.
Ein privates Museum zu führen sei nicht leicht, sagt Direktor Huang Jian: „Wir müssen ohne Staatsgelder auskommen.“ Ein Ticket für das Long-Museum kostet immerhin 50 Yuan, knapp sechs Euro. Restriktionen seitens der Regierung seien nicht das Problem. „Wer im kulturellen Bereich arbeitet, weiß, wo die rote Linie verläuft“, sagt Huang. „Kunst hat in China die Aufgabe, den Menschen fortzubilden.“
Doch daraus ergebe sich eine paradoxe Situation, meint David Ye: „China will Kunst fördern, sie aber trotzdem einschränken. Denn auch Kunst kann das Denken beeinflussen.“ So hat Ai Weiwei, der berühmteste chinesische Künstler, in China seit Jahren Ausstellungsverbot. Einen Museumsbesuch in China empfiehlt Berater Borysevicz trotzdem: Denn das Nervigste an einem Museumsbesuch seien schließlich die anderen Besucher, und die gebe es in China nicht. Noch nicht.