Tüv im PIP-Skandal vor EuGH Showdown in Luxemburg

Der Europäische Gerichtshof verhandelt wegen schadhafter Brustimplantate der Firma PIP über mögliche Schadensersatzansprüche gegen den Tüv Rheinland. Das Urteil könnte einen Präzedenzfall für tausende Frauen schaffen.

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125.000 Frauen trugen die Skandal-Kissen im Körper. Quelle: AFP

Köln Ihr Leidensweg hat Elisabeth Schmitt an diesem Donnerstag bis nach Luxemburg geführt – vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Hier will die 66-jährige Rentnerin für ihr Recht kämpfen. Schmitt trug seit 2008 Brustimplantate der französischen Skandalfirma „Poly Implant Prothèse“ (PIP) unter der Haut. Vier Jahre nach der Operation kam der Schock. In der Zeitung las sie vom Skandal. Statt des für Medizin zugelassenen Silikons hatte PIP billiges Industriesilikon in die Implantate gefüllt. Die Silikonkissen rissen in den Körpern zahlreicher Frauen, das Material trat aus, setzte sich in den Lymphknoten fest, schmerzte höllisch. Schmitt empfand die Kissen in ihren Brüsten als Feinde, ließ sie vorsorglich entfernen.

Als Entschädigung für Monate voller Angst und die schmerzhafte OP-Folgen verlangt sie nun Schadensersatz. Sie klagt nicht gegen PIP, die Firma ging nach Bekanntwerden des Skandals in die Insolvenz. Schmitt will den Tüv Rheinland in Regress nehmen. Der Kölner Prüfkonzern hatte die Implantate jahrelang  mit seinem Qualitätssiegel versehen.

Für den Tüv Rheinland geht es vor dem höchsten europäischen Gericht nun um mehr als einen Einzelfall. Sollte der EuGH im Sinne der Patientin entscheiden, drohen dem Überwachungsverein hunderte, wenn nicht tausende weitere Klagen. 125.000 Frauen weltweit trugen die Implantate, geschätzte 5.000 von ihnen in Deutschland. Allein Schmitts Rechtsanwältin Ruth Schultze-Zeu vertritt 237 Frauen. Krankenkassen wie die AOK Plus, Barmer GEK, HUK und IKK Classic haben die Fachanwältin für Medizinrecht mandatiert. Selbst Anfragen aus den USA und Venezuela erreichten die Berliner Anwältin.

Auf dem juristischen Prüfstand steht die europäische Richtlinie für Medizinprodukte, Nummer 93/42 EWG aus dem Jahr 1993. Denn Brustimplantate und Herzschrittmacher sind laut EU-Recht „Medizinprodukte“. Anders, als für Medikamente gibt es für Medizinprodukte keine strengen Zulassungsverfahren. Vielmehr sollen „Benannte Stellen“, Privatunternehmen wie der Tüv, das Qualitätsmanagement der Hersteller zertifizieren. Bislang legten die Prüfer das Recht so aus, dass sie lediglich die Aktenlage prüften. Ist das Qualitätsmanagement stimmig? Sind die Unterlagen komplett?

Nun sollen die europäischen Richter klären, ob die Richtlinie tatsächlich so gemeint war. Es geht um die Frage, ob die Benannten Stellen zum Schutz aller potentiellen Patienten tätig werden – und haften müssen, wenn durch sie zertifizierte Produkte die Gesundheit der Patienten gefährden. Zudem geht es um die Frage, welche konkreten Pflichten eine Benannte Stelle hat. Muss sie Geschäftsunterlagen prüfen, Stichproben der Produkte nehmen oder unangemeldete Inspektionen ausführen?

Die Geschäftsbeziehung zwischen dem Tüv Rheinland und PIP begann 1997. Später fungierte der Tüv als Benannte Stelle nach dem EU-Recht. Der Tüv kündigte sich, wie in der Branche üblich, stets frühzeitig an, ließ sich die Ordner für das Qualitätsmanagement vorlegen. Die Betrüger von PIP hatten genügend Zeit, alles für den Besuch aus Deutschland herzurichten. Die doppelte Buchführung, die Fässer mit dem zugelassenen Silikon.

Dabei lag den Kölner Prüfern bereits 2001 eine Warnung der britischen Gesundheitsbehörde MDA vor. Sie betraf zwar nicht die Silikonkissen, jedoch die biologische Sicherheit von Hydrogel-Implantaten aus dem Hause PIP. Interne Prüfdokumente belegen, dass der Tüv Rheinland im Februar 2001 daraufhin eine Sonderprüfung anberaumte, 2002 dem Qualitätsmanagement der Hydrogel-Produkte schließlich die Zertifizierung versagte. Einen Anlass für unangemeldete Kontrollen sahen sie darin jedoch offenbar nicht. Bis 2010 zertifizierten die Rheinländer das Qualitätsmanagement der Silikon-Implantate weiter.


