Rohe Faszination Das Geschäft mit dem Mittelalter

Ritterturniere, Romane, Rollenspiele: Warum ausgerechnet das Geschäft mit mittelalterlich inspirierten Spektakeln, Online-Spielen und Fernsehserien boomt.

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Wie der Handel profitiert

Es ist eines der riskantesten Pferderennen der Welt. Selbst Schläge mit dem Ochsenziemer aus getrocknetem Bullenpenis sind gegen die gegnerischen Equipen erlaubt. Zweimal im Jahr – am 2. Juli und am 16. August – lockt der Palio di Siena Tausende Schaulustige, die der siegreichen Contrade, einer Art Stadtteil-Mannschaft, zujubeln. Das Rennen ist eins der ältesten Sportevents der Welt, seine Wurzeln reichen zurück bis ins elfte Jahrhundert, ins tiefste Mittelalter.

Auf der Tribüne an der Piazza del Campo sitzt regelmäßig auch Ehrencontradialo Karl-Ludwig Kley, Chef des Darmstädter Pharma- und Chemiekonzerns Merck. Seit seiner Zeit als Bayer-Manager in Italien vor gut 20 Jahren ist Kley von dem mittelalterlichen Spektakel fasziniert. Wann immer möglich, reist der sonst so sachlich wirkende Manager einmal im Jahr zum Palio.

Szenenwechsel. Jeden Samstag trifft sich der Trupp Hobby-Archäologen mit Hacken und Schaufeln an einem Fleckchen Erde zwischen Heidelberg und Speyer, um die Spuren der mittelalterlichen Burg Wersau freizulegen. Mit dabei: Dirk Müller. Der Ex-Börsianer hat sich als Finanzberater und Buchautor („Cashkurs“) selbstständig gemacht. Seinen Ausgleich findet er beim Buddeln: „Meine Eltern haben mir das Interesse für Geschichte mitgegeben“, sagt Müller, der begeistert Glasfragmente oder Keramikstücke im Erdreich aufstöbert.

Die größten Mittelalterturniere in den kommenden Monaten

Armin Betz zählt ebenso zu den Mittelalterfans. Im richtigen Leben hilft der Vorstand der Personal Total AG Unternehmen wie Audi oder BMW bei der Besetzung von Führungspositionen. Doch der 49-Jährige hat noch eine andere Seite: Beim Landshuter Hochzeitszug im Gedenken an die Heirat des bayrischen Herzogs Georg mit der polnischen Königstochter Hedwig anno 1475 marschiert Betz – in Gewand und Hut, die Haare über Monate schulterlang gezüchtet – als Gesandter der Freien Reichsstadt Nürnberg mit. Alle vier Jahre findet das Traditionsfest statt, das nächste Mal 2017. „Ich war schon als Kind dabei und habe noch keinen Hochzeitszug verpasst“, schwärmt der gebürtige Landshuter.

Pferderennen, Burgen-Buddeln, wallende Gewänder – willkommen im Mittelalter. Die Epoche zwischen dem fünften und dem 15. Jahrhundert fasziniert Top-Manager, Börsianer und Berater ebenso wie IT-Nerds, Azubis und Wirtschaftsprofessoren. Indem sie in eine längst vergangene Zeit eintauchen – wie auch an den kommenden Wochenenden beim Kaltenberger Ritterturnier in Bayern, dem größten Mittelalterfest Deutschlands –, wollen die meisten Fans wenigstens für einige Stunden oder Tage ihrer durchgetakteten, digitalisierten Arbeitswelt entkommen. Die Beliebtheit der Epoche erklärt der Mainzer Literaturwissenschaftler und Mediävist Stephan Jolie mit der „Faszination des Rohen“ und der „Freude am Unkultivierten“.

Entsprechend boomt das Geschäft. Das lohnt sich vor allem für Unterhaltungskonzerne wie Universal (Musik), Bertelsmann (Medien) oder den finnischen Shootingstar Supercell (Smartphone-Spiele), die beim Kampf um Quoten, Auflagen und Abo-Zahlen vorn mitmischen. Kleinere Veranstalter von Ritterturnieren und Mittelaltermärkten backen eher kleinere Brötchen.

Sie haben derzeit Hochsaison: Zwischen Juli und Ende September ziehen in deutschen Städten und Gemeinden verstärkt Ritter in die Schlacht, bieten mittelalterliche Handwerker ihre Waren feil, schlagen Recken samt Gefolge ihre Lager auf. „Ganzjährig gibt es in Deutschland etwa 6000 Veranstaltungen rund um das Thema Mittelalter“, schätzt Claudia Beckers-Dohlen, Chefredakteurin des Mittelaltermagazins „Karfunkel“.

Dramen wie „Der Medicus“ und „Die Päpstin“ nähren als Buch und Film erfolgreich den Mythos Mittelalter. Erfolgreiche TV-Serien wie „Game of Thrones“ oder Online-Spiele wie „World of Warcraft“ nehmen Anleihen bei der eher finsteren Epoche zwischen Antike und Neuzeit.

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