Der ICE 94101 ist gerade vom Erfurter Bahnhof losgefahren, da greift Richard Lutz zum Mikrofon. Der neue Bahnchef ist eigentlich bekannt dafür, dass er großspurige Worte vermeidet, doch heute ist das anders. Zum ersten Mal fährt die Bahn mit Passagieren über die 107 Kilometer lange Neubaustrecke zwischen Erfurt in Thüringen und Ebensfeld in Bayern. 15 mal nutzt Lutz in seiner fünfminütigen Rede einen Superlativ.
Er schwärmt von dem "größten Infrastrukturprojekt" der Bahn, von den "besten und innovativsten Lösungen" der Bauingenieurskunst, von einem "Quantensprung" und einem "Riesengewinn" für die Kunden. Rundum: Auf der "Weltpremiere" würden die geladenen Journalisten Zeuge eines "Projekts von historischen Ausmaß", so Lutz.
Wahrscheinlich hat der 53-Jährige, der vor wenigen Wochen die Nachfolge von Ex-Bahnchef Rüdiger Grube antrat, noch nicht einmal übertrieben. Die Bahn verbindet die Städte Berlin und München ab Dezember dieses Jahres in teils unter vier Stunden. Mit dem Sprinter-ICE, der drei Mal pro Tag in beide Richtungen starten soll, sind es 3:55 Stunden. Die anderen ICE fahren 4:15 Stunden und nehmen dann auch Passagiere in Halle, Erfurt, Leipzig und Nürnberg auf.
Die Deutsche Bahn wird damit über Nacht die Dominanz der Lufthansa auf der Strecke auch im Geschäftsreiseverkehr brechen können. Schon heute verfüge die Bahn auf der Strecke nach Konzernangaben über einen Marktanteil von rund 20 Prozent. Doch bislang verbummeln die Züge zwischen Bundes- und Landeshauptstadt viel Zeit und brauchen rund sechs Stunden.
In Zukunft dürfte die Bahn nicht nur preissensible Kunden in den ICE locken, sondern auch Geschäftsreisende, für die eine Vier-Stunden-Fahrt akzeptabel ist. Zumal der zeitaufwändige Zubringer vom Flughafen München mit der S-Bahn in die Innenstadt heute schon viele Business-Flieger nervt. "Wir sind die eindeutig bessere Alternative", sagt Lutz.
Der Kampfansage gegen die Airlines soll irgendwann eine Verdopplung des Marktanteiles folgen, wenngleich Lutz ein konkretes Ziel nicht offiziell verkünden will. Dennoch dürfte sich die Bahn bald über ein Umsatzplus in Millionenhöhe freuen. Denn durch die neue Schnellstrecke profitieren auch andere Verbindungen. Künftig reisen Passagiere von Nürnberg nach Berlin in unter drei Stunden und sparen rund zwei Stunden Fahrtzeit. Die Strecke Leipzig-München wird in 3:15 Stunden angeboten - eine Ersparnis von mehr als anderthalb Stunden.
"Investitionsprojekt, das Schule machen wird"
Deutschland schließt damit auch ein Kapitel deutsch-deutscher Geschichte. Denn die Fertigstellung des letzten Teilstücks der so genannten "VDE 8" ist das letzte Verkehrsprojekt Deutsche Einheit. Rund zehn Milliarden Euro hat der Streckenausbau zwischen Berlin und München gekostet. Damit lag das Projekt sogar im Rahmen der letzten Kosten- und Bauzeitprognosen aus dem Jahr 2007, wenngleich die Strecke Anfang der Neunzigerjahre noch mit rund 7,5 Milliarden Euro angesetzt wurde.
Hochgeschwindigkeitszüge in anderen Ländern
In Italien konkurrieren zwei Anbieter von Schnellzügen um die Kunden. Neben der Staatsbahn Trenitalia gibt es seit 2012 auch die privaten Italo-Züge. Italo bedient mit seinen schnellen und modernen Zügen des französischen Konzerns Alstom weniger Strecken als Trenitalia, setzt aber vor allem auf Komfort und Service. So gibt es in der ersten Klasse Essen am Platz, dazu kommen Wlan und die Möglichkeit eines eigenen Unterhaltungsprogramms. Trenitalia hat vor kurzem seinen neuen Frecciarossa 1000 präsentiert, der bis zu 400 Stundenkilometer schnell fährt. Die Freccia-Züge setzen eher auf gute Verbindungen, hohe Geschwindigkeit und wenige Haltepunkte. In den Schnellzügen beider Anbieter gilt generell eine Reservierungspflicht.
In Spanien hebt das staatliche Eisenbahnunternehmen Renfe vor allem die Pünktlichkeit der mit Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 310 Stundenkilometern fahrenden Schnellzüge hervor. Ab Herbst sollen die Waggons zunächst auf der Strecke zwischen Madrid und Barcelona mit Wlan ausgestattet werden. Der Hochgeschwindigkeitszug AVE hat im Juli 1,84 Millionen Reisende transportiert und damit einen neuen Rekord aufgestellt. Mit einem Streckennetz von knapp 3150 Kilometern ist das AVE-System im europäischen Highspeed-Sektor führend. In den kommenden Jahren soll das Netz für rund zwölf Milliarden um weitere 1850 Kilometer erweitert werden. Geplant sind außerdem 30 neue Züge im Wert von 2,65 Milliarden Euro.
