Die Situation bedingt es, dass Theo Christiansens Plan ziemlich abstrakt klingt. Der große Mann sitzt in seinem kleinen Zimmer, Erdgeschoss, der Blick geht hinaus in eine Nebenstraße im Süden des Hamburger Problemviertels Sankt Georg. Zwei Streifenpolizisten laufen durchs Bild, plaudernd. Alles ruhig heute. „Zwei Milliarden Euro? Das ist schon eine gewaltige Summe“, sagt Christiansen, Vorstand des Kirchenkreises Hamburg-Ost.
Er atmet durch, kurz blitzt so etwas wie Ehrfurcht in seiner Stimme auf, solche Summen kennt er nur aus den Fernsehnachrichten. Doch Christiansen fängt sich schnell. Er will, dass die Stadt Hamburg sich für diese Summe die Strom-, Gas- und Fernwärmenetze kauft und künftig selbst betreibt - und hat sein Ziel erreicht. Zwei Jahren hat er dafür gestritten, jetzt hat sich die Mehrheit der Hamburger beim Volksentscheid tatsächlich für einen Rückkauf der Energienetze durch die Stadt entschieden - mit knapper Mehrheit von 50, 9 Prozent der Stimmen. Die Rückkaufbefürworter von der Initiative „Unser Hamburg - Unser Netz“, die Christiansen mit zwei Mitstreitern anführte, haben sich damit gegen den Senat sowie den Widerstand der Bürgerschaftsfraktionen von SPD, CDU und FDP durchgesetzt. Parallel zur Bundestagswahl endet nun Christiansens Amt.
Vor Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz liegt nun steiniger Weg. Noch wenige Tage vor der Entscheidung an der Abstimmungsurne hatte er den Bürgern dargelegt, dass eine Entscheidung für den Netzkauf jahrelange juristische Streitereien nach sich ziehen würde, weil Eon und Vattenfall ihre Netze keineswegs freiwillig hergeben wollten. Die Stadt muss nun eine Netzgesellschaft gründen und sich zunächst um die Konzession für den Betrieb der Stromnetze bewerben, die als nächste ausläuft. Die Konzession muss in einem fairen Verfahren vergeben werden, darüber wachen auch Kartellamt und Bundesnetzagentur. Ob sich die Stadt dabei gerichtsfest durchsetzen kann, ist völlig offen.
In den vergangenen Jahren hat sich erst langsam und jenseits der Zentren die Mehrheitsmeinung zur Rolle des Staates in der Wirtschaft gewandelt. Inzwischen ist dieser Wandel in den größten Städten des Landes angekommen. Was dieser Tage in Hamburg geschieht, steht Anfang November auch in Berlin an. Die Bürger entscheiden darüber, ob ihre Stadt sich Versorgungsnetze vom jetzigen Betreiber Vattenfall zurückkaufen soll. In Stuttgart will die grüne Stadtspitze den Schritt von sich aus umsetzen. In den vergangenen fünf Jahren wurden landesweit mehr als 40 Stadtwerke neu gegründet. Abgeschwächt findet das Ganze auch beim Wasser statt, die Abfallwirtschaft beklagt ebenfalls, dass der Staat ihr immer mehr Geschäft abnimmt.
Das Schlagwort zum Trend klingt ziemlich technisch, vielleicht ist genau das auch gewollt: Rekommunalisierung. Hört sich an, als hole man zurück, was einem ohnehin gehört. Vor Ort, nah dran an den Problemen. Trotzdem: Früher hätte man das Verstaatlichung genannt. Bürger und Bürgermeister glauben sich damit gleich eine ganze Reihe von Wünschen erfüllen zu können. Energieversorgung wollen sie grüner machen, Strompreise niedriger und Stadtkassen voller. Ein Blick in die Projekte zeigt: Am Ende erreichen sie im besten Falle gar nichts und im schlechtesten das Gegenteil. Vor allem aus Sicht der Verbraucher lohnt sich das Geschäft nur selten.
