In dem Komitee, das den Mehrheitsbeschluss fällt, sitzen keine Experten, sondern Unesco-Botschafter und damit Diplomaten. Die treffen meist sehr bewerberfreundliche Entscheidungen. So hatte Icomos 2014 für 10 von 26 Bewerbungen eine Aufnahme empfohlen. 18 Bewerber wurden dann direkt aufgenommen, allen anderen wurde eine spätere Aufnahme in Aussicht gestellt. Sogar der Meeresarm von Dubai mit seiner nahezu komplett rekonstruierten „Altstadt“ in der Pufferzone darf noch hoffen.
So wächst das Erbe der Menschheit in beeindruckendem Tempo. In Italien gibt es bereits 50 Stätten. In Deutschland wären es, wenn dieses Jahr neben Naumburg auch die Hamburger Speicherstadt Erfolg hat, 41. Die Gründerväter der Welterbekonvention wollten einst höchstens 100 Stätten vermerkt sehen, bereits im vergangenen Jahr wurde die Schallmauer von 1000 durchbrochen.
„Das System weist wachsende Zeichen der politischen und bürokratischen Verknöcherung auf“, kritisiert Henry Cleere, Icomos-Berater und Dozent an der London School of Economics. Maria Böhmer, Staatsministerin im Auswärtigen Amt und Vorsitzende des Welterbekomitees, räumt ein: „Die Entscheidungen sind in den vergangenen Jahren zu stark politisiert worden.“ Sie will die anderen Mitglieder von Reformen überzeugen. „Ich schlage vor, die Zahl der Bewerbungen pro Jahr auf rund 25 zu begrenzen“, so Böhmer. „In Zukunft sollten sich Mitglieder des Komittees für die Dauer der Amtszeit mit Bewerbungen zurückhalten.“
Vielleicht ist es für solche Reformen längst zu spät, und aus der Welterbeorganisation ist ein gigantisches Nullsummenspiel geworden. Die Gelder des „Welterbefonds“ der Unesco, der dem Erhalt der Stätten in ärmeren Ländern dienen soll, geht zu 80 Prozent für die Evaluierung drauf – und verbleibt damit in der Organisation. Und Ökonom Patuelli hat nicht nur ausgerechnet, wie sich das Welterbe auf den Tourismus vor Ort auswirkt, sondern auch, ob benachbarte Regionen profitieren. Ergebnis: „In Nachbarregionen hat das Welterbe sogar einen negativen Einfluss.“ Wenn vor der Auszeichnung die Hälfte der Touristen in Nordhessen nach Kassel gefahren wäre und die andere nach Marburg, so fahren danach zwar mehr nach Kassel – aber weniger nach Marburg.
In Kassel sind solche Rechnungen weit weg. Die meisten Bewohner sind so stolz wie erstaunt, dass die Plakette diesen Boom auslöste. „Wir versuchen jetzt, die Touristen aus dem Park auch in die Stadt zu holen“, sagt Stadtvermarkterin Hüppe. Im Herbst öffnet die Grimm-Welt, ein „Museum mit Erlebniselementen“ rund um die Schriften der Gebrüder Grimm. Die sind seit 2005 „Weltdokumentenerbe“ der Unesco.