O’Learys Plan für Ryanair Aus dem Aldi der Lüfte soll das Amazon des Reisens werden

Schnell, billig, rücksichtslos – mit dem Konzept hat die irische Fluglinie Ryanair die Luftfahrt revolutioniert. Nun baut Konzernchef Michael O’Leary sie zum digitalen Tourismuskaufhaus aus.

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Ryanair-Chef Michael O’Leary . Quelle: imago images

Hinter einem Fenster leuchtet Spiderman hervor, ein anderes gibt den Blick auf Lego-Figuren frei. Und wer genau hinschaut, entdeckt an den knallig bemalten Wänden schon von außen Slogans wie „Nur wenn’s unlogisch, überzogen und wahnsinnig ist, ist es unsere Zeit wert“. Bonbonfarben geht es auch im Foyer des fünfstöckigen Zweckbaus neben dem Flughafen der irischen Hauptstadt Dublin zu. Auf einem riesigen Bildschirm werden mehrere Fernsehprogramme und Internetseiten angezeigt, die Wand neben der großen gelben Rutsche ziert ein Graffito, das an den Batman-Bösewicht Joker erinnert. „Willkommen im Irrenhaus“ steht da.

Das aufgekratzte Design passt nicht so recht zum Inhaber des Gebäudes. Der Verzicht auf alles Überflüssige hat Ryanair schließlich zu Europas nach Passagieren größter und profitabelster Fluglinie gemacht. Mit maximal verknapptem Service und fast bis zur Ausbeutung kurz gehaltener Angestellter treibt Konzernchef Michael O’Leary dank seiner Billigangebote die gesamte Branche seit 20 Jahren vor sich her. Konkurrenten wie Air Berlin und Alitalia kämpfen gegen die Pleite. Ryanair steigert Jahr um Jahr Umsatz und Gewinn.

Hier, inmitten des bei Start-ups abgeschauten Interieurs, setzt O’Leary zum nächsten Schritt in der Evolution an, exekutiert einen verwegenen Digitalplan, der seine Konkurrenz diesmal für immer auf Abstand halten soll. „Vergesst die alte Zeit“, scherzt der Ryanair-Chef gerne, wenn er über seine neue Strategie spricht. „Wir werden die beste Reiseseite des Internets“, verspricht O’Leary.

Das Ryanair-Rezept

Aus dem Aldi der Lüfte soll in den kommenden Jahren ein Amazon des Reisens werden. Im Herzen digital. Nach außen kundenfreundlich. Und noch ein Stückchen rücksichtloser, als es der gefürchtete Techkonzern aus Seattle ist.

Denn über Ryanair.com sollen die Kunden künftig nicht nur eigene Flüge und Umsteigeverbindungen buchen. Übernachtungen, Mietwagen und Versicherungen, Kreuzfahrten und Konzertkarten soll es hier auch alles geben. Selbst Flüge anderer Linien will O’Leary vermitteln – jedes Angebot konkret auf die Bedürfnisse des Kunden abgestimmt. Es ist der gewagteste Vorstoß in der an schrillen Manövern nicht gerade armen Unternehmensgeschichte. Gelingt aber die Verwandlung, steigt der Ire endgültig zum Schreck der gesamten Reiseindustrie auf.

Für Kooperationen ins Auge gefasst hat O’Leary bereits die irische Aer Lingus und den skandinavischen Billigflieger Norwegian. Beide haben auch Verbindungen auf der Langstrecke im Programm, die Ryanair selbst nicht anbietet. Mehr Geld soll verdient werden in einem Geschäft, das weltweit ziemlich abgewirtschaftet ist. Vorbild ist nicht mehr Lufthansa, sondern etablierte Rundumportale wie Booking.com, wo für jede Vermittlung eine Gebühr fällig wird.

