Es klang wie ein erlösendes Signal. "Wir haben beschlossen, uns zu mögen", sagte der frischberufene Umweltminister Peter Altmaier (CDU), als er Anfang Juni im Eichensaal des Wirtschaftsministeriums in Berlin auf seinen Kabinettskollegen Philipp Rösler (FDP) traf.
Seit Monaten hatte sich der Liberale mit Altmaiers Vorgänger Norbert Röttgen (CDU) über die Energiewende gestritten. Da kam die Liebeserklärung gerade recht, ein Jahr nachdem die Bundesregierung beschlossen hatte, bis 2022 aus der Atomkraft aus- und in eine Stromversorgung überwiegend aus erneuerbaren Energien einzusteigen.
Doch eine echte Erlösung ist der Harmonieschwur nicht. In Wahrheit wissen Altmaier und Rösler bis heute nicht genau, wie sie schnell und vor allem zu erträglichen Kosten die Stromversorgung in Deutschland umbauen können. Von einem radikalen "Schluss mit zu theoretischen, romantischen Betrachtungen der Energiewende", wie der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Hans-Peter Keitel forderte, ist bei Rösler und Altmaier nichts zu spüren. Ein "Kassensturz" der Energiewende, den E.On-Chef Johannes Teyssen verlangt, ist nicht in Ansätzen zu erkennen.
Im Gegenteil: Obwohl Investitionen im Energiesektor Jahre in Anspruch nehmen, lässt die Bundesregierung sich mit der Überprüfung der Energiewende Zeit. Im Dezember will sie dem Bundestag den ersten Monitoring-Bericht vorlegen, in den auch das Votum eines Professorenquartetts einfließt. Und ein "strategisch ausgerichteter Fortschrittsbericht" mit einer "tiefer gehenden Analyse" kommt gar erst 2014. ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger klagt, dass die Bezugsgrößen für ein Monitoring fehlten.
Der aktuelle Stand der Energiewende
Diese Wissenslücke schließt jetzt die WirtschaftsWoche zusammen mit der Unternehmensberatung A. T. Kearney durch die Vorlage der ersten systematischen Analyse, die alle wichtigen Facetten der Energiewende umfasst. Der Bericht erscheint zukünftig einmal im Jahr und beschreibt, wie es mit der Energiewende vorangeht. Das Ergebnis sind zwei zentrale Botschaften: Wie ist der aktuelle Stand der Energiewende? Und: Wie sind die Aussichten, dass die bis 2020 vorgegebenen Ziele erreicht werden?
Vier Ziele stehen im Mittelpunkt, die die Bundesregierung mit ihrem Beschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft vor einem Jahr verbunden hat:
- Die Wirtschaftlichkeit der Stromerzeugung für Haushalte und Unternehmen,
- die Versorgungssicherheit auf dem bisherigen Niveau,
- die Umweltverträglichkeit der Stromversorgung mit Blick auf den CO2-Ausstoß sowie
- die Akzeptanz der Energiewende in der Bevölkerung.
Während der aktuelle Stand der Energiewende angibt, zu wie viel Prozent jedes dieser Ziele beziehungsweise Etappenziele zum Zeitpunkt der Datenerhebung erreicht wird, haben die Prognosen die Funktion eines Frühwarnsystems. Sie signalisieren mit einem roten, gelben oder grünen Ampelsymbol, inwiefern jedes der vier Ziele bis 2020 zