Noch haben die Energiekonzerne sieben Jahre Zeit. Erst im Jahr 2022 soll das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz gehen. Die Kosten von sechs Jahrzehnten Kernenergie, die Deutschland dann hinter sich haben wird, sind bis dahin aber alles andere als beglichen. Milliarden Euro wird der Abriss der Meiler verschlingen.
Völlig offen ist vor allem, wo der noch jahrtausendelang strahlende Atommüll gelagert werden soll, geschweige denn, was dies kostet. Die von der Bundesregierung eingesetzte Endlagerkommission, die seit gut zwölf Monaten arbeitet und bis Ende des Jahres einen Vorschlag unterbreiten soll, ist noch nicht mal ansatzweise zu einem Ergebnis gekommen. Damit drohen die Langzeitkosten der Atom-Ära zur Zeitbombe für die Stromkonzerne zu werden, die den Abriss der Kraftwerke und die Endlagerung bezahlen müssen.
Die lange Suche nach einem Atommüllendlager
Am 11. November 1976 bringt der niedersächsische Wirtschafts- und Finanzminister Walther Leisler Kiep (CDU) laut eigenen Aufzeichnungen Gorleben ins Spiel. Zuvor waren die Salzstöcke Wahn, Lutterloh und Lichtenhorst (alle Niedersachsen) favorisiert worden.
Die niedersächsische Landesregierung unter Ernst Albrecht (CDU) beschließt, in Gorleben an der Grenze zur damaligen DDR ein nukleares Entsorgungszentrum zu gründen. Ein transparentes Auswahlverfahren fehlt - die Hoffnung ist auch, dass der arme Kreis Lüchow-Dannenberg durch Investitionen der Atomindustrie einen Aufschwung erfährt.
Tiefbohrungen beginnen, um den Salzstock auf seine Eignung als Atommüllendlager zu erkunden.
Die Bauarbeiten für das oberirdische Zwischenlager Gorleben starten. Es liegt nur einige hundert Meter entfernt vom Salzstock.
Die Erkundung des Salzstocks unter Tage beginnt. SPD und Grüne werfen der Regierung von CDU-Kanzler Helmut Kohl vor, politischen Einfluss bei der Durchsetzung von Gorleben genommen zu haben. 2010 wird dazu ein Bundestags-Untersuchungsausschuss eingerichtet.
Von massiven Protesten begleitet, trifft im oberirdischen Zwischenlager der erste Castor-Behälter mit Atommüll ein.
Nach dem Regierungswechsel richtet Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) den Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AK End) ein. Er soll Ideen für ein neues Suchverfahren entwickeln.
Im Atomkonsens vereinbart die rot-grüne Bundesregierung mit den Stromversorgern den Ausstieg aus der Kernenergie. Die Erkundung in Gorleben wird bis spätestens 2010 ausgesetzt.
Trittin legt einen Entwurf für ein Standortauswahlgesetz vor: In einem bundesweiten Verfahren sollen neben Gorleben auch andere Standorte untersucht werden. Die Neuwahl lässt den Plan scheitern.
Nach der Wahl vereinbart die große Koalition, das Problem „zügig und ergebnisorientiert“ zu lösen. Während die Union an Gorleben festhält, fordert Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) ein neues Auswahlverfahren. Es gibt keinen Fortschritt.
Norbert Röttgen (CDU), Bundesumweltminister in der seit 2009 amtierenden schwarz-gelben Bundesregierung, teilt die Aufhebung des Erkundungsstopps mit. Gorleben habe weiter „oberste Priorität“.
Am 30. Juni 2011 beschließt der Bundestag den Atomausstieg bis 2022. Über Gorleben hinaus sollen andere Endlager-Optionen geprüft werden. Bayern und Baden-Württemberg zeigen sich offen für eine neue Suche.
Bei zwei Spitzentreffen von Bund und Ländern gibt es Fortschritte. Eine Einigung scheint zum Greifen nahe.