In Frankreich soll 2022 eine neue Generation des Hochgeschwindigkeitszugs TGV in Betrieb gehen. Das Modell wird vom Bahnkonzern SNCF und dem Siemens-Rivalen Alstom gemeinsam entwickelt. Der neue TGV soll billiger und sauberer werden und in der Anschaffung sowie im Betrieb mindestens 20 Prozent günstiger sein. Geplant ist außerdem, den Energieverbrauch um mindestens ein Viertel zu senken. Der erste TGV ging 1981 an den Start und war der Vorreiter der Hochgeschwindigkeitszüge in Europa. Er verbindet die wichtigsten Städte des Landes. Die mehr als 400 Kilometer von Paris bis Lyon schafft er mit teilweise über 300 Stundenkilometern in rund zwei Stunden.
Der wohl bekannteste Schnellzug in Großbritannien ist der Eurostar, der Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 320 Kilometern pro Stunde erreichen kann. Seit Ende 2015 ist das Modell e320 von Siemens im Einsatz und verbindet London, Paris und Brüssel. Auf der Hochgeschwindigkeitstrasse High Speed 1 (HS 1) zwischen London und dem Eurotunnel fährt aber auch der sogenannte Class 395 „Javelin“ der britischen Eisenbahngesellschaft Southeastern Railway, der 225 Stundenkilometer erreicht. Gestritten wird wegen hoher Kosten über eine Nord-Süd-Trasse (HS 2) zwischen London, Birmingham, Sheffield, Manchester und Leeds. Der Bau der Strecke soll 2017 beginnen - das Parlament hat aber bisher nur für einen Teil grünes Licht gegeben.
In Polen setzt die Staatsbahn PKP auf Schnelligkeit und Komfort. Für umgerechnet etwa sieben Milliarden Euro ließ das Unternehmen seit 2012 Schienennetz, Bahnhöfe und Züge erneuern. Zum Modernisierungsprogramm gehört etwa der Kauf der elektrischen Triebzüge ED250 Pendolino des Herstellers Alstom. Sie erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern. Für eine bequeme Reise sorgen ausziehbaren Sitze, individuelle Beleuchtung und Steckdosen an jedem Platz. Diesen Komfort in der Kategorie Express InterCity Premium (EIP) soll sich mittels Frühbucherrabatten jeder leisten können. Tickets gibt es ab umgerechnet 11 Euro. Ein Imbiss und sowie ein Getränk an Bord sind im Preis inbegriffen.
Japans derzeit schnellster Zug ist der Shinkansen. Da der Eisenbahnbetrieb auf nationaler Ebene seit den 1980er Jahren privatisiert ist, gibt es mehrere Betreiber für die Hochgeschwindigkeitszüge. Die meist befahrene Strecke zwischen Tokio und Osaka fällt unter die Zuständigkeit des Bahnunternehmens JR Tokai. Dieses verfolgt angesichts des immer heftigeren Konkurrenzkampfes mit Billigfliegern die Ziele, schneller, komfortabler und sicherer zu werden, ohne dabei die Preise zu senken. Mit einem neuen Bremssystem sollen die rund 130 Züge zudem mit einer Höchstgeschwindigkeit von 285 km pro Stunde fahren können.
Für Olaf Drescher, Leiter des Großprojekts VDE 8 gilt die Strecke sogar als "Investitionsprojekt, das Schule machen wird". Man habe nämlich nicht nur die Schnellstrecke ausgebaut, sondern auch die Knotenbahnhöfe und Zulaufstrecken. Alles werde "auf den Punkt genau" fertig. Anders als damals bei der Rhein-Main-Strecke zwischen Köln und Frankfurt, die eine Spitzengeschwindigkeit von 300 Kilometer pro Stunde erlaube, aber dann "gammelt man mit 40 nach Köln rein".
Bei aller Euphorie gibt es eine Unsicherheit. Die Neubaustrecke ist nicht nur wie eine Schneise einmal durch den Thüringer Wald gezogen, sondern sie führt teils über 600 Meter hohe Anhöhen. "Eine Hochgeschwindigkeitssrecke auf über 600 Metern, dafür gibt es keine Beispiele", sagt Drescher. Im Winter könnte das zu Problemen führen, etwa wenn eine 200 Meter lange Brücke mitten im Thüringer Wald von Schnee geräumt werden müsse. Die Bahn muss allein für solche Fälle 30 Kilometer Waldwege schneefrei halten, damit die Mitarbeiter mit Schneeräumtechnik an die Strecke kommen können.
Selbst in der Schweiz gibt es keine vergleichbaren Strecken. Dort baut man Tunnel durchs Hochgebirge. Ein 24 Kilometer langer Basistunnel durch den Thüringer Wald wäre auch "eine Alternative" gewesen, sagt Drescher. Aber das wäre wirtschaftlich nicht tragbar gewesen. Stattdessen hat die Bahn fast zwei Dutzend kleine Tunnel gebaut. Der positive Nebeneffekt: Aus Tradition habe man nach jedem fertiggestellten Tunnel gefeiert. Drescher: "Mir waren 22 Tunnelpartys lieber".