Die groß angelegte Demonstration hat sich dann am Ende ausgezahlt. Rund 4000 Eisenbahner aus ganz Europa demonstrierten gestern vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, um das wichtigste Reformvorhaben der EU-Kommission für den Eisenbahnverkehr in Europa zu verhindern. Brüssel wollte die Staatskonzerne umstrukturieren, das Schienennetz mit samt seinen Bahnhöfen sollte unabhängiger werden. Mitarbeiter und Gewerkschafter befürchteten dadurch „erhebliche Nachteile". Mit 24 Bussen reisten die Beschäftigten aus Deutschland nach Frankreich.
Nun hat sich das Parlament in Straßburg mit einer Mehrheit auf die Seite der Gewerkschaften und der Deutschen Bahn gestellt. Die Abgeordneten lehnten die Forderung von EU-Verkehrskommissar Siim Kallas ab, der sich dafür stark gemacht hatte, "chinesische Mauern" zwischen Netz und Bahn-Betrieb zu errichten. Dagegen argumentierten EU-Abgeordnete der CDU, dass das Beispiel Großbritanniens die Nachteile solch einer Aufspaltung gezeigt habe.
Die Entscheidung ist ein Rückschritt auf dem Weg zu mehr Wettbewerb auf der Schiene in Europa. Unternehmen wie Hamburg-Köln-Express (HKX) oder Veolia kritisieren seit langem die intransparenten Strukturen der Netzbetreiber. Die Preise etwa in Deutschland für die Trassen- und Stationsnutzung sind für sie kaum nachvollziehbar, die Vertriebsprovisionen wirken diskriminierend und üppige Rabatte für den Bahnstrom galten lange Zeit nur für die großen Monopolisten. Selbst die Bundesnetzagentur, Wächter des Wettbewerbs auf der Schiene in Deutschland, kann angesichts fehlender Kontrollmöglichkeiten nur bedingt eingreifen. Eine stärkere Unabhängigkeit des Netzes wäre hilfreich gewesen.
Schienengüterverkehr - Planzahlen und Kennziffern
Wie die Kennziffern im Schienengüterverkehr der Deutschen Bahn von den Planzahlen abweichen (in Prozent, Werte sind gerundet)
Quelle der Werte: Deutsche Bahn
2012
Plan 2012: 121,1 Milliarden Tonnenkilometer
Ist 2012: 105,9 Milliarden Tonnenkilometer (-13 Prozent gegenüber dem Plan)
2013
Plan Januar - April 2013: 35,7 Milliarden Tonnenkilometer
Ist Januar - April 2013: 34,2 Milliarden Tonnenkilometer (- 4 Prozent) gegenüber dem Plan)
2012
Plan 2012: 5,29 Milliarden Euro
Ist 2012: 4,93 Milliarden Euro (-7 Prozent gegenüber dem Plan)
2013
Plan Januar - April 2013: 1,76 Milliarden Euro
Ist Januar - April 2013: 1,61 Milliarden Euro (-9 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 161 Millionen Euro (Ebit)
Ist 2012: 87 Millionen Euro (Ebit) (-46 Prozent gegenüber dem Plan)
...davon in Osteuropa:
2012
Plan 2012: 21 Millionen Euro (Ebit)
Ist 2012: 8 Millionen Euro (Ebit) (-62 Prozent gegenüber dem Plan)
2013
Plan Januar - April 2013: 45 Millionen Euro (Ebit)
Ist Januar - April 2013: -30 Millionen Euro (Ebit) (-166 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 58 Millionen Euro
Ist 2012: 1 Millionen Euro (-98 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 288 Millionen Euro
Ist 2012: 371 Millionen Euro (+29 Prozent gegenüber dem Plan)
Operativer freier Cash-Flow
Plan 2012: 200 Millionen Euro
Ist 2012: 31 Millionen Euro (-85 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 1,04 Milliarden Euro
Ist 2012: 1,83 Milliarden Euro (+76 Prozent gegenüber dem Plan)
Doch die Staatsbahnen wussten dies zu verhindern, obwohl de facto von einer Zerschlagung der integrierten Konzerne – wie ursprünglich geplant - schon gar nicht mehr die Rede war. Der Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments hatte das Konzept der EU-Kommission schon im Januar abgemildert. Am Ende blieben folgende Forderungen: Gewinne aus dem Schienennetz sollten wieder in das Netz zurückfließen, die Netz AG sollte auch personell unabhängiger werden und Direktvergaben wären nur noch in ganz engen Grenzen möglich gewesen. Diese Vorschläge hätten vor allem die Wettbewerber unterstützt.
Doch mit ihrem „Nein“ blockierten die EU-Parlamentarier die Liberalisierung der Eisenbahnmärkte. Gewinner sind die Eisenbahner-Gewerkschaften und die Staatsbahnen wie Deutsche Bahn, SNCF aus Frankreich oder Trenitalia in Italien. Verlierer sind die kleinen Konkurrenten – und vor allem die Kunden.
Denn die Folge der Ablehnung ist, dass sich in Europa immer weniger Unternehmen dafür interessieren werden, in den Eisenbahnmarkt einzusteigen. Der Wettbewerb im Nahverkehr funktioniert in Deutschland zwar ganz gut, auch im Güterverkehr buhlen zahlreiche Unternehmen um Kundschaft. Doch im Fernverkehr wird die Monopolstellung der Staatsbahnen zementiert. Deutsche Bahn und SNCF verfügen über einen Marktanteil von 99 Prozent.
Sinkende Preise sind nicht zu erwarten
Sinkende Preise sind daher auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Vor allem Wettbewerb schafft Preisdruck und diszipliniert die Marktführer. Als HKX auf der Strecke Hamburg-Köln 2012 mit drei täglichen Verbindungen gestartet ist, dauerte es nicht lange, als die Deutsche Bahn ihre dreckigen Intercity-Züge gegen modernisierte Wagen austauschte. In Italien, Österreich und der Tschechischen Republik haben junge Wettbewerber dafür gesorgt, dass die behäbigen Staatsbahnen Preise senkten und in die Züge investierten.
Wer argumentiert, dass diese Beispiele zeigen, dass Wettbewerb auf der Schiene bereits heute funktioniere, dem sei gesagt, dass dies allenfalls dort möglich ist, wo die Qualität der Staatsbahnen unterirdisch war. In Deutschland und Frankreich etwa ist die Qualität der Züge immerhin so gut, dass sich kaum ein Unternehmen traut, mit Milliardeninvestitionen in den Wettbewerb einzusteigen. Hinzu kommen die Wettbewerbsschranken. HKX tut sich neben hausgemachten Fehlern auch deshalb schwer im Markt, weil die Vorteile eindeutig bei der Deutschen Bahn liegen.
Die Deutsche Bahn indes freut sich über die Straßburger Entscheidung. Der Konzern begrüße das Votum der Mitglieder des Europäischen Parlaments zur Organisation von Bahnunternehmen, heißt es in einer Presseerklärung, und schiebt nach: „Gleichzeitig tragen die Beschlüsse dazu bei, die Unabhängigkeit von Schieneninfrastrukturbetreibern zu stärken, die Transparenz von Finanzflüssen in Bahnunternehmen zu verbessern und insgesamt die Regulierung zu stärken.“ Mehr Scheinheiligkeit geht nicht. Die Deutsche Bahn hat ja nicht nur in Brüssel und Straßburg gegen Trennungsvorschläge opponiert. Auch in Deutschland lobbyierte der Konzern im vergangenen Jahr erfolgreich gegen eine Novelle des Eisenbahnregulierungsgesetzes, das eine stärkere Kontrolle des Konzerns zur Folge gehabt hätte. Wie nun das Straßburger Votum Transparenz erhöhen und die Regulierung stärken soll, ist nicht erkennbar.
Es bleibt damit alles so, wie es ist. Leider. Einziger Lichtblick ist der vereinfachte Zulassungsprozess von Zügen, die über Ländergrenzen hinweg unterwegs sind. Künftig soll die Genehmigung der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) ausreichen. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass Europa auf absehbare Zeit im Fernverkehr eine weitestgehend wettbewerbsfreie Zone bleibt. Eine Situation wie im Luftverkehr mit Dutzenden Alternativen für Verbraucher auf einzelnen Strecken wird es nicht geben. Die EU-Parlamentarier in Straßburg, die sich schon so oft auf die Seite der Konsumenten geschlagen haben, haben dieses Mal eine historische Chance vertan.