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wird für den CDU-Spitzenkandidaten Röttgen zum Debakel. Er wird von Kanzlerin Angela Merkel entlassen. Nachfolger wird Peter Altmaier (CDU).
SPD und Grüne werfen Altmaier vor, eine Lösung zu verzögern - aber beide Parteien lähmen selbst den Prozess, weil sie uneinig sind, was den künftigen Umgang mit Gorleben betrifft.
Am 27. September 2012 weist Merkel vor dem Gorleben-Untersuchungsausschuss Vorwürfe zurück, sie habe in ihrer Zeit als Umweltministerin in den 1990er Jahren versucht, Gorleben als Endlager durchzudrücken.
Am 20. Januar 2013 gewinnt Rot-Grün die Landtagswahl in Niedersachsen, SPD und Grüne in Hannover wollen ein Aus für Gorleben durchsetzen.
Am 24. März 2013 gelingt Altmaier ein vorläufiger Durchbruch: Bis 2015 soll eine aus 24 Personen bestehende Enquetekommission Grundlagen und Vergleichskriterien für die Suche erarbeiten. Gorleben soll im Topf bleiben - Niedersachsen setzt aber auf ein rasches Ausscheiden. In einem Suchgesetz soll festgelegt werden, dass am Ende zwischen den beiden besten Optionen entschieden wird. Atommülltransporte in das Zwischenlager Gorleben soll es vorerst nicht mehr geben.
Akut wird das vermeintlich ferne Problem aber jetzt schon. Grund: Der massenhaft produzierte Ökostrom verdirbt den vier Versorgern E.On, RWE, EnBW und Vattenfall das Geschäft mit fossilen Kraftwerken. Und zwar dermaßen, dass die Zweifel wachsen, ob die Versorger noch genug Finanzkraft haben werden, um die Atomkosten begleichen zu können. E.On-Chef Johannes Teyssen spaltet die AKWs gerade in eine neue Gesellschaft namens Uniper ab, für die der Mutterkonzern nur noch fünf Jahre haften muss. RWE-Chef Peter Terium warnte unlängst, die Rückstellungen für die Atommeiler reichten nicht, wenn RWE mit der geplanten Klimaabgabe auf Braunkohleanlagen belastet werde.
Vor diesem Hintergrund arbeitet Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) fieberhaft an Eckpfeilern für eine mögliche Stiftung. Die könnte, so die Überlegung, die Rückstellungen der Konzerne für die Atomkraft sichern und gleichzeitig den Staat in die Pflicht nehmen, falls dieses Geld nicht reicht. Doch unter welchen Umständen funktioniert ein solches Modell? Wäre es gerecht? Und warum wird der Steuerzahler nicht umhinkommen, einzuspringen? Antworten auf die wichtigsten Fragen zum teuren Ende der Atom-Ära in Deutschland.
Warum ist der Staat mitverantwortlich?
Seit Inbetriebnahme des ersten kommerziellen AKWs in Deutschland im Jahr 1960 haben die Bundesregierungen alles unternommen, der Atomkraft wirtschaftlich zum Durchbruch zu verhelfen. Bis 2018 wird der Staat rund 200 Milliarden Euro an Steuergeldern in die Kernenergie gesteckt haben. Ohne dieses Geld und großzügige Haftungsbeschränkungen hätten E.On, RWE, EnBW und Vattenfall kaum in eine Technik investiert, deren Milliardenrisiken 1986 durch die Kernschmelze im ukrainischen Tschernobyl offenbar wurden. Damit wurde die Politik zu einem entscheiden Akteur der Atom-Ära.
Warum stehen zunächst einmal die Konzerne in der Verantwortung?
