Die Warnung war unmissverständlich: Man bitte die Kunden „dringend“, hieß es schriftlich, „alle zur Reduzierung Ihres Bezugs aus dem Netz zur Verfügung stehenden Maßnahmen anzuwenden“. Der Absender: die Gasversorgung Süddeutschland (GVS), der Grund: Den Schwaben wird ihr Rohstoff knapp. Für einige Abnehmer – Stadtwerke und regionale Gasverteiler – hat das Stuttgarter Unternehmen die Lieferungen bereits reduziert. Auch in Kreisen der bayrischen Wirtschaft heißt es, „mit der Einschränkung der Belieferung der Industrie in den nächsten zwei Wochen muss gerechnet werden“. Zitieren lassen will sich damit niemand – jetzt bloß keine Panikmache.
Im größten Industrieland des Kontinents wird die Energie knapp. Vergangene Woche, der ersten seit der Energiewende mit knackig frostigen Tagen, häuften sich die Risikofaktoren: Der russische Lieferant Gazprom schickte weniger Erdgas durch die Röhren nach Deutschland; die Kältewelle erfordert nicht nur mehr Gas für die Hausheizung, auch der Stromverbrauch steigt an und damit der Rohstoffbedarf der Gaskraftwerke, die in solchen Fällen zugeschaltet werden.
Denn um die Wohnung aufzuwärmen, holen die Deutschen den alten Ölradiator aus dem Keller oder werfen den Heizlüfter an. Zusätzlich zapft Frankreich Strom aus Deutschland ab – die Nachbarn jenseits des Rheins heizen traditionell mit billiger Elektrizität aus ihren Atommeilern, doch die reicht in der aktuellen Kälteperiode nicht aus. In Frankreich baten die Stromversorger ihre Kunden bereits, die Waschmaschine besser nicht am Abend anzuschalten, die italienische Regierung setzte den Notstandsplan für die Gasversorgung in Kraft.
Gas fehlt, Spannung steigt
Auch hierzulande wächst die Anspannung bei Gasverteilern und Stromversorgern. Zum zweiten Mal in diesem Winter aktivierten die großen Elektrizitätskonzerne die sogenannte Kaltreserve: Bei plötzlich auftretenden Lücken fahren sie alte, eigentlich längst ausgemusterte Anlagen hoch. Auch ein Ölkraftwerk in Österreich musste erneut einspringen. Wettervorhersage paradox: Je tiefer Seen und Bäche einfrieren, desto dünner das Eis, auf dem sich die Energieversorgung der deutschen Unternehmen bewegt.
Seit der Energiewende „ist der Blick aus dem Fenster schon etwas intensiver geworden“, sagt Jörg Rothermel, Geschäftsführer des Unternehmensverbandes Energieintensive Industrien in Deutschland. Denn stärker als früher hängt die Versorgung an den erneuerbaren Energien. Wer seine Produktion für den nächsten Tag plant und keine langfristigen Stromverträge abgeschlossen hat, blickt nicht nur auf die Notierungen an der Strombörse EEX, sondern besser auch auf den Wetterbericht. Denn gerade bei Gasknappheit schauen die Unternehmen in die Röhre: Per Gesetz hat die Versorgung der Haushalte mit Wärme Vorrang vor der Belieferung der Industrie. „Was wir uns als Industriestandort hier leisten, ist schon bemerkenswert“, stöhnt Rothermel. „Von der Politik hört man nur, dass man sich über Kompetenzen streitet, wer was regeln darf.“
„Die einsetzbare Kraftwerksleistung ist infolge der im vergangenen Jahr außer Betrieb genommenen Kernkraftwerke deutlich reduziert, und der gegenwärtige Gasengpass vergrößert dieses Dilemma zudem noch“, analysiert Hans-Peter Villis, der Vorstandsvorsitzende der Energieversorgung Baden-Württemberg (EnBW). Die Versorger müssten mächtig eingreifen, um Engpässe auszugleichen. „Dank vieler gerade in den letzten Tagen durchgeführter Maßnahmen ist die Versorgung noch sicher und stabil, auch wenn die Sicherheitsreserven sich dem Ende zuneigen.“
Gazprom dreht den Hahn zu
Der Energiemangel hat viele Gesichter. Wenn es frostig wird und das Gas knapp, denkt der Laie an kalte Wohnungen und stillstehende Motoren. Doch seit der Energiewende sind auch ganz andere Folgen möglich: Es wird nicht kalt, sondern dunkel. Denn nun fehlt vielleicht der Brennstoff für jene Gaskraftwerke, die eigentlich die abgeschalteten Atommeiler ersetzen sollten. Die EnBW musste deshalb schon den Block 4 ihres Rhein-Dampf-Kraftwerkes in Karlsruhe auf null herunterfahren.