Konzession als Chance
Neid gilt gemeinhin nicht gerade als edelstes aller Motive. Im Hochschwarzwald aber sieht man das nicht so eng. „Seitdem das Netz bei uns privat betrieben wird, hat man hier neidisch auf die Gewinne der Nachbargemeinden geschaut“, sagt Andreas Graf, der die Netzgesellschaft Titisee-Neustadt leitet. Während dort die Stadtwerke mit ihren Netzen Gewinne einsammelten, hatte die Stadt am gleichnamigen Bergsee ihre längst verkauft – auch, weil der teure Unterhalt einer kommunalen Skisprungschanze den Haushalt belastet. Vor ein paar Jahren wollte die Stadt sich dann mit dem Zusehen nicht mehr zufriedengeben. 2011 lief die Konzession für das örtliche Stromnetz aus, das in der Hand der EnBW lag. Also gründete die Stadt selbst eine Netzgesellschaft und holte den lokalen Stromversorger EWS mit ins Boot.
So weit, so typisch. In diesen Tagen laufen überall im Land Konzessionen aus, das ist meist der Anlass für Städte, den Rückkauf überhaupt in Erwägung zu ziehen. Die meisten Netze wurden zu Beginn der Neunzigerjahre erstmals vergeben, die Verträge liefen über 20 Jahre. Wo die Städte sich damals für eine Privatisierung entschieden haben, bietet sich jetzt die Chance zum Rückkauf. Am Titisee tat sich in der Folge ein Problem auf, das die meisten Gemeinden nicht auf der Rechnung haben: Eine Konzession muss erst mal gewonnen werden, das hat ein Wettbewerb so an sich. Auch im Hamburger Wahlkampf wurde kaum thematisiert, dass die Ausschreibung für das Stromnetz erst 2014 ansteht, Vattenfall will in jedem Fall wieder antreten.
In Tititsee wollten sie sich auf so viel Risiko nicht einlassen: Da die Stadt sich nicht nur um das Netz bewarb, sondern auch für die Ausschreibung verantwortlich war, fügte die Verwaltung einen Passus hinzu, wonach „Bewerber in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft“ zu bevorzugen sind. Das Bundeskartellamt räusperte sich, dann ging aus Sicht der Kommune zunächst alles glatt, die Netzgesellschaft übernahm 2011 das Netz. Doch das böse Ende der Geschichte sollte noch kommen.
Denn was da so einfach klingt, ist nicht gerade marktwirtschaftlich. Der Fall Titisee zeigt aber, wie sich das Selbstverständnis der Kommunen in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Noch vor zehn Jahren mussten sich Städte für jede Aufgabe rechtfertigen, die sie noch selbst wahrnahmen. Schwimmbäder, Müllabfuhr, Stromnetze, Krankenhäuser: Alles, was Verluste machte, wurde verkauft. Und selbst wo spärliche Gewinne flossen, hatten die Kämmerer immer die großen Summen im Hinterkopf, die sich durch einen Verkauf erlösen lassen würden. Mit Düsseldorf und Dresden machten gleich zwei Großstädte vor, wie man mit dem Verkauf von Stadtwerken auf einen Schlag alle Schulden loswerden konnte. Keine Schulden, keine Zinsen, mehr Bewegungsfreiheit – so lautete die Kausalkette. Dass selbst der rot-grüne Kanzler Gerhard Schröder den „schlanken Staat“ als Ziel ausgab, zeigt, dass sich diese Einsicht bis weit ins linke politische Spektrum durchgesetzt hatte.
Spätestens seit der Finanzkrise hat sich der Wind gedreht. Von Privatisierung spricht fast keiner mehr. Im aktuellen Wahlprogramm der FDP taucht das Wort nur ein einziges Mal auf – 2002 gab es noch 16 entsprechende Forderungen. Unter anderem stand da: „Für die FDP ist die Privatisierung wirtschaftlicher Betätigungen der öffentlichen Hand ein Kernziel liberaler Politik.“ Gar nicht so lange ist das her.
Stattdessen wird die Rolle der Konzerne, die einstige Staatsaufgaben wahrnehmen, immer häufiger infrage gestellt. Auf Kosten der Bürger, so der Vorwurf, erwirtschafteten sie risikolose Renditen.
Kein Feindbild
Dietrich Graf geht kaum als Feindbild durch, dafür steckt zu viel Ingenieur und zu wenig Manager in ihm. Graf ist technischer Geschäftsführer der Vattenfall-Stromnetze Berlin und Hamburg und damit an einer ideologischen Front aktiv, die ihm anscheinend reichlich egal ist. Wenn man ihn nach privat und Staat und seiner Meinung fragt, dann antwortet er in Sätzen, die auch in Vattenfall-Prospekten stehen. Ganz anders, wenn Graf erklären soll, wie man ein Stromnetz effizient betreibt. „Haben Sie mal ein Blatt Papier?“, fragt er und zeichnet eine Linie, die erst stark fällt, dann lange horizontal verläuft und am Ende steil ansteigt – die Badewannenkurve, mit der Ingenieure die Lebensdauer von technischen Geräten darstellen. Etwas ungenauer wird die Darstellung, wenn er erklären soll, wie viel Geld Vattenfall mit all den Leitungen und Trafos in Hamburg verdient. Wieder zeichnet er eine Kurve – die Erlöse –, darunter ein paar Balken – die Kosten. Auf Zahlen aber verzichtet er. Dafür die Antwort: „Der Betrieb von Stromnetzen ist so stark reguliert, da ist nicht viel Rendite möglich.“
Genau daran aber zweifeln immer mehr Bürger und Politiker. Zwar sind die meisten Städte grundsätzlich mit der Arbeit der Unternehmen zufrieden. Doch sie bedroht zugleich die kommunale Schuldenbremse, die ab 2020 neue Kredite nur unter erschwerten Bedingungen zulässt. Die Städte müssen bis dahin ihre Haushalte ausgleichen, irgendwie. Weil viele keine Sparmöglichkeiten mehr sehen, suchen sie vermehrt nach neuen Einnahmen. Und so sind es eher die Sorgenkinder unter den Städten, die sich jetzt große Kredite an den Hals hängen, um damit neue Einnahmen zu erschließen. Sogar Recklinghausen, eine der Städte mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung Deutschlands, hat 2011 sein Stromnetz zurückgekauft. Im Moment profitieren sie dabei von den extrem günstigen Refinanzierungsbedingungen. So bietet die KfW inzwischen den „Investitionskredit Kommunen “ speziell für den Rückkauf von städtischer Infrastruktur: 1,6 Prozent Zinsen, Laufzeit zehn Jahre, jährliches Volumen bis zu 150 Millionen Euro. Ob all das aber genügt, um den Betrieb von Stromnetzen oder der Abfallentsorgung zu einem profitablen Geschäft zu machen, steht auf einem anderen Blatt. Nicht ganz zu Unrecht suchte Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD) im Wahlkampf einen Vergleich für den Netzrückkauf: „Es ist ein wenig wie mit Schiffsfonds oder früher mit Immobilien in Ostdeutschland.“
Denn hinter dem Betrieb von Stromnetzen steckt eine der kompliziertesten Regulierungen überhaupt. Um auf dem Markt der Verteilnetze eine Art von Wettbewerb zu schaffen, sind sie der Bundesnetzagentur unterstellt. Für jeweils fünf Jahre im Voraus legt die Behörde sogenannte Erlösobergrenzen fest, welche die Rendite der Betreiber bestimmen. Die nächste Periode beginnt 2014, nervös erwarten die Netzbetreiber dieser Tage, welche Renditeaussichten ihnen diesmal zugeteilt werden.
Dafür wird zunächst die Effizienz des Netzbetriebs ermittelt. Je besser ein Netz bewirtschaftet wird und je seltener es zu Aussetzern kommt, desto höher fällt der Effizienzwert aus, der für gewöhnlich irgendwo zwischen 80 und 100 Prozent liegt. Dieser Wert wird dann multipliziert mit der maximalen Eigenkapitalverzinsung von 7,56 Prozent – es ergibt sich die erzielbare Rendite. Was das Verfahren für die Betreiber so attraktiv macht: Ihre Kosten werden in einem separaten Verfahren ermittelt, hier wird nicht verglichen, sondern lediglich genehmigt. Die Netzinhaber schlüsseln auf, was sie für ihr Netz ausgeben. Ist eine Ausgabe gut begründet, wird sie durchgewinkt. Mit anderen Worten: Die höchste Rendite erzielt der Betreiber, der das beste Netz bietet – egal, was es kostet. Eine Sprecherin der Bundesnetzagentur räumt ein: „Es ist in der Tendenz zutreffend, dass sich hohe Kosten positiv auf die Rendite auswirken.“ Umso höher sind jedoch auch die Netznutzungsentgelte, die der Kunde über die Stromrechnung zahlt. In den ersten Jahren konnte die Regulierung noch Erfolge verweisen, inzwischen steigen die Entgelte kräftig.
Es ist also durchaus etwas dran, dass die Netzbetreiber ihre Rendite auf Kosten der Kunden erhöhen können. Nur ist das keineswegs allein eine Spezialität der großen Privatkonzerne. Der Vergleich der Netzentgelte in den größten deutschen Städten zeigt zwar, dass sich die Gebühren deutlich unterscheiden: So bezahlt ein durchschnittlicher Haushalt mit 5000 Kilowattstunden Jahresverbrauch in Bremen 201 Euro Netzgebühr, in Leipzig sind es 306 Euro. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Öffentlichen und Privaten ist jedoch nicht zu erkennen. Allein das ist keine Rechtfertigung für eine Tätigkeit des Staates. Viel wichtiger nehmen viele Gemeinden deshalb ein zweites Argument: Da es quasi unmöglich sei, mit Stromnetzen Verluste zu machen, solle man diese Rendite doch lieber gleich selbst abschöpfen.
Nicht alle Netzbetreiber machen Gewinne
Auch diese Frage ist erstaunlich schwer zu klären. Die Bundesnetzagentur müsste es doch wissen, oder? „Spontan würde ich sagen, dass man da natürlich auch Verluste machen kann“, meint eine Sprecherin. Sie verbindet aber lieber zu einer Kollegin, die aus der Fachabteilung kommt. „Nein, das ist eigentlich nicht möglich“, sagt die. Es scheint Diskussionsbedarf zu geben.
Zumindest so viel steht fest: Bei Weitem nicht alle Netzbetreiber machen Gewinne. Denn die Bundesnetzagentur erkennt zwar grundsätzlich Kosten für den Netzbetrieb und Erweiterungen an, es kommt dabei jedoch immer wieder zu Auseinandersetzungen. Und am Ende können die Betreiber durchaus auch auf ihren Kosten sitzen bleiben. So gibt es von Saarbrücken über Duisburg, Leipzig und Köln allein in den Großstädten eine ganze Reihe von Netzbetreibern, deren Ergebnisse in den vergangenen Jahren im roten Bereich lagen. Da der Netzbetrieb in verdichteten städtischen Räumen als profitabler gilt als in der Fläche, dürfte das nur die Spitze einer großen Gruppe von Verlustbetrieben sein.
