Mitten im Gespräch schaut Silvia Fischer aus dem Fenster und unterbricht ihren Satz. „Da sind schon wieder die Ersten!“, ruft sie, es klingt als würde ein Jäger in der Savanne eine Horde Gnus entdecken. Es ist Mittwochnachmittag, Mittwoch ist Wasserspiele-Tag in Kassel.
Was Fischer sieht, sind Reisebusse, Dutzende von ihnen winden sich die engen Straßen den Hang hinauf. Sie betreibt ein Hotel am Rande des Bergparks am Rande der Stadt, ein ruhiges Geschäft, eigentlich. Stammgäste, Kurgäste, ein paar Geschäftsreisende. Und alle fünf Jahre Documenta. Und sonst? „Seit die Wasserspiele im Bergpark vor zwei Jahren zum Weltkulturerbe ernannt worden sind, ist die Ruhe vorbei“, sagt sie.
Der Bergpark Wilhelmshöhe ist eine beeindruckende, aber auch ziemlich anspruchsvolle Sehenswürdigkeit. Er beginnt an der Endstation einer Straßenbahn. Aber das Highlight, die riesenhafte Herkules-Statue und ihre mechanischen Wasserspiele, befinden sich knapp 250 Höhenmeter weiter oben am Hang. Und dort gibt es nur einen kleinen Parkplatz. „Bis 2013 war das kein Problem“, erinnert sich Fischer. „Der Park wurde vor allem von den Kasselern zur Naherholung genutzt.“
Für ein Weltkulturerbe gelten andere Regeln. Das Reisemagazin des Eurotunnels etwa empfiehlt in einem Best-of Europas zwei deutsche Sehenswürdigkeiten: den Kölner Dom und den Bergpark. Chaotisch geht es auf Zufahrtsstraßen und Parkplätzen seither zu. Es sind die Wachstumsschmerzen einer Tourismusdestination.
Von solchen Schmerzen träumt Götz Ulrich. „Das ist doch wirklich ein toller Blick hier, oder?“, sagt Ulrich, Landrat in Naumburg, Sachsen-Anhalt. Eine Burganlage im Blick liegen hinter ihm Weinberge, unten im Tal die Saale. Postkartenidyll, unverstellt. Denn außer dem Landrat ist sonst keiner da. „Wenn wir Weltkulturerbe werden, bekommen wir endlich einen Platz auf der touristischen Landkarte, den wir verdienen“, spricht er sein lokalpatriotisches Stoßgebet. „Wir werden alles tun, dass es so kommt.“
Seit Freitag tritt wieder das Welterbekomitee zusammen, um weitere der ruhmreichen Titel zu vergeben. Vor 43 Jahren hat die Unesco das Prinzip Weltkulturerbe erfunden. Es ging darum, eine Liste der Weltwunder der Neuzeit zu schaffen. Und so ernannte sie die Buddha-Statuen von Bamiyan, das historische Zentrum Roms oder den Aachener Dom. Ausgewählt werden sollte nach möglichst objektiven Kriterien, unabhängig von nationalen Interessen.
Wenn das Komitee jetzt jährlich nachnominiert, geht es um anderes: Eintrittskarten in die erste Liga des internationalen Tourismus. „Gerade asiatische und amerikanische Reiseveranstalter orientieren sich sehr stark an dieser Liste, wenn sie ihre Routen planen“, sagt Roberto Patuelli, der an der Universität Bologna die Ökonomie des Welterbes erforscht. Dauerhaft steige die Besucherzahl nach der Nominierung um fünf Prozent, so seine Rechnung. Je stärker jedoch der touristische Wert der Welterbestätten zunimmt, desto mehr werden sie zu einem Spielfeld von ökonomischen Interessen und politischen Intrigen.
Begrenztes Angebot, unbegrenzte Nachfrage
In Kassel ist augenscheinlich, was der Ökonom berechnet. Die Wasserspiele sind zum Welterbe ernannt worden, weil sie noch genauso funktionieren, wie sie im 18. Jahrhundert erschaffen wurden. Oben im Park gibt es einen Speichersee, in dem sich über den Winter und Frühling Wasser sammelt.
Das wird verwendet, um per Hand das Schauspiel von Wasserfällen, Kaskaden und Fontänen zu speisen. Die Anzahl der Spektakel ist also begrenzt. „Insgesamt stehen 56 Ladungen zur Verfügung“, sagt Angelika Hüppe, Marketingchefin der Stadt. So findet das Schauspiel nur mittwochs, sonntags und an Feiertagen statt. Entsprechend konzentriert treffen auch die Besucher in Kassel ein.