So sieht es in der Ryanair-Zentrale aus
Gut gelaunt greift Ryanair-Boss Michael O'Leary mit seiner Digitaloffensive die gesamte Reisebranche an (zur Analyse ). Damit in der Zentrale des Konzerns der richtige Start-up-Geist dafür herrscht, ... Quelle: dpa Picture-Alliance
... hat O'Leary das Gebäude am Flughafen Dublin zu einer Spielwiese umgebaut. Quelle: Paulo Nunes dos Santos für WirtschaftsWoche
Das wird schon im Foyer deutlich. Die Wand neben der großen Rutsche ziert ein Graffito, das an den Batman-Bösewicht Joker erinnert. "Welcome to the Madhouse" steht daneben. "Willkommen im Irrenhaus". Quelle: Paulo Nunes dos Santos für WirtschaftsWoche
Nicht nur Batman-Anspielungen sind zu finden. Das Plakat zeigt Konzernmitarbeiter als StarWars-Helden. O'Leary gibt den Darth Vader. Quelle: Paulo Nunes dos Santos für WirtschaftsWoche
Büros und Aufenthaltsräume sind ... Quelle: Paulo Nunes dos Santos für WirtschaftsWoche
... voll mit Fototapeten. Quelle: Paulo Nunes dos Santos für WirtschaftsWoche
Quelle: Paulo Nunes dos Santos für WirtschaftsWoche

Dass es bereits zahllose Angebote im Netz gibt, schreckt in Irland niemanden ab. „Der Service wird bei uns nicht nur billiger sein als bei Wettbewerbern. Wir kennen unsere Kunden auch besser als alle Reiseanbieter und können ihre Wünsche genauer treffen“, sagt Marketingvorstand Kenny Jacobs. Es ist Jacobs, der diese auf den Nutzer fokussierte Denke in Grundzügen schon 2013 von seinem damaligen Arbeitgeber Metro mitgebracht hat. Nun wird deutlich, woran er im Heimlichen seither gearbeitet hat.

Bis 2024 sollen die Vermittlungsgebühren Umsatz und Gewinn von Ryanair um mindestens ein Drittel steigern. Die Nebengeschäfte sollen dann bis 90 Prozent der Einnahmen als Gewinn abwerfen und deutlich lukrativer sein als der Verkauf von Flugtickets, bei dem Ryanair nicht mal die branchenübliche Rendite von einem Prozent erzielt. Schon jetzt stammt das Geschäft aus dem Verkauf von Extras wie Sitzreservierungen und aufgegebenem Gepäck.

Seine neuen Partner umwirbt Ryanair mit Konditionen, die attraktiver sind als die der großen Onlineportale. „Hotels zahlen bei uns für die Vermittlung einer Buchung nur die Hälfte der rund 15 Prozent Kommission, die ihnen Booking.com heute abzieht“, sagt Jacobs.

O´Learys Angst vor Google, Facebook und Amazon

Für die Herbergen in den 207 Orten, die Ryanair derzeit in Europa und rund ums Mittelmeer anfliegt, eine erfreuliche Aussicht. Überhaupt, den Umbau lässt sich der sonst für seine Knauserigkeit bekannte O’Leary, der Kunden in der Vergangenheit schon mal drohte, für die Benutzung von Toiletten abzukassieren, laut Insidern jährlich rund 100 Millionen Euro kosten. Die fließen vor allem in den Aufbau von Datenbanken und der weiteren digitalen Infrastruktur.

Der große Angriff ist zugleich Verteidigung. O’Leary und sein Team fürchten, dass sich Datensauger wie Google oder Facebook oder Amazon selbst auf die Reisebranche stürzen. Google hat sich mit eigenen Angeboten auf das Terrain schon vorgepirscht. Die Techkonzerne haben mehr Geld – vor allem aber die relevanten Daten. Sie könnten bessere Angebote machen und gleich die profitablen Extras dazupacken. Die Fluglinien würden dann zu reinen Transportern degradiert, die nur noch einen vorgegebenen Flugplan abfliegen.

O’Leary ist deshalb nicht der Einzige, der in der Flugbranche gegen das Horrorszenario ansteuert. Fluglinien vermitteln auf ihren Seiten schon seit Jahren nebenbei Übernachtungen, Mietwagen und Reiseversicherungen. Nur, gegen Größen wie Booking.com hat sich noch keine einzige durchgesetzt. Ryanair trauen Experten den Generalangriff nun aber zu. Gerade die Verbindung aus Unverschämtheit, wie sie sonst nur rüde Start-ups wie Uber an den Tag legen, und die auf Effizienz getrimmte Firmenkultur sei entscheidend: „Ryanair macht alles eine Nummer größer und konsequenter als die Wettbewerber“, sagt etwa Markus Orth, selbstständiger Berater und bis vor Kurzem Chef von Europas Last-Minute-Marktführer L’Tur.

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Auch Björn Maul, Partner der Beratung Oliver Wyman, bescheinigt: „Ein Anbieter wie Ryanair hat alle Voraussetzungen, um auch im Reisebereich extrem erfolgreich zu sein.“

Das liegt schon an der schieren Marktmacht. Laut Umfragen ist Ryanair Europas bekannteste Reisemarke.