Die Netzgesellschaft enercity, zu 100 Prozent im Besitz der Stadt Hannover, hat es sogar geschafft, die vergangenen vier Jahre in Folge Verluste einzufahren; allein 2012 stand ein Verlust von 36 Millionen Euro. Ein enercity-Sprecher verweist auf „Pachtentgelte“ und „nicht anerkannte Investitionen“. Vieles davon werde sich aber in den kommenden Jahren klären. Die Bilanz spricht eine andere Sprache: Man gehe davon aus, „dass sich der Fehlbetrag im Geschäftsjahr 2013 um zehn Millionen Euro verringern wird“, heißt es da. Bis zur schwarzen Null fehlen dann aber immer noch 26 Millionen. Am Ende bringt der Sprecher ein Argument, das stellvertretend steht für eine Einstellung, die viele Kommunen einst in die Verschuldungsmisere geführt hat, aus der sie sich jetzt herauszukämpfen versuchen: „Sie müssen schließlich auch die Arbeitsplätze bedenken, die das Netz den Menschen hier bringt.“
Die Risiken sind also mindestens so real wie die Verlockungen. Und die Gefahren dürften in den kommenden Jahren noch zunehmen. Die Energiewende macht es nötig. Anders als gerne behauptet, fallen die meisten notwendigen Investitionen in das Stromnetz in den kommenden Jahren nicht bei den Übertragungsnetzbetreibern wie Tennet oder 50 Hertz an, sondern in den Verteilnetzen vor Ort. „Das ist auch der Preis der dezentralen Energieerzeugung“, sagt Stephan Gamm, Spezialist für das Thema Energie bei der Unternehmensberatung Putz und Partner, die sich in einem Gutachten auch mit dem Rückkauf der Hamburger Netze auseinandergesetzt hat. Er beziffert den Investitionsbedarf in die Verteilnetze bis 2020 auf 20 bis 30 Milliarden Euro und beruft sich dabei auf Schätzungen der RWTH Aachen.
Doch solche Szenarien spielen in der Debatte um die Übernahme neuer kommunaler Aufgaben nur selten eine Rolle. Stattdessen projizieren die unterschiedlichsten Interessenvertreter ihre Hoffnungen in die städtischen Unternehmen. Heraus kommen dabei seltsame Koalitionen echter und vermeintlicher Weltverbesserer wie die in Hamburg. Kirchenvertreter Christiansen rechtfertigt sein persönliches Engagement unter anderem damit, die Kirche sei schließlich „schon lange in der Umweltbewegung verankert“. Intern ist sein Engagement dennoch umstritten. Spätestens als herauskam, dass Christiansen der Initiative eine Bürgschaft aus Kirchenmitteln genehmigt hatte, wies ihn sogar die Bischöfin zurecht. Weiterer Vertrauensmann ist Manfred Braasch von BUND, der an anderer Front auch gegen die Elbvertiefung kämpft. Dritter im Bunde ist Günter Hörmann, Geschäftsführer der örtlichen Verbraucherzentrale, die staatlich finanziert die Interessen der Verbraucher im Auge haben sollte. Welchen Nutzen dabei der Kauf eines Zwei-Milliarden-Euro-Netzes haben soll, erschließt sich kaum. Hörmann: „Wir sind davon überzeugt, dass ein staatlicher Netzbetreiber am besten in der Lage ist, den Strom diskriminierungsfrei durch sein Netz zu leiten.“ Er begründet dann ausführlich, wie der Vattenfall-Konzern, der zugleich als Stromversorger in Hamburg auftritt, seine Geschäfte unzulässig vermenge.
Das Bundeskartellamt sieht die Sache anders
Dennoch provoziert Hörmann mit diesen Aussagen Widerspruch. Das Bundeskartellamt, das ebenfalls für sich in Anspruch nimmt, die Interessen des günstigsten Preises und damit des Verbrauchers zu vertreten, sieht die Sache anders. „Die Rekommunalisierung der Stromnetze dient nicht per se den Interessen der Verbraucher“, sagt Präsident Andreas Mundt. Eher hat er Grund zu der Annahme, dass es sich umgekehrt verhält: Immer häufiger werden Fälle publik, wo Kommunen ihre Doppelrolle zum Schaden der Verbraucher nutzen. So zeigt eine Auswertung des Energiedienstes enet, dass die städtischen Stromvertriebe dort, wo sie selbst Netze besitzen, deutlich höhere Profite erwirtschaften als außerhalb ihres Netzgebietes.