Die Zahl der Gruppenführungen durch den Park hat sich in den vergangenen Jahren fast verdreifacht. Die Zahl der Übernachtungen in der Stadt ist – lokale Sondereffekte außer Acht gelassen – um gut ein Viertel gestiegen. Auch aus anderen Städten gibt es solche Zahlen. Die Zeche Zollverein in Essen besuchten rund 5000 Menschen im Jahr, bevor sie Welterbe wurde, heute kommen rund 1,5 Millionen Besucher.
Die Urlaubs-Trends 2015
Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts GfK hat die Bedeutung von Katalogen leicht abgenommen. Demnach nutzen nur noch gut ein Drittel der Urlauber Reisekataloge, um sich über Angebote zu informieren. Das Internet ist für 45 Prozent das Urlaubs-Recherche-Tool. Glaubt man einer Analyse von Google und TUI, gilt das sogar für satte 80 Prozent aller Reisebuchungen.
Ganz persönlich auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnitten - so wollen immer mehr Deutsche urlauben, so das Ergebnis der GfK-Umfrage. Demnach sind Zusatzleistungen wie der Privattransfer zum Hotel, individuelle Ausflugserlebnisse oder die Wahl zwischen verschiedenen Flugklassen für Reisende immer wichtiger und werden häufiger nachgefragt.
Auch wenn Individualität von vielen geschätzt wird, so machen es setzen die Deutschen trotzdem gerne auf eines: die All-Inclusive-Reisen. Laut GfK wuchs diese Urlaubsform weiter leicht - damit wird ein Trend der vergangenen Jahre fortgesetzt. Mittlerweile seien 24 Prozent aller Flug- und Autoreisen, die über ein Reisebüro oder einen Reiseveranstalter gebucht wurden, All-Inclusive-Reisen, so der Bericht.
Familien sind mehr unterwegs - ob mit dem Auto oder dem Flugzeug. Laut GfK ist der Familienanteil bei beiden Reisetypen, die über ein Reisebüro oder einen Reiseveranstalter gebucht wurde, überproportional gestiegen. Allein im Vergleich zur vergangenen Saison 2013/14 stieg die Zahl der Buchungen um 20 Prozent an.
Reisen im Luxussegment werden ebenfalls höher nachgefragt, so die GfK. Demnach werden besonders hohe Zuwächse bei Haushalten mit höherem Einkommen, sprich ein Haushaltsnettoeinkommen größer als 4000 Euro, mehr nachgefragt.
Doch es sind nicht allein diese Besucher, um derentwillen sich Landesfürsten und Stadtväter um den Titel so bemühen. Wer in Deutschland dieses Siegel trägt, wird von der Bundesregierung protegiert. Nationale touristische Werbekampagnen fokussieren sich auf die Welterbestätten. Und bei der Städtebauförderung werden sie bevorzugt. Als der Bund nach der Finanzkrise sein Konjunkturpaket auflegte, gab es für die Welterbestätten einen separaten Titel. 220 Millionen Euro wurden auf die 39 deutschen Sehenswürdigkeiten verteilt. So wertvoll wie der Titel inzwischen ist, so umkämpft ist er auch.
In den Hügeln an der Saale müssten sie reichlich verzagt sein. Denn objektiv betrachtet, sollten die Chancen schlecht stehen, zum Welterbe ernannt zu werden. Der Unesco-Entscheidung vorgeschaltet ist die Prüfung durch den Internationalen Rat für Denkmalpflege (Icomos). Im Frühjahr haben die Gutachter ihre Analyse zu den Denkmälern rund um Naumburg vorgelegt. Fazit: durchgefallen. Landrat Ulrich aber sagt: „Wir glauben fest daran, dass wir eine überzeugende Bewerbung vorgelegt haben, und das wollen wir der Unesco auch beweisen.“
Den Kern ihres Vorschlags bildet der Naumburger Dom, in dessen Inneren sich eine der berühmtesten Figurengruppe der Gotik befindet, darunter Uta von Naumburg, die „schönste Frau des Mittelalters“. Das allein hätte für den Titel Welterbe nicht gereicht. Zu viele gotische Sakralbauten stehen schon auf der Liste. So erweiterten die örtlichen Historiker das Konzept auf die umliegenden Flusstäler von Saale und Unstrut, in denen weitere Ortskerne, Klöster und Burgen aus der Zeit stehen. Der Kommentar von Icomos: „Einzigartig“ sei „allein die gewählte Definition, nicht aber die Stätte, mit der diese verbunden wird“.