Mit rund 600 Millionen Besuchern besitzt das Unternehmen zudem die populärste Flugseite im Internet. „Bald dürften es eine Milliarde Besucher sein“, tönt Vorstand Jacobs. Die spielen Ryanair in der neuen Strategie geradewegs zu: Der US-Marktforscher IdeaWorksCompany hat ermittelt, dass bis zu 95 Prozent aller Urlaubssuchen im Internet mit der Auswahl des Flugs beginnen. Und während Wettbewerber viel Geld ausgeben, um Kunden über Anzeigen zu ihren Angeboten zu locken, steuern diese das Ryanair-Angebot von selbst an, da die Linie wie keine andere für Billigflieger steht. „Wir kämen nie auf die Idee, anderen einen Dollar für Werbung zu lassen“, sagt Marketingvorstand Jacobs.

Vor allem aber setzen die Iren einmal beschlossene Strategien schneller um als die Wettbewerber. Das haben sie zuletzt im Herbst 2013 gezeigt. Bei einem Vorstandstreffen in einem kargen Raum der etwas zugigen Hauptverwaltung in Dublin mussten die schlechtesten Zahlen des Unternehmens seit dem Jahr 2008 verdaut werden. Das Unternehmen hatte sich bei der Absicherung des Spritpreises verzockt, und zusätzlich blieben die Passagiere weg. Das Management verwies O’Leary darauf, dass die Konkurrenz die Kundschaft einfach besser behandele. „Hast du mal bei uns ein Ticket gebucht? Hölle“, teilte ein Vorstand seinem Chef mit. O’Leary schwieg. Dann verkündete er, dass Ryanair fortan alles besser und billiger machen werde als die Konkurrenz.

Nur ein halbes Jahr später lieferte er. Ryanair stellte im Londoner Design Museum sein Programm „Always Getting Better“ vor. Von einst gut 70 Extragebühren war nur ein Bruchteil übrig geblieben, O’Leary führte Rabatte für Familien ein und stellte obendrein eine Smartphone-App vor, mit der sich ein Flug mit drei Klicks in kaum 90 Sekunden statt der bisher üblichen fünf Minuten buchen ließ. Und dann verkündete der Chef noch, dass die Linie künftig auch Großflughäfen und nicht mehr nur Provinzpisten wie Hahn ansteuern werde. „In der Zeit hätten wir bloß eine Arbeitsgruppe installiert und eine Tagesordnung verabschiedet“, konstatiert ein führender Lufthansa-Manager.

Mit der Offensive hat Ryanair den Vorsprung der Konkurrenten nicht nur eingeholt, sondern überholt. „2013 waren sie hoffnungslos hinterher, nun sind sie auf einer Höhe mit Wettbewerbern wie Easyjet – wenn nicht gar vor ihnen“, sagt Thomas Jaeger, Chef des auf die Flugbranche spezialisierten Datendienstes Ch-Aviation. Der Wandel geht jetzt weiter, angetrieben wird er im dritten Stock der Dubliner Zentrale. Die Erneuerungsabteilung heißt natürlich Lab, hier sitzen bestenfalls 30-Jährige vor Raumteilern in leuchtendem Rot, Grün und Gelb und starren auf Bildschirme. In einem kaum 20 Quadratmeter großen Konferenzraum drängt sich rund ein Dutzend Leute um einen hohen, in Apple-Weiß gehaltenen Stehtisch. An den Wänden kleben bunte Post-it-Zettel, auf den Whiteboards stehen Schlagworte wie „Kundenerlebnis“.

Ist die Ryanair-Strategie bloß ein "PR-Gag"?

John Hurley, IT-Vorstand und jener, der als Vater des Labs gilt, führt durch die Räume. Wegen seines kräftigen Akzents aus dem südirischen Cork ist er für Besucher gelegentlich kaum zu verstehen. Auf einem Ryanair-Werbeplakat ist er im Stil der Star-Wars-Filme abgebildet. Sein langer roter Bart hat ihn wohl für das in Tierlauten redende Fabelwesen Chewbacca prädestiniert. Hurley gibt zuerst brav übliche Digitalweisheiten von sich („Perfektion stört die Produktion“). Doch als er auf Big Data zu sprechen kommt, die Datensammel-und-Auswert-Technik, mit der Google und Co. Kundenverhalten voraussagen, zeigt sich, dass Ryanair aller Digitalisierung zum Trotz eigene Wege geht – und seiner Rüpelkultur treu bleibt.