Qualität als Druckerschwärze zwischen Aktendeckeln

Elisabeth Schmitt kam im Winter 2008 mit den Implantaten in Berührung. Ihre Mutter und Schwester waren an Brustkrebs gestorben. Der Arzt legte Schmitt nahe, sich die Brüste entfernen zu lassen. Sie trage ein erbliches Risiko in sich. Schmitt entschied sich für den Eingriff – und den Einsatz von Brustimplantaten. Der Arzt erklärte, die Implantate seien sicher, vom Tüv geprüft. Am  1. Dezember 2008, in der Klinik Ludwigshafen, wurden ihr die Kissen eingesetzt.

Der Schock kam Jahre nach der Operation. 2010 stoppten französische Behörden den Vertrieb. Bei einer Kontrolle auf dem Werksgelände von PIP hatten Beamte festgestellt, dass die Implantate nicht mit dem zugelassenen Silikon „NuSil“ befüllt wurden, sondern mit „Baysilone M 1000“, einem billigen Industriesilikon. Aufgeschreckt durch die Nachrichten, und nach dem Rat von vier Ärzten ließ sich Schmitt schließlich 2012 in der Uniklinik Heidelberg die Implantate entfernen.

Doch Schmitt wollte damit nicht abschließen. Sie klagte gegen den Tüv, der sein Siegel für die Produkte hergegeben hatte. Sie verlor vor dem Landgericht Frankenthal, unterlag beim Oberlandesgericht Zweibrücken. Die Richter folgten der Tüv-Argumentation, das Unternehmen habe sich an die Gesetze gehalten. Eine Produktprüfung sei nicht vorgesehen. Zudem sei weder bewiesen, ob Schmitts Implantate mit Industriesilikon gefüllt waren, noch, dass die Rentnerin gesundheitliche Schäden erlitten habe. Erst vor dem Bundesgerichtshof (BGH) errang Elisabeth Schmitt einen Teilerfolg. Der BGH verwies ihren Fall an den EuGH.

Der Tüv Rheinland will aus „aus Respekt vor dem Gerichtshof und aus Rücksicht auf das laufende Verfahren“ vorab keine Stellung nehmen. Nur so viel: Man sei auf einen groß angelegten Betrug hereingefallen. „Die betrügerischen Handlungen von PIP waren für Tüv Rheinland nicht erkennbar und hätten mit den Mitteln, die einer privaten Benannten Stelle von Rechts wegen zustehen, nicht aufgedeckt werden können. Der Tüv Rheinland ist hierfür nicht verantwortlich“, sagt ein Sprecher des Überwachungsvereins.

Tatsächlich brachte der Strafprozess gegen den früheren PIP-Chef Jean-Claude Mas zutage, dass der Tüv systematisch getäuscht wurde. Anfang Mai bestätigte ein französisches Gericht die vierjährige Freiheitsstrafe gegen den PIP-Gründer.

Die Fachanwältin Schultze-Zeu sieht den Tüv dennoch in der Pflicht. In ihren Augen hat die Medizinprodukte-Richtlinie eindeutig den Patientenschutz im Sinn. Laut des Gesetzes müsse alles nur erdenkliche „zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus“ unternommen werden. Benannte Stellen müssten demnach auch die richtige Anwendung von Qualitätssicherungssystemen prüfen.

Genau hier sieht die Anwältin das Versäumnis des Tüvs: „Über zehn Jahre hinweg hat der Tüv kein einziges Mal unangemeldet  stichprobenartig einzelne Brustimplantate danach untersucht, was sie enthalten, obwohl es sich um ein Medizinprodukt handelt, das der höchsten Gefahrenstufe zugeordnet wird.“ Dieses Unterlassen ist für die Juristin „ein Unterstützen des kriminellen Tuns des Herstellers“ gewesen.

Bei der Anhörung am Donnerstag werden neben der Klägerin auch der Tüv Rheinland, die Regierungen der EU-Staaten, die Kommission sowie das Parlament Stellungnahmen abgeben. Bis zu einem Urteil wird es mehrere Monate dauern. Die EU-Richter werden dann darüber zu befinden haben, ob Prüfer Verantwortung für die Gesundheit der Patienten übernehmen müssen.

Elisabeth Schmitt wird ebenfalls im Gerichtssaal sitzen. Der Rentnerin geht es um mehr als um den Schadensersatz von 40.000 Euro: Niemals soll sich wiederholen, was ihr und hunderttausenden weiteren Frauen weltweit widerfahren ist.

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