Dietrich Graf geht kaum als Feindbild durch, dafür steckt zu viel Ingenieur und zu wenig Manager in ihm. Graf ist technischer Geschäftsführer der Vattenfall-Stromnetze Berlin und Hamburg und damit an einer ideologischen Front aktiv, die ihm anscheinend reichlich egal ist. Wenn man ihn nach privat und Staat und seiner Meinung fragt, dann antwortet er in Sätzen, die auch in Vattenfall-Prospekten stehen. Ganz anders, wenn Graf erklären soll, wie man ein Stromnetz effizient betreibt. „Haben Sie mal ein Blatt Papier?“, fragt er und zeichnet eine Linie, die erst stark fällt, dann lange horizontal verläuft und am Ende steil ansteigt – die Badewannenkurve, mit der Ingenieure die Lebensdauer von technischen Geräten darstellen. Etwas ungenauer wird die Darstellung, wenn er erklären soll, wie viel Geld Vattenfall mit all den Leitungen und Trafos in Hamburg verdient. Wieder zeichnet er eine Kurve – die Erlöse –, darunter ein paar Balken – die Kosten. Auf Zahlen aber verzichtet er. Dafür die Antwort: „Der Betrieb von Stromnetzen ist so stark reguliert, da ist nicht viel Rendite möglich.“
Genau daran aber zweifeln immer mehr Bürger und Politiker. Zwar sind die meisten Städte grundsätzlich mit der Arbeit der Unternehmen zufrieden. Doch sie bedroht zugleich die kommunale Schuldenbremse, die ab 2020 neue Kredite nur unter erschwerten Bedingungen zulässt. Die Städte müssen bis dahin ihre Haushalte ausgleichen, irgendwie. Weil viele keine Sparmöglichkeiten mehr sehen, suchen sie vermehrt nach neuen Einnahmen. Und so sind es eher die Sorgenkinder unter den Städten, die sich jetzt große Kredite an den Hals hängen, um damit neue Einnahmen zu erschließen. Sogar Recklinghausen, eine der Städte mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung Deutschlands, hat 2011 sein Stromnetz zurückgekauft. Im Moment profitieren sie dabei von den extrem günstigen Refinanzierungsbedingungen. So bietet die KfW inzwischen den „Investitionskredit Kommunen “ speziell für den Rückkauf von städtischer Infrastruktur: 1,6 Prozent Zinsen, Laufzeit zehn Jahre, jährliches Volumen bis zu 150 Millionen Euro. Ob all das aber genügt, um den Betrieb von Stromnetzen oder der Abfallentsorgung zu einem profitablen Geschäft zu machen, steht auf einem anderen Blatt. Nicht ganz zu Unrecht suchte Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD) im Wahlkampf einen Vergleich für den Netzrückkauf: „Es ist ein wenig wie mit Schiffsfonds oder früher mit Immobilien in Ostdeutschland.“
Denn hinter dem Betrieb von Stromnetzen steckt eine der kompliziertesten Regulierungen überhaupt. Um auf dem Markt der Verteilnetze eine Art von Wettbewerb zu schaffen, sind sie der Bundesnetzagentur unterstellt. Für jeweils fünf Jahre im Voraus legt die Behörde sogenannte Erlösobergrenzen fest, welche die Rendite der Betreiber bestimmen. Die nächste Periode beginnt 2014, nervös erwarten die Netzbetreiber dieser Tage, welche Renditeaussichten ihnen diesmal zugeteilt werden.
Dafür wird zunächst die Effizienz des Netzbetriebs ermittelt. Je besser ein Netz bewirtschaftet wird und je seltener es zu Aussetzern kommt, desto höher fällt der Effizienzwert aus, der für gewöhnlich irgendwo zwischen 80 und 100 Prozent liegt. Dieser Wert wird dann multipliziert mit der maximalen Eigenkapitalverzinsung von 7,56 Prozent – es ergibt sich die erzielbare Rendite. Was das Verfahren für die Betreiber so attraktiv macht: Ihre Kosten werden in einem separaten Verfahren ermittelt, hier wird nicht verglichen, sondern lediglich genehmigt. Die Netzinhaber schlüsseln auf, was sie für ihr Netz ausgeben. Ist eine Ausgabe gut begründet, wird sie durchgewinkt. Mit anderen Worten: Die höchste Rendite erzielt der Betreiber, der das beste Netz bietet – egal, was es kostet. Eine Sprecherin der Bundesnetzagentur räumt ein: „Es ist in der Tendenz zutreffend, dass sich hohe Kosten positiv auf die Rendite auswirken.“ Umso höher sind jedoch auch die Netznutzungsentgelte, die der Kunde über die Stromrechnung zahlt. In den ersten Jahren konnte die Regulierung noch Erfolge verweisen, inzwischen steigen die Entgelte kräftig.
Es ist also durchaus etwas dran, dass die Netzbetreiber ihre Rendite auf Kosten der Kunden erhöhen können. Nur ist das keineswegs allein eine Spezialität der großen Privatkonzerne. Der Vergleich der Netzentgelte in den größten deutschen Städten zeigt zwar, dass sich die Gebühren deutlich unterscheiden: So bezahlt ein durchschnittlicher Haushalt mit 5000 Kilowattstunden Jahresverbrauch in Bremen 201 Euro Netzgebühr, in Leipzig sind es 306 Euro. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Öffentlichen und Privaten ist jedoch nicht zu erkennen. Allein das ist keine Rechtfertigung für eine Tätigkeit des Staates. Viel wichtiger nehmen viele Gemeinden deshalb ein zweites Argument: Da es quasi unmöglich sei, mit Stromnetzen Verluste zu machen, solle man diese Rendite doch lieber gleich selbst abschöpfen.