Eine Gewerkschaft hat bei Streiks in der Regel zwei Absichten. Der öffentlichkeitswirksame Arbeitskampf soll zum einen den eigenen Leuten Einigkeit und Entschlossenheit vermitteln. Zum anderen soll er dem Arbeitgeberlager zeigen, dass ihm die Beschäftigten wirtschaftlich größere Schmerzen bereiten können als eine Lohnerhöhung.
Bei dem seit nunmehr gut drei Jahren andauernden Arbeitskampf der Piloten bei der Lufthansa sorgt die Gewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) für Ersteres durch Kundgebungen. Die Flugzeugführer machen auf Transparenten und in Interviews auf ihre Not aufmerksam – auch wenn die Öffentlichkeit das immer weniger nachvollziehen kann.
Für den Druck sorgen nun auch aus Gewerkschaftskreisen geförderte Rechnungen, was die – inklusive der angekündigten Ausstände diesen Dienstag und Mittwoch – 27 Streiktage die Lufthansa bisher gekostet haben. Die Linie selbst nennt in ihren Geschäftsberichten einen Ertragsrückgang von gut 220 Millionen Euro für 2014 und 231 Millionen in 2015. Laut einer Übersicht des Versicherungsmaklers Getsurance dürfte die Zahl in diesem Jahr in vergleichbarer Höhe liegen.
Dreimal mehr als 220 Millionen Euro oder fast 700 Millionen Euro: Damit würden die Ausstände nicht nur so viel wie zehn zusätzliche Mittelstreckenjets der A320-Familie kosten. Sie wären damit für die Lufthansa teurer als das von den Piloten geforderte Gehaltsplus von 20 Prozent.
Dieses läge angesichts der knapp eine Milliarde Euro Lohnsumme für die rund 5000 Flugzeugführer bei unter 200 Millionen Euro pro Jahr. Darum, so die naheliegende Botschaft, wäre es wahrscheinlich billiger, wenn die Lufthansa ihren Piloten endlich nachgeben würde.
Das trifft aus Sicht der Piloten umso mehr zu, als sich die Lufthansa den Aufschlag derzeit gut leisten könnte. Gut 1,6 Milliarden Euro Gewinn erwartet Lufthansa in diesem Jahr. Und davon wollen die Piloten ihren Anteil. „Wofür wir ganz sicher nicht stehen ist, dass die Kapitalseite auf Kosten der Mitarbeiter immer mehr Geld einsackt“, schimpft etwa ein Pilot.
Doch diese Rechnung greift zu kurz. Am Ende kosten die Pilotenstreiks die Lufthansa unterm Strich deutlich weniger als etwa die genannten 231 Millionen für 2015. Denn hinter der im Geschäftsbericht „Ergebnisschaden“ genannten Belastung steht kein Gewinnrückgang, sondern lediglich ein geschätzter geringerer Umsatz. Der Gewinn dürfte um lediglich gut 150 Millionen Euro sinken. Das ist immer noch ein happige Summe, aber weniger als die von den Piloten geforderte Lohnrunde kostet.
Die Streikkosten für die Lufthansa setzen sich aus drei Positionen zusammen:
1. Die Lufthansa muss den Passagieren der ausgefallenen Flüge (bis zu 900 pro Tag) das bereits bezahlte Geld für die Tickets zurückerstatten. Das sind bis zu 23 Millionen Euro pro Streiktag. Die tatsächliche Last liegt freilich nur bei höchstens zwei Dritteln. Denn ein Teil der Passagiere der ausgefallenen Verbindungen wird auf andere Flüge umgebucht. Das gilt besonders für gut zahlende Geschäftsreisende und Vielflieger. Dagegen werden Touristen und Gelegenheitsreisende mit günstigen Tickets eher stehen gelassen. Außerdem sinken neben den Einnahmen auch die Ausgaben, weil auf den abgesagten Verbindungen keine Kosten für Sprit oder die Gebühren an Flughäfen und für Luftraumüberwachung anfallen.
2. Dazu kommen Nebenkosten durch die gesetzlich vorgeschriebene Betreuung am Flughafen. Den Gestrandeten stehen zwar keine Entschädigungszahlungen zu, wohl aber Übernachtungsmöglichkeiten ebenso wie Verpflegung oder Telefongespräche. Diese beiden Posten zusammen kosten die Lufthansa in 2014, 2015 und wohl auch 2016 unterm Strich jeweils bis zu gut 80 Millionen Euro Gewinn.
Immer wieder Streiks bei Lufthansa und ihren Töchtern
Flugkapitäne der Lufthansa legen mehrmals die Arbeit nieder. Von dem Premieren-Streik sind mehrere tausend Verbindungen betroffen. Am Ende erstreitet die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) ihren ersten Tarifvertrag.
Das Boden- und Kabinenpersonal der Lufthansa streikt fünf Tage lang. Mehrere hundert Flüge fallen aus. Die Gewerkschaft Verdi und das Unternehmen einigen sich am Ende auf höhere Gehälter.
