Eines vorweg: Ich will auf keinen Fall die guten, alten Zeiten loben, in denen wir mit unserer alten Röhre nur drei Fernsehprogramme empfangen konnten. Mittags lief Telekolleg, nachmittags die Sesamstraße. Früher war das meiste schlechter. Aber eins war eben doch besser: Fiel bei der Fußball-WM ein Tor, dann erfuhren wir es alle in derselben Sekunde.
Das geht heute längst nicht mehr. Je nachdem, mit welcher Technik man das Fernseh-Signal empfängt, ist man ganz vorne mit dabei - oder glotzt hinterher. Das kann dann schon mal bis zu acht Sekunden ausmachen. Wir haben das kürzlich gestoppt.
Guckt man die Tagesschau, ist das wurscht. Die aufgezeichnete Wettervorhersage für morgen ist auch noch in drei Augenblicken aktuell. Aber bei einem Fußball-Spiel sind acht Sekunden eine Ära.
Acht Sekunden reichen, um eine Kurznachricht zu verschicken: "Scheiße."
Acht Sekunden reichen, um auf den Balkon zu gehen und durch die Nachbarschaft zu rufen: "Rote Karte und Elfmeter!"
Acht Sekunden reichen, um von Analog auf HD umzuschalten, um dasselbe Tor noch einmal live zu sehen. Zweimal live sehen! Das geht erst dank digitalem Fernsehen.
Aber die Nachteile der Verzögerung überwiegen. Gehen Sie mal in die Oranienstraße nach Berlin-Kreuzberg. Man hat den Eindruck: Wer als Gastronom seinen Gästen nicht einen Großbildfernseher ins Fenster stellt und ein paar Stühle auf den Gehweg, der hat sie nicht mehr alle.
Nun sitzt man dort zum Beispiel vor seinem kleinen Kreuzberger Restaurant mit einem Bier und DVB-T vor der Nase und kann das Spiel gleichzeitig noch vom Kiosk nebenan hören. Der hat einen Fernseher an Eisenketten vor die Tür gehängt und eine Bank rausgestellt. Außerdem gibt's das Spiel auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf zwei Fernsehern und zwei Leinwänden mit Beamer. In zwei oder drei dieser Etablissements gehen Bild und Ton rund sechs bis sieben Sekunden vor.
Immer wenn von drüben rüber gejubelt wird, hat man also gut sechs Sekunden, um sich ein paar Gedanken zu machen. Etwa beim Spiel Deutschland gegen Ghana.
Erstens: Wie klang der Jubel? Nach: Tor? Oder nach: fast ein Tor? Oder vielleicht war es doch eher ein anerkennendes Jauchzen über ein tolles Manöver, aber ohne Torerfolg?
Zweitens: Aus welchem Laden kommt der Jubel? Aus der deutschen Cocktailbar, aus dem von Türken betriebenen Hamburger-Laden mit Bio-Rindfleisch oder vom Mexikaner?
Drittens: Wie ticken die Gäste in dem jeweiligen Laden?
Beim Ausgleich von Miroslav Klose gegen Ghana lief das beispielsweise so:
Sekunde 1 bis 3: Sie hören Jubel, und er dröhnt brachial. Da jubeln keine Koreaner, sondern angetrunkene Hünen. Das könnten Deutsche, holländische Touristen oder, gerade noch eben so, aufgekratzte spanische Einwanderer sein. Oder afrikanische Flüchtlinge von der Mahnwache am Oranienplatz, die Zerstreuung suchen. Verdammt! Aber Afrika ist nicht gleich Afrika. Sind Afrikaner immer für Afrika?
Sekunde 4: Von wo kam der Jubel? Hinten rechts.
Sekunde 5: Sie drehen sich um: Die Jubelnden tragen DFB-Trikos. Jawoll!
Sekunde 6: Sie rufen: "Tor!"
Sekunde 7: Klose trifft!
Danach ist man sofort konditioniert. Nähert sich der Ball dem ghanaischen Tor, achten Sie nicht mehr auf das Spiel, sondern auf die Geräusche von hinten auf der anderen Straßenseite. Und Sie denken: "Jubelt! Bitte jubelt. Warum jubelt ihr nicht?"