2000 Kilometer nordwestlich von Liberty, in North Dakota, ist der Traum vom vorzeitigen Ruhestand für etliche Landbesitzer schon wahr geworden. In dem kargen Bundesstaat an der kanadischen Grenze wurden vor knapp zehn Jahren neue Schieferölvorkommen entdeckt und seither flächendeckend erschlossen.
Aus einem der ärmsten Bundesstaaten wurde schlagartig einer der reichsten. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt dort heute 30 Prozent über dem Landesdurchschnitt. Viele Landbesitzer verdienen Zehntausende Dollar pro Monat durch die Ölförderung, manche sogar einige Hunderttausend Dollar. So brachte der Boom jährlich Hunderte neue Millionäre hervor, sanierte den Haushalt des Staates und verdoppelte die Einwohnerzahl etlicher Dörfer und Städte.
North Dakota ist das, was die Menschen in Liberty im Hinterkopf haben, wenn sie vom Öl sprechen. Doch zugleich ist North Dakota den Menschen in Mississippi auch ein warnendes Beispiel. Denn so märchenhaft der Aufstieg in Zeiten teuren Öls war, so schmerzhaft droht der Absturz. Bei diesem Preis ist selbst die Förderung in North Dakota, wo die Bohrer leichter an das Öl kommen als in Mississippi, kaum kostendeckend.
Tausende Arbeiter in North Dakota hat der Ölpreisverfall in den vergangenen Wochen schon den Job gekostet. Allein der Förderkonzern Schlumberger entließ auf einen Schlag 9000 Mitarbeiter. Die Zahl der aktiven Bohrtürme sank auf den niedrigsten Stand seit fünf Jahren: 187 Bohrtürme gab es im Januar des vorigen Jahres, ein Jahr später waren es nur noch 161. „Im Juni werden es nur noch 50 sein“, meint Jim Arthaud, Chef der Firma MBI Energy Services, die die Ölförderer mit technischer Ausrüstung beliefert. „Dann werden 20 000 weitere Jobs weg sein.“
BASF zwischen den Fronten
Der graue Kasten ist breit und hoch wie ein Mehrfamilienhaus. Ohne ihn ginge in Amerikas größtem BASF-Standort in Geismar, Louisiana, nicht viel. Im Inneren der monströsen Anlage werden gewaltige Ströme von Erdgas in die Bestandteile Kohlenmonoxid und Wasserstoff zerlegt. Diese Gase wiederum schießen dann durch Rohre zu den verschiedenen Reaktoren und Produktionsstätten auf dem Gelände, wo sie zu Ausgangssubstanzen für Schaumstoffmatratzen, Zahnpasta, Pflanzenschutzmitteln oder Textilien weiterverarbeitet werden.
Der Verfall des Ölpreises kommt beim Verbraucher an
Das liegt im wesentlichen am Preisrutsch für Rohöl. Der Ölpreis hat sich jahrelang weitgehend in einem Preisband zwischen 100 und 115 Dollar für ein Barrel (159 Liter) der Nordsee-Sorte Brent bewegt. Diesen Korridor hat der Preis Anfang September verlassen und ist im Oktober nochmals kräftig abgestürzt, auf nur noch 85 Dollar. Die subjektive Wahrnehmung der Autofahrer, dass Benzin und Diesel immer teurer werden, wird von den Daten seit 2012 nicht mehr gedeckt.
Auf der Angebotsseite ist reichlich Öl vorhanden. „Die Reaktion der Produzenten lässt auf sich warten“, sagt der Hamburger Energieexperte Steffen Bukold. Saudi-Arabien, das innerhalb des Opec-Kartells sonst die Feinsteuerung des Marktes übernommen hat, will nicht allein seine Produktion kürzen. Dahinter steht ein Kampf um Marktanteile in Asien, wo für die Opec-Staaten die einzig wachsenden Absatzmärkte für ihr Öl liegen. Die Nachfrage nach Öl verläuft wegen der verhaltenen Weltkonjunktur zudem flau und kann den Preis nicht stützen.
Das ist mittelfristig denkbar, geht aber nicht so schnell. Manche Förderanlagen könnten unrentabel werden, wenn der Ölpreis noch weiter fällt und dauerhaft niedrig bleibt. Ob es dazu kommt, ist noch nicht absehbar. Zudem bekommen viele Förderländer - auch Russland - bei einem Ölpreis deutlich unter 100 Dollar ein Problem mit der Finanzierung ihres Staatshaushalts. Bislang allerdings liegt der durchschnittliche Ölpreis für 2014 immer noch bei 106 Dollar, nach 109 im Vorjahr. Das ist für die Ölländer noch kein schlechtes Jahr.