Jahrelange Gewinner der Atomkraft waren die großen Stromerzeuger. Die Genehmigung zum Bau der Meiler erhielten sie vom Staat unter anderem nur deshalb, weil sie sich bereit erklärten, für den Abriss der AKWs und die Endlagerung aufzukommen. Jahrelang flossen die Gewinne in teure Firmenbeteiligungen, die oft floppten. Statt in erneuerbare Energien zu investieren und sich alternative Einnahmequellen zu sichern, überredeten die Konzerne 2010 die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung, den von Rot-Grün zuvor beschlossenen Atomausstieg zu strecken. Mit dem Beschluss von Schwarz-Gelb zum Ausstieg nach dem Desaster im japanischen Fukushima 2011 erwies sich die Strategie als Fehlkalkulation.
Ausgelagerte Langzeitkosten
Warum sollten die Langzeitkosten der Atom-Ära in eine Stiftung ausgelagert werden?
Insgesamt haben die Konzerne Rückstellungen in Höhe von 36 Milliarden Euro für den Rückbau der Meiler und die Endlagerung gebildet. Doch deren Wert ist bedroht. Denn als Sicherheit dienen vor allem bei RWE nicht nur Wertpapiere und Bargeld, sondern auch fossile Kraftwerke. Der Ökostrom macht die Anlagen aber immer unwirtschaftlicher, sodass ihr Wert langfristig sinkt. Würden die zurückgestellten Euro-Beträge auf eine Stiftung übertragen, wäre das Geld gesichert. Die Wertminderung der Anlagen müssten die Konzerne dann in ihren Bilanzen selbst schultern.
Welche Modelle sind in der Diskussion?
In der Energiebranche und der Politik kursieren mehrere Varianten zur Sicherung der Rückstellungen. Die erste ist ein Fonds bei den Versorgern, wie ihn etwa der mehrheitlich staatliche französische Energiekonzern EDF unterhält. Der Fonds ähnelt einer Pensionskasse, ist gegen Insolvenz gesichert und muss das Geld nach staatlichen Vorgaben anlegen. Damit bliebe die finanzielle Verantwortung für die Atomkosten bei den Versorgern. Die zweite Variante wäre ein externer Fonds wie in Schweden, in den die Konzerne ihre Rücklagen ausgelagert haben und der von einem Treuhänder verwaltet wird. Wie in der ersten Variante sind die Konzerne auf unbestimmte Zeit allein für die Finanzierung der Atomaltlasten verantwortlich – offen bleibt aber, was passiert, wenn die Kosten der Endlagerung explodieren.
Anders wäre dies bei einer öffentlich-rechtlichen Stiftung, die sowohl die Finanzierung als auch das Management und die Verwaltung der AKW-Altlasten übernimmt. Die Rückstellungen der Energiekonzerne würden komplett in eine Stiftung ausgelagert, die den Abriss der Meiler und die Endlagerung übernimmt und finanziert.
Welches Modell hat Erfolgsaussichten?
Eine öffentlich-rechtliche Stiftung trägt einen schier unlösbaren Konflikt in sich: Die Versorger würden dem Modell nur zustimmen, wenn sie nichts nachschießen müssten, sofern das Geld vor allem für die Endlagerung nicht reicht. Die Politiker wiederum stünden als die Diener der Konzerne da, würden sie auf eine solche Nachschusspflicht verzichten und den Steuerzahlern die eigentlich von den Konzernen zu tragenden Kosten aufdrücken. Offen ist, mit welcher Summe eine Stiftung ausgestattet würde. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat angekündigt, prüfen zu wollen, wie werthaltig die Rückstellungen der Konzerne sind.
Wie könnte ein Kompromiss aussehen?
Ein Ausweg aus diesem Dilemma wäre die Aufteilung der Kosten: Für den Abriss der Meiler blieben die Versorger verantwortlich, die Endlagerung dagegen würde eine öffentlich-rechtliche Atomstiftung tragen. Dazu müssten die heutigen Rücklagen der Konzerne neu bewertet und auf Abriss und Endlagerung verteilt werden. Zahlen dazu gibt es. So rechnet das Deutsche Atomforum mit Kosten von rund 750 Millionen Euro pro Meiler. Um den Versorgern Zeit zu geben, ihre Rückstellungen bilanzschonend zu versilbern, könnte ihnen eine Frist von zehn Jahren eingeräumt werden. Bei den unkalkulierbaren Kosten der Endlagerung scheint ein Kompromiss nur möglich, wenn die Konzerne dafür eine Zahlung in die Stiftung einbringen, die über den bisher dafür vorgesehenen Rückstellungen liegt.