Die Flugbegleiter-Gewerkschaft Ufo verursacht den bis dahin größten Ausfall an einem einzigen Streiktag in der Geschichte der Lufthansa. Rund 1000 Flüge werden gestrichen, es trifft über 100.000 Passagiere. Beide Seiten beschließen eine Schlichtung.
Ein Warnstreik des Bodenpersonals legt den Flugverkehr der Lufthansa in Deutschland fast lahm. Der Airline zufolge sind rund 150.000 Passagiere betroffen. Im Mai verabreden Verdi und der Konzern anschließend gestufte Entgelterhöhungen und einen Kündigungsschutz.
Start einer Streikserie von mittlerweile 13 Runden der Lufthansa-Piloten. Anfangs fallen rund 3800 Flüge aus. Es geht um Übergangsrenten, Gehalt, Altersvorsorge und im Hintergrund auch immer um die Billigtochter Eurowings.
Die Piloten erklären die im Mai begonnene Schlichtung für gescheitert. Drei Wochen später bieten sie Lufthansa Einsparungen von über 400 Millionen Euro an, um Job-Verlagerungen zu verhindern.
Vorerst letzte Etappe des Pilotenstreiks: 16 Stunden Ausstand auf der Langstrecke sowie am folgenden Tag auch auf den Kurz- und Mittelstrecken. Das Landesarbeitsgericht Hessen erklärt den Ausstand für unrechtmäßig, weil tariffremde Ziele verfolgt würden. Seit April 2014 sind wegen der Pilotenstreiks mehr als 8500 Flüge ausgefallen, wovon rund eine Million Passagiere betroffen waren.
Die Flugbegleiter-Gewerkschaft Ufo startet einen einwöchigen Ausstand des Lufthansa-Kabinenpersonals. Der Konflikt wird schließlich vom SPD-Politiker Matthias Platzeck geschlichtet.
Ufo ruft bei Eurowings und Germanwings das Kabinenpersonal zu einem 24-stündigen Streik auf. Der Konflikt dauert an.
Nachdem Verhandlungen über die Vergütung von rund 5400 Piloten der Kerngesellschaft Lufthansa und der Tochter Germanwings gescheitert sind, ruft die VC erneut zum Streik auf. Die Gewerkschaft fordert - über fünf Jahre - ein Plus von 22 Prozent.
3. Bleiben noch die indirekten Schäden. Weil auch nach bald 30 Arbeitsniederlegungen kein Ende absehbar ist, buchen immer mehr Kunden auch ohne angekündigte Streiks „AAL“. So kürzen Vielflieger inzwischen „Alles Außer Lufthansa“ ab. Ihre Angst, irgend-wo hängen zu bleiben, wächst mit jedem neuen Schlagabtausch zwischen den Parteien. Diese indirekten Schäden beziffert die Lufthansa auf jeweils gut 100 Millionen Euro pro Jahr. Da die abgewanderten Kunden aber auch keine Kosten für Flughafengebühren oder Bordverpflegung verursachen, schlagen davon jedoch lediglich gut 70 Millionen auf den Gewinn durch. Vorerst. „Weil die Piloten mit Ausnahme der Weihnachtstage für den Rest des Jahres streiken können, dürfte uns der Zweifel unserer Zuverlässigkeit sogar noch um einen höheren Betrag schädigen“, befürchtet ein führender Lufthanseat.
Aber auch die 150 Millionen Euro Gewinnrückgang sind noch zu hoch gegriffen. Denn der Betrag listet die Kosten nicht nur der Pilotenstreiks, sondern aller Ausstände in einem Jahr. Dazu zählen auch die Arbeitsniederlegungen von Kabinenpersonal, Flughafenmitarbeitern sowie der Fluglotsen in ganz Europa. „Die tatsächlichen Kosten der Pilotenstreiks dürften eher bei gut 100 liegen“, schätzt ein Insider.
Deshalb wird die Lufthansa nicht einknicken
So ist ein schnelles Ende in dem Konflikt nicht abzusehen. Die Piloten werden nicht nachgeben, weil sie am Ende ein ganz anderes Ziel haben als höhere Löhne: Sie wollen den Ausbau des Billiggeschäfts unter der Marke Eurowings verhindern. Und bei ihnen greift eine wichtige Bremse im Tarifkampf nicht: dass bei der Gewerkschaft das Geld knapp wird, weil die Kosten für die Ersatzzahlungen an die kämpfenden Mitglieder die Streikkasse leeren.