„Da nickt zwar jeder 50-jährige Vorstand andächtig, doch es kostet ein Riesengeld und bringt nichts“, posaunt Hurley. Und dann: „Big Data ist doch Wichserei.“

Seine Methode nennt Hurley lieber Small Data. Statt allein aufgrund von Daten und mithilfe von riesiger Rechenleistung neue Services zu ersinnen, analysieren Hurley und sein Team lieber kleine, fokussierte Kundendaten – und denken sich selbst passende Angebote aus. In Arbeit sind etwa Flüge für Fußballfans, abgestimmt auf die Spielpläne der bevorzugten Clubs. Mit dieser fokussierten Denke „haben wir bei jedem Versuch mehr Hintern in die Sitze unserer Flieger gebracht und Extras verkauft als mit dem Verschieben von Datenbergen“.

Umsatz der Fluggesellschaften abseits des Ticketverkaufs

Der IT-Manager hat noch zwei weitere Labs aufgemacht, eins befindet sich im polnischen Breslau, das andere in Madrid. Der Chef lässt sie gegeneinander an den gleichen Problemen arbeiten. „Das geht schneller, und jedes Lab bringt seine Stärken ein“, sagt Hurley. Die Mitarbeiter in Breslau seien gerade und korrekt, in Madrid gebe es dafür einen verspielteren Ansatz. In Dublin dominiere die „ironische konfrontative Art“.

Die ersten Ergebnisse von Hurleys vielfältigem Team können sich sehen lassen. Während Wettbewerber Easyjet beim Umsatz mit Zusatzangeboten zuletzt fast stagnierte, hat Ryanair diese Einnahmen in den vergangenen vier Jahren auf 1,8 Milliarden Dollar fast verdoppelt. Dazu beigetragen haben etwa ganze Servicepakete für Familien.

Ob den Iren langfristig im Kampf gegen die etablierten Reiseveranstalter und das Silicon Valley nicht der Atem ausgeht? Fritz Joussen, Chef des deutschen Reiseanbieters TUI, hält O’Learys Vorstoß in sein Terrain für „einen PR-Gag“. Das sei „keine ernsthafte Konkurrenz“, der Umbau der Informationstechnik, um die Ziele zu erreichen, sei selbst für Ryanair viel zu anspruchsvoll. „Anderen Unternehmen ging bei solchen Vorstößen ins Digitalmarketing nach spätestens drei Jahren die Luft aus“, sagt Andrew Lobbenberg, Analyst bei der Investmentbank HSBC.

Die unmittelbare Konkurrenz dagegen kennt die Blessuren, die einem O’Leary verpasst – und rüstet nach. Die Lufthansa-Billigtochter Eurowings etwa arbeitet an ähnlichen Konzepten. Der neue Chef Thorsten Dirks hat sein Team gerade in ein sechswöchiges Erneuerungscamp am Kölner Flughafen gerufen. Ergebnisse will der ehemalige Deutschlandchef des Mobilfunkers O2 im September vorstellen. Im Zentrum dürfte ebenfalls die Vermittlung von mehr Zusatzleistungen stehen. „Wir freuen uns über jede neue Idee, selbst wenn sie von Lufthansa stammt“, sagt dazu Vorstand Jacobs.

Die Manager können auch deshalb entspannter als der Rest sein, weil sie bei aller Innovation an ihrem strikten Kostenmanagement festhalten. Piloten und Flugbegleiter kommen auch bei Flügen im Ausland bevorzugt von irischen Agenturen, weil das Unternehmen damit Steuern und Sozialabgaben spart. Großzügigkeiten für Mitarbeiter wie bei Google gibt es keine, „selbst der Kaffee kostet so viel wie draußen am Stand“, sagt ein Exmitarbeiter.

Wie radikal das Unternehmen bei kleinsten Details weiter spart, erleben Besucher am Eingang der auf Digitalkultur aufgemotzten Lobby. Bei Facebook kommen die Tagesausweise zum Betreten der Gebäude aus dem Computer, Bildchen inklusive. Bei Ryanair füllt jeder Besucher das Dokument selbst aus, der Pförtner hilft mit einem Kugelschreiber aus. Den hat ein Mitarbeiter bei einem Kunden eingesteckt.

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