Suche nach einem Vorbild
Ist die Kohlestiftung ein Vorbild?
Um die Ewigkeitskosten des Steinkohlebergbaus (etwa für das Leerpumpen alter Stollen) von jährlich rund 220 Millionen Euro zu tragen, gründete der Bund 2007 die RAG-Stiftung. Deren Vermögen besteht heute zum großen Teil aus der Zwei-Drittel-Beteiligung am Essener Chemiekonzern Evonik. Doch eine Garantie für den Steuerzahler, beim Atom durch eine ähnliche Stiftung aus dem Schneider zu sein, wäre das RAG-Modell nicht. So ist die RAG-Stiftung, wie die WirtschaftsWoche aus Vorstandskreisen erfuhr, inzwischen auf dem Papier überschuldet. Grund dafür sind die extrem niedrigen Zinsen. Um die Ewigkeitskosten aus Zinseinnahmen zu stemmen, reichten die 6,6 Milliarden Euro an Vermögen bei der Gründung locker aus. Notwendig waren damals 5,5 Milliarden Euro. Wegen der niedrigen Zinsen müsste die Stiftung heute über ein Vermögen von 24 Milliarden Euro verfügen, Ende 2015 schätzungsweise sogar bis zu 30 Milliarden Euro. Tatsächlich stieg das Vermögen seit 2007 jedoch nur auf rund 16 Milliarden Euro. Damit fehlen in der Bilanz rund 14 Milliarden Euro. Wäre die RAG auf Zinsen angewiesen, müsste der Staat Milliarden nachschießen. Dass diese Rechnung zurzeit nur auf dem Papier steht, verdankt der Steuerzahler dem Umstand, dass das Vermögen der RAG-Stiftung im Wesentlichen aus der Beteiligung am Essener Chemiekonzern Evonik besteht. Die bezahlt gegenwärtig genug Dividende, um damit die ab 2019 erwarteten Kosten zu begleichen. Wären die Dividenden niedriger, sänke der Aktienkurs und blieben die Zinsen niedrig, entstünde ein Finanzloch, das der Steuerzahler stopfen müsste.
Welche Druckmittel haben die Energiekonzerne gegenüber dem Staat?
Die Konzerne haben Bund und Länder wegen der vorzeitigen Abschaltung der Atommeiler mit Klagen überzogen. Dem Bund drohen Milliardenrisiken. RWE etwa hat das Land Hessen für die Stilllegungsverfügung der zwei Atomblöcke in Biblis auf mehr als 200 Millionen Euro Schadensersatz verklagt. Die Konzerne könnten die Klage zurückziehen.
Welche Druckmittel hat der Staat gegenüber den Energiekonzerne?
Ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten kam zum Schluss, dass die Rücklagen für den Abriss der Meiler und die Entsorgung nicht reichen werden. Der Bund könnte die Versorger also zwingen, höhere Rücklagen zu bilden. Die Botschaft an die Versorger: wenn ihr nicht mitspielt, wird das Ende der Atom-Ära für euch noch teurer.
Warum dürfte der Steuerzahler am Ende in der Pflicht sein?
Welches Modell am Ende auch realisiert wird: Ohne den Steuerzahler wird die Atom-Ära kaum zu Ende gehen. Bleiben die Versorger allein in der Verantwortung, drohen sie – forciert durch die Energiewende – im Extremfall zahlungsunfähig zu werden. Dann müsste der Staat ohnehin einspringen. Daran würde nicht einmal eine Verstaatlichung der Energiekonzerne, wie sie nur die Linke fordert, etwas ändern.