"Diese Zeit gehört dir" - Mit dieser cleveren Werbekampagne nimmt die Bahn den Kritikern den Wind aus den Segeln. Während die Kunden darüber maulen, ihre Anschlusszüge nicht zu erwischen und wegen der Verspätungen ewig unterwegs zu sein, kontert die Bahn sinngemäß: "Stellt euch nicht so an. Es ist doch schön bei uns an Bord. Genießt doch diese Zeit ganz für euch." So gesehen bringt jeder Stellwerksschaden, jede Weichenstörung, jede abgerissene Oberleitung, jede Kupplungspanne in Hamm und jeder Defekt im Triebkopf ein Plus an Lebensqualität für jeden einzelnen Fahrgast.
Und es ist ja richtig.: In den allermeisten Fällen ist Zugfahren viel entspannender als die lange Reise mit dem Auto oder die zerhackstückte Flugreise mit Check-in, Sicherheitskontrollen, Warten am Gate, Gedrängel beim Einstiegen, fremde Hintern im Gesicht direkt nach dem Aufsetzen, Warten aufs Gepäck am Zielflughafen und Fahrerei in die Innenstadt.
Und längst nicht in jedem ICE ist es zu stickig oder zu kalt, ist die Bordküche ausgefallen oder der Schaffner mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden. Ich als Vielfahrer sage: Bahnfahren ist die schönste Form der Fortbewegung.
Leider sieht das die Deutsche Bahn offenbar anders. Für sie muss Bahnfahren nicht schön sein, sondern lukrativ. Dass sie ausrechnet in den von ihr selber ausgerufenen Zeiten von "Diese Zeit gehört dir" den Nachtzugverkehr beerdigen will, ist der Beweis: Das Bahnmanagement hat kein Bahnerblut in den Venen.
Schön und lukrativ gleichzeitig - das traut sich die Bahn beim Nachtverkehr nicht zu.
Und leidenschaftliche Bahnkunden, Umweltschützer und Verkehrsexperten rufen der Bahn entsetzt zu: "WAS MACHT IHR DENN DA??!????!?!!!"
Es gibt ein gutes Argument, den Nachtzugverkehr abzuschaffen: Kein Bock mehr.
Und es gibt gute dafür, ihn zu hegen und zu pflegen.
1. Wenn Sie First-Class-Flugreisende fragen, warum sie zigtausende Euros zusätzlich für ihren Interkontinentalflug ausgeben, dann lautet die Antwort oft: Weil ich dann entspannt und ausgeschlafen am Ziel ankomme und sofort weiterarbeiten kann. Wer im Flugzeug gut schlafen kann, spart eine Nacht im Hotel und eine Menge Zeit.
Und das Gleiche könnte für den Nachtzug gelten. Hotel und Fortbewegungsmittel in einem. Das ist so einleuchtend. Und Deutschland ist von Nord nach Süd groß genug für eine gemütliche Nachtfahrt im Hotel. Europa sowieso.
2. Eine Reise im Nachtzug ist genau das, worauf es der Bahn ankommt: die Reise als Steigerung von Lebensqualität. Der Weg als Ziel. Wenn ich herumfrage, welche Bahnreisen den Menschen besonders in Erinnerung geblieben sind, dann sind es Fahrten im Schlafwagen. Zugfahren nachts ist Bahnromantik weltweit.
Meine Schwester hat ihren heutigen Mann im Nachtzug in Vietnam kennengelernt. Bei ein paar Dosen Bier unter Freunden im Schneidersitz auf der Bettpritsche.
Ein Freund von mir schwärmt bis heute: Thailand war mir nie so nah wie nachts im Bordrestaurant unter Deckenventilatoren zwischen den letzten Nachtschwärmern kurz vorm Zähneputzen.
Bahnromantik kann doch lukrativ sein
Ich selber war vor zwei Jahren mit dem Coast Starlight von Los Angeles nach Seattle unterwegs. Nachmittags vorm Panoramafenster Strände mit Palmen, abends Dinner im Sonnenuntergang, am nächsten Morgen schneebedeckte Wälder und Berge vom Bett aus und Schluchten und Brücken bei der heißen Dusche im eigenen Zimmerchen. Unschlagbar. Unvergesslich! Nachzüge haben Charakter. Je nach Reiseroute, je nach Land. Die Deutsche Bahn könnte ihren ganz eigenen Stil erfinden. Wie es mit dem ICE auch getan hat.
3. Nachtzugfahrten: So bequem könnte es kein Reisebus. Mit Restaurant und Mondscheinbar, eigenem kleinen Badezimmer. Mal frei und groß denken: Warum nicht eine coole Cocktailbar mit Livemusik an Bord, abschließbare Miniabteile für Singles, Massageliegen zum Entspannen oder frisch an Bord gebackenen Croissants am Morgen? Es hätte seinen Preis. Aber den hat es im Hotel auch.
Stattdessen hat die Bahn die Nachtzüge vergammeln lassen, sich keine Mühe gegeben mit einem einfachen Buchungssystem, die Marken CityNightLine und den damaligen InterCityNight nicht klar geführt und erzählt nun: Nachts fährt keiner.
Das ist so, als wenn ein Supermarkt ständig verschimmelte Erdbeeren anbietet, auf ihnen sitzen bleibt und am Ende beleidigt feststellt: "Erdbeeren sind offenbar out. Wir nehmen sie aus dem Sortiment."
Jetzt will die Bahn statt der Schlafwagen mehr ICEs durch die Nacht rauschen lassen. Wer schon einmal versucht hat, in den neuen Sitzen ein Auge zuzumachen, der weiß, dass das keine Alternative zu einem Bett ist. Da knacken die Wirbel, da zerrt der Nacken. Besser schläft man im ICE-Kinderabteil in die Ecke gekauert.
Nachtzüge abschaffen ist unambitioniert. Vorher muss man den Erfolg doch erstmal richtig versuchen. Gucken Sie sich mal an, wie die Fluggesellschaften mit Liegesitzen, Privatkabinen und Gastronomie an Bord experimentieren. Weil Konkurrenz da ist. Die Bahn hat nichts Zeitgemäßes ausprobiert, weil sie einfach den Druck nicht hat. Da ist es schade, dass der eigene Spaß am Produkt Zug für die Motivation nicht ausreicht.
Liebe Bahner, nutzt den Nachtzug doch für ein großartiges europäisches Projekt und entwickelt mit unseren vielen Nachbarn ein Nachtzug-System. Gestern wurde auf parteiübergreifende Initiative von Bahnfans von Bund und EU in Berlin ein Alternativkonzept vorgestellt, wie Nachtzüge betrieben werden könnten, anstatt aufzugeben. Projektname Lunaliner. Die Idee: Das bestehende DB-Nachzugnetz muss international raffiniert verknüpft werden. Mit Umkoppeln und Verknüpfung von Waggons zu neuen Zügen an großen Knotenpunkten, während die Gäste schlummern.
Die österreichische Bahn kriegt es übrigens hin - trotz kürzerer Strecken in ihrem eigenen kleinen Land. Sie fahren international und machen 15 Prozent ihres Umsatzes im Fernverkehr nachts. Bahnromantik kann eben doch lukrativ sein. Dank Sachverstand und Bahnerherzblut.