Auslöser war der staatliche russische Gaskonzern Gazprom. Am vorigen Dienstag gab Gazprom-Exportchef Alexander Medwedew zu: In der ersten Februarwoche habe man die Bestellmengen der EU-Kunden „nicht 100-prozentig ausführen“ können. Die hätten wegen des Dauerfrosts aber auch um 50 Prozent höher gelegen als normal. Tatsächlich hatte Gazprom die Lieferungen um rund zehn Prozent gekürzt.
Moskau friert
Denn auch die Russen zittern vor Kälte. Im sonst recht milden Moskau liegen die Temperaturen seit vier Wochen bei minus 20 Grad, im Norden Sibiriens sinkt das Quecksilber auch mal unter minus 50 Grad. Gazprom erwartet Verständnis dafür, dass die Befriedigung der Binnennachfrage an solchen Tagen Vorrang hat. Wenn die Exportmengen nicht 100-prozentig eingehalten werden, hieß es bei Gazprom auf Anfrage der WirtschaftsWoche, verpflichte sich der Konzern zur Zahlung „kleinerer Vertragsstrafen“.
Die Hälfte seiner gesamten Gasmenge bezieht beispielsweise Wingas, ein Gemeinschaftsunternehmen der BASF-Tochter Wintershall und Gazprom, von der russischen Mutter. An den kalten Februartagen bestellte Wingas 10 bis 15 Prozent mehr als noch im milderen Januar. Tatsächlich kamen 20 bis 30 Prozent weniger aus den Pipelines als angefordert.
Eingeschränkte Versorgung
In Norddeutschland merkten weder die Betreiber der Gaskraftwerke noch industrielle Abnehmer etwas von den Problemen – in Süddeutschland aber sehr wohl. Denn während die neue Ostseepipeline Nord-stream auf voller Leistung lief, fehlte der Druck in der Südröhre, die über die Ukraine und Österreich nach Deutschland führt.
Und während die Betreiber der großen Überlandrohre im Norden den Bedarf aus ihren unterirdischen Speichern ergänzten, kürzten sie auch noch ihre Lieferungen in den Süden der Republik. So reduzierte Open Grid Europe, der Gastransporteur des Düsseldorfer E.On-Konzerns, den Transit Richtung Süddeutschland auf die vertraglich vereinbarte Mindestmenge. Das Essener Unternehmen versorgt vor allem Stadtwerke und Fernwärmegesellschaften über ein 12 000 Kilometer langes Netz mit Gas. „Die Situation war und ist angespannt“, sagt Geschäftsführer Stefan Kamphues. „Bleibt die Lage unverändert, dann haben wir die Situation im Griff.“ Im Umkehrschluss heißt das: Wenn die Russen weiter ihre Gaslieferungen drosseln und die Temperaturen frostig bleiben, könnte es ernst werden.
Einen Vorgeschmack erleben die Abnehmer im Südwesten Deutschlands. Weil Open Grid Europe das Gas spärlicher fließen lässt, sah sich auch die Stuttgarter GVS gezwungen, die Versorgung ihrer 44 Kunden einzuschränken. Stadtwerke und Regionalverteiler mit normalen Lieferverträgen können die garantierte Menge bei Bedarf um fünf Prozent überschreiten.
Diesen Anspruch auf Mehrlieferung hat GVS den Stadtwerken vorerst gestrichen. Bei einigen Kunden mit sogenannten unterbrechbaren Verträgen, bei denen der Lieferant einen Teil zurückhalten kann, kürzte GVS ebenfalls.