Die Pilotengewerkschaft sitzt nicht nur auf einem Guthaben von gut sieben Millionen Euro. Wie eine renommierte Unternehmensberatung im Auftrag der WirtschaftsWoche vorrechnete, fliegen derzeit in der Nebensaison weniger als ein Drittel der Piloten. „Die anderen haben entweder frei, warten auf Flüge oder sind im Hotel in der Ruhepause“, so der Unternehmensberater. „Damit kommt über den Gewerkschaftsbeitrag immer mehr Geld in die Kasse als der Streik kostet.“
Doch auch die Lufthansa wird der Gewerkschaft nicht allzu schnell nachgeben. Denn sie kann sich ein Gehaltsplus von 200 Millionen Euro für ihre Piloten nicht lange leisten. In der Branche stehen die Zeichen eher auf Sturm und niedrigere Gewinne.
Für die hohen Überschüsse in 2015 und 2016 sorgte auch der im Vergleich zu 2014 niedrigere Kerosinpreis. Doch wie sich jeden Tag an den Tankstellen ablesen lässt, steigen gerade die Preise. Sie liegen derzeit um gut zehn Prozent über dem Rekordtief vom vergangenen Februar.
Womit die Lufthansa ihr Geld verdient
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 32,1 Milliarden Euro
Angaben für 2015
Quelle: CAPA, Unternehmensangaben
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 16 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): 5,4 Prozent
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 4,5 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): 10,1 Prozent
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 2,1 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): 2,1 Prozent
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 1,9 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): 2,0 Prozent
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 2,4 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): 0,1 Prozent
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 5,1 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): 8,8 Prozent
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 3 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): 2,8 Prozent
Umsatz (inklusive interner Umsätze): 2,5 Milliarden Euro
Gewinnmarge (Ebit): -15,2 Prozent
Dazu drückt der immer stärkere Wettbewerb durch Billigflieger und die Airlines vom persischen Golf auf die Einnahmen. „Ich habe noch nie so niedrige Preise gesehen wie heute“, klagte etwa Tim Clark, Chef von Emirates in der vorigen Woche.
Außerdem würde ein großes Entgegenkommen gegenüber den Flugzeugführern die Unruhe im Konzern nicht beenden. Zuerst wären die anderen Beschäftigten in der Verwaltung und im Flugbetrieb sauer. Sie haben Gehaltsabstriche hingenommen und Tarifverträgen mit anstrengenderen Arbeitsbedingungen zugestimmt, damit die Lufthansa-Billigtochter Eurowings eine Chance gegen Konkurrenten wie Ryanair hat.
Welche Rechte Fluggäste bei Streik haben
Die Verbraucherzentrale NRW erklärt, welche Rechte betroffene Fluggäste haben.
Die Airline muss laut EU-Verordnung einen Ersatzflug zum nächstmöglichen Zeitpunkt anbieten. Alternativ können Fluggäste bei Annullierung des Flugs vom Luftbeförderungsvertrag zurücktreten und sich den Flugpreis erstatten lassen.
Bei Ausgleichszahlungen ist die Lage strittig. Nach bislang überwiegender Ansicht gelten Streiks als "außergewöhnliche Umstände", und dann braucht die Fluggesellschaft nicht zu zahlen.
Findet der Flug verspätet statt, sichert die europäische Fluggastrechte-Verordnung folgende Rechte zu: Anspruch auf kostenlose Betreuung besteht ab zwei Stunden Verzögerung bei Kurzstrecken (bis 1500 km), ab drei Stunden bei Mittelstrecken (bis 3500 km) und ab vier Stunden bei Langstrecken. Die Airline muss dann für Mahlzeiten, Erfrischungen, zwei Telefongespräche, Telexe, Faxe oder E-Mails sowie eventuell notwendige Hotelübernachtungen (falls sich der Flug um einen Tag verschiebt) samt Transfer sorgen.
Wollen die Fluggäste die Reise bei einer mehr als fünfstündigen Verspätung nicht mehr antreten, können sie ihr Geld zurückverlangen.
Der Reiseveranstalter ist der erste Ansprechpartner, wenn der ausfallende Flug Teil einer Pauschalreise ist. Auch der Veranstalter hat die Pflicht, schnellstmöglich für eine Ersatzbeförderung zu sorgen.
Erst, wenn der Flieger mehr als vier Stunden verspätet ist, kann je nach Flugstrecke ein Reisemangel vorliegen. Dann können für jede weitere Verspätungsstunde fünf Prozent des Tagesreisepreises vom Veranstalter zurückverlangt werden.
Wenn durch den Streik Reiseleistungen ausgefallen sind, haben Urlauber die Möglichkeit, nach ihrer Rückkehr den Preis der Reise zu mindern.
Somit sieht sich Lufthansa-Chef Carsten Spohr gezwungen, hart zu bleiben. Zugleich muss er weitere Schritte einleiten und die Strecken im Konzern neu verteilen: weg von der Marke Lufthansa hin zu den Töchtern wie Eurowings, Swiss, Austrian und künftig der belgischen Brussels.
Das mag für Lufthansa-Piloten Sozialabbau sein. Für die Planer bei Wettbewerbern wie Easyjet oder dem British-Airways-Konzern ist dieses Portfolio-Management die in anderen Branchen übliche Vorgehensweise in einem harten Wettbewerb.