Nach dem Energiepreis-Monitor der European Climate Foundation sind die Preise für Energierohstoffe währungsbereinigt im September um 1,2 Prozent gefallen und gleichzeitig die Verbraucherpreise für Kraft- und Schmierstoffe um 0,4 Prozent gestiegen. Anders als in Frankreich und Italien. „Ein Teil des Anstiegs ist nur so zu erklären, dass fallende Rohstoffpreise nicht eins zu eins auf Verbraucherebene weitergegeben wurden“, heißt es in der Mitteilung der Stiftung. Die Branche bestreitet das: „Der harte Wettbewerb der Tankstellen in Deutschland sorgt dafür, dass der gesunkene Ölpreis über niedrigere Benzin- und Dieselpreise auch bei den Verbrauchern ankommt“, sagte ein Sprecher des Mineralölwirtschaftsverbandes (MWV) in Berlin.
Das kann niemand sagen. Schon bislang ist der Preisrückgang gebremst worden, weil der Euro gegenüber dem Dollar an Wert verloren hat. Für einen Euro bekommt ein Ölimporteur nur noch 1,28 Dollar, das sind 10 Cent weniger als vor ein paar Monaten. Deshalb braucht er mehr Euro, um die gleiche Menge Dollar für den Ölkauf aufzubringen. Fällt der Euro noch weiter, ist das schlecht für den Autofahrer. Der Ölpreis selbst hat nach unten vielleicht weniger Luft als nach oben. Gibt die Opec bei ihrer nächsten Sitzung im November ein klares Signal, dann kann der Preis auch schnell wieder in den alten Preiskorridor oberhalb von 100 Dollar zurückkehren, meint Ölexperte Bukold.
„Die Erdgas-Aufspaltung ist das Herzstück unseres Standortes“, sagt Tom Yura, BASF-Chef in Geismar, „denn sie liefert unsere wichtigsten Rohstoffe.“ Genau aus diesem Grund haben Yura und seine 1500 Mitarbeiter den Ölpreis nicht weniger genau im Blick als die Arbeiter auf den Ölfeldern von Mississippi und North Dakota. Die Perspektive allerdings ist eine andere: Je tiefer der Ölpreis sinkt, umso billiger wird in der Regel auch das Erdgas, und umso glücklicher ist Yura. Zumindest bis zu einer bestimmten Grenze.
„80 Prozent der gesamten Kosten des Standortes entfallen auf Erdgas und Öl“, meint Yura, „da können Sie sich ausrechnen, wie wir uns freuen, wenn der Ölpreis um ein, zwei Dollar pro Barrel sinkt.“
Auch hier sind die Folgen des Booms gut sichtbar: Dutzende Container beherbergen neue Mitarbeiter, für die in den vorhandenen Verwaltungsgebäuden kein Platz mehr war. „Wir nennen das unsere Bühne“, witzelt Yura. „Wer als Neuer hier eine gute Vorstellung gibt, darf nach einigen Jahren in ein richtiges Büro umziehen.“ In den vergangenen fünf Jahren hat BASF in Louisiana Investitionen von über 350 Millionen Dollar angekündigt und mehr als 100 neue Stellen geschaffen. Yura muss nicht lange überlegen, was der wichtigste Grund dafür ist: „Das Erdgas, das durch den Fracking-Boom so unglaublich billig wurde.“
Für Yura, der auch daran gemessen wird, ob die kostspieligen Erweiterungen seiner Anlagen rechtzeitig fertiggestellt werden, kommt es noch besser: Weil wegen der niedrigen Ölpreise Fracking-Projekte in Louisiana, Texas und Mississippi abgeblasen werden, bekommt er Bauleistungen nun schneller und günstiger. Auch bei der Suche nach eigenen Mitarbeitern konkurriert er nicht mehr so stark mit den Ölfirmen der Region.
Unlängst bewarben sich weit mehr als 1000 Techniker auf 20 ausgeschriebene Techniker-Stellen bei BASF. Bisher also überwiegen für die Deutschen die Vorteile des gedämpften Fracking-Booms.
Dennoch hofft auch Yura, dass die Ölpreise nicht auf Dauer unter dem Niveau bleiben, auf dem sich für die Förderer das Fracking lohnt. Denn Yura ist nicht maßlos. Er weiß: Stürzt der Ölpreis ins Bodenlose, schadet das auch seinem Arbeitgeber. „Die Fracking-Firmen sind eines unserer Erfolgsgeheimnisse“, sagt Yura. „Sie müssen so viel verdienen, dass sie am Markt bleiben und uns weiter so schön beliefern können.“