Genügend Gasreserven
Dabei hatte Deutschland bisher noch Glück: Just als die Gaslieferungen aus Russland abflauten, war das Wetter günstig. Der Wind wehte passabel, aber vor allem die Sonne schien länger als erwartet. In den Mittagsstunden lagen bis zu 8000 Megawatt Sonnenstrom am Netz, so viel wie sieben Atomkraftwerke – und zum Glück vor allem im Süden. Aber klar ist: Aus der gesicherten Stromversorgung wird ein riskanter Power-Poker.
Eigentlich ist Deutschland gar nicht schlecht mit Gasreserven versorgt: Industrie, Kraftwerke und Haushalte verbrauchen pro Jahr rund 100 Milliarden Kubikmeter Gas. Rund 20 Milliarden Kubikmeter lagern unter der Erde.
Im Winter reichen die Vorräte für rund zwei Monate. Zwei Kilometer tief unter dem niedersächsischen Rehden – 60 Kilometer südlich von Bremen – befindet sich der größte dieser natürlichen Erdgasspeicher in Westeuropa. In einer 20 bis 40 Meter dicken Gesteinsschicht, die sich über acht Quadratkilometer erstreckt, lagert der Jahresverbrauch von zwei Millionen Einfamilienhäusern – gut vier Milliarden Kubikmeter. Derzeit holt Betreiber Wingas so viel Gas aus der Tiefe wie möglich.
Gestiegener Bedarf wird ausgeglichen
Aus Sicht des Kasseler Unternehmens ist das aber keine Krisenintervention, sondern eine normale Phase im Jahreszyklus. Im verbrauchsarmen Sommer füllt die Branche ihre Reserven zu niedrigeren Preisen auf, im Winter gleicht sie den steigenden Bedarf aus.
Das aktuelle Problem: Das Gas lagert in der falschen Region. So wie sich der viele Windstrom von der Nordseeküste nur begrenzt in den Süden leiten lässt, wo die brummende Industrie den höchsten Bedarf hat, so fließt auch das Gas nicht flott genug in Richtung Bayern und Baden-Württemberg. Und die Reserven lagern nun mal überwiegend nördlich des Weißwurstäquators.
Morgenluft wittern nun die Investoren, die mit einer zusätzlichen Pipeline Gas aus Aserbaidschan nach Westeuropa führen wollen. „Es ist das klassische Beispiel, dass man sich nicht auf ein oder zwei Lieferanten verlassen darf“, wirbt Michael Hoffmann, Cheflobbyist der TAP AG. „Das schärft den Blick aller dafür, dass wir eine Pipeline für den Südkorridor brauchen, so schnell wie möglich.“
Keine lange Leitung
Das Konsortium unter Beteiligung der deutschen E.On AG will eine Verbindung von bestehenden Röhren an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei durch die Adria nach Italien legen. Es konkurriert mit der Sechs-Länder-Mannschaft, die mit ihrer Nabucco-Leitung das russische Territorium auf eigene Faust umgehen will.
Doch zumindest die lange Leitung von Mittelasien bis nach Österreich wird es nicht geben: Regierungsvertreter aus Aserbaidschan haben deutschen Politikern bereits mitgeteilt, dass Nabucco nicht den Zuschlag bekommen werde. Die Aseris bauen zusammen mit dem Partner Türkei lieber die Trans-Anatolian-Pipeline (TANAP) bis zur türkisch-griechischen Grenze. Ob der Weitertransport dann über TAP, eine verkürzte Nabucco-Röhre oder ein weiteres Konkurrenzprojekt laufen soll, will Aserbaidschan voraussichtlich bis Ende März entscheiden.
Auch EnBW-Chef Villis kann der frostigen Zitterpartie der letzten Tage eine günstige Perspektive abgewinnen: Im Nachgang zu dieser Kälteperiode könnte „die Erkenntnis weiter reifen, dass der Umbau des Energiesystems konsequent, aber mit Augenmaß erfolgen sollte. Eine Energiepolitik aus einer Hand und gerne auch von einem Fachministerium geführt, könnte hier durchaus helfen.“