Erst vor wenigen Wochen hat das Kartellamt in der Schwarzwald-Gemeinde Titisee dann doch die Reißleine gezogen. Schon während der Konzessionsvergabe hatte die Gemeinde den Hinweis der Bonner Behörde ignoriert, dass die Art der Ausschreibung den Prinzipien des Wettbewerbs widerspreche. Jetzt hat die Behörde das Verfahren für nichtig erklärt, was daraus folgt, ist noch unklar. Im für Titisee schlechtesten Fall muss die gesamte Vergabe neu aufgerollt werden. Deutschlandweit schauen jetzt Städte auf den Fall im Schwarzwald, vielen von ihnen könnte Ähnliches drohen. Denn mit dem Wettbewerb nehmen es die Kommunen nur selten genau. Sie berufen sich darauf, dass sie über die Daseinsvorsorge nach eigenen Kriterien entscheiden dürften.
Wettbewerb und Preissenkung im Sinne der Verbraucher und offenbar selbst das Bundeskartellamt als Instanz werden mehr und mehr zu verblichenen Relikten einer vergangenen Zeit. Die Behörde hat zwar noch ihre starken Werkzeuge, doch wenn sie die einsetzt, stehen die anderen staatlichen Instanzen inzwischen Schulter an Schulter, um die Behörde zu stoppen.
So hat der Deutsche Bundestag zum Ende der Legislaturperiode das Wettbewerbsrecht im Sinne der Kommunalkonzerne verändert. Die achte Novelle des „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ trägt im Namen noch die alten Ideale, doch drinnen steckt das Gegenteil. Nach der Verabschiedung jubelte der immer mächtiger werdende Verband der kommunalen Unternehmen (VKU): „Die Hauptforderungen von VKU und kommunalen Spitzenverbänden wurden erfüllt.“ Denn die Neufassung legalisiert auf dem fast komplett staatlichen Wassermarkt eine Praxis, gegen die das Bundeskartellamt jahrelang in einem Musterprozess gegen die Stadt Wetzlar gekämpft hatte. Eigentlich soll die Behörde die Zusammensetzung der Preise kontrollieren. Wenn sie Exzesse feststellt, kann sie Senkungen vorschreiben. Auf diese Weise wurden in Berlin oder Mainz die Preise auf einen Schlag um mehr als 15 Prozent verringert. Doch die Kommunen haben einen Trick entdeckt, um das zu umgehen. Sie ändern die Rechtsform ihrer Betriebe, meist GmbHs, zu öffentlich-rechtlichen Betriebsformen. Dann werden aus Preisen Gebühren, und das Bundeskartellamt kann nur noch zusehen. Einige Jahre hatten Gerichte über diese Frage gestritten, mehrmals entschieden sie zugunsten des Kartellamts. Jetzt gibt der Gesetzgeber den Kommunen freie Hand, bezeichnenderweise stammt die Vorlage aus dem FDP-geführten Wirtschaftsministerium.
Auch Theo Christiansen zeigt sich flexibel, wo Wettbewerbsrecht und Wunschdenken in Konflikt stehen: „Am Ende müssen die Ziele der Bürger über denen der Konzerne stehen.“ Ob in Hamburg, Wetzlar oder Titisee: Wenn es um die Rolle öffentlicher Unternehmen geht, nimmt der Staat seine Rolle als Wettbewerbshüter immer seltener wahr. Das entspricht dem Geist einer Zeit, die vor lauter Bürgerbeteiligung die Grenzen zwischen Staat und privat immer mehr verwischt.