Politik statt Profession
Doch die Entscheidung ist damit noch nicht gefallen. Eine Woche lang treffen sich die Unesco-Botschafter für ihre Jahrestagung, erst zum Schluss stimmen sie über neue Stätten ab. Genug Zeit, um aus einer wissenschaftlichen Entscheidung eine politische zu machen. „Ich werde natürlich die ganze Zeit vor Ort sein“, sagt Landrat Ulrich. Im Gepäck hat er eine Erklärung von neun Wissenschaftlern von Harvard bis zur Sorbonne, in der sie die „Einzigartigkeit der Kulturlandschaft an Saale und Unstrut“ preisen. Wie es dazu kam? „Wir haben die anerkannten Wissenschaftler eingeladen, sich vor Ort ein Bild von der Region zu machen“, sagt Ulrich. So klingt Wahlkampf nach Fifa-Manier, sagen andere.
"Vintage-look" statt wahrem Alter
In dem Komitee, das den Mehrheitsbeschluss fällt, sitzen keine Experten, sondern Unesco-Botschafter und damit Diplomaten. Die treffen meist sehr bewerberfreundliche Entscheidungen. So hatte Icomos 2014 für 10 von 26 Bewerbungen eine Aufnahme empfohlen. 18 Bewerber wurden dann direkt aufgenommen, allen anderen wurde eine spätere Aufnahme in Aussicht gestellt. Sogar der Meeresarm von Dubai mit seiner nahezu komplett rekonstruierten „Altstadt“ in der Pufferzone darf noch hoffen.
So wächst das Erbe der Menschheit in beeindruckendem Tempo. In Italien gibt es bereits 50 Stätten. In Deutschland wären es, wenn dieses Jahr neben Naumburg auch die Hamburger Speicherstadt Erfolg hat, 41. Die Gründerväter der Welterbekonvention wollten einst höchstens 100 Stätten vermerkt sehen, bereits im vergangenen Jahr wurde die Schallmauer von 1000 durchbrochen.
„Das System weist wachsende Zeichen der politischen und bürokratischen Verknöcherung auf“, kritisiert Henry Cleere, Icomos-Berater und Dozent an der London School of Economics. Maria Böhmer, Staatsministerin im Auswärtigen Amt und Vorsitzende des Welterbekomitees, räumt ein: „Die Entscheidungen sind in den vergangenen Jahren zu stark politisiert worden.“ Sie will die anderen Mitglieder von Reformen überzeugen. „Ich schlage vor, die Zahl der Bewerbungen pro Jahr auf rund 25 zu begrenzen“, so Böhmer. „In Zukunft sollten sich Mitglieder des Komittees für die Dauer der Amtszeit mit Bewerbungen zurückhalten.“
Vielleicht ist es für solche Reformen längst zu spät, und aus der Welterbeorganisation ist ein gigantisches Nullsummenspiel geworden. Die Gelder des „Welterbefonds“ der Unesco, der dem Erhalt der Stätten in ärmeren Ländern dienen soll, geht zu 80 Prozent für die Evaluierung drauf – und verbleibt damit in der Organisation. Und Ökonom Patuelli hat nicht nur ausgerechnet, wie sich das Welterbe auf den Tourismus vor Ort auswirkt, sondern auch, ob benachbarte Regionen profitieren. Ergebnis: „In Nachbarregionen hat das Welterbe sogar einen negativen Einfluss.“ Wenn vor der Auszeichnung die Hälfte der Touristen in Nordhessen nach Kassel gefahren wäre und die andere nach Marburg, so fahren danach zwar mehr nach Kassel – aber weniger nach Marburg.
In Kassel sind solche Rechnungen weit weg. Die meisten Bewohner sind so stolz wie erstaunt, dass die Plakette diesen Boom auslöste. „Wir versuchen jetzt, die Touristen aus dem Park auch in die Stadt zu holen“, sagt Stadtvermarkterin Hüppe. Im Herbst öffnet die Grimm-Welt, ein „Museum mit Erlebniselementen“ rund um die Schriften der Gebrüder Grimm. Die sind seit 2005 „Weltdokumentenerbe“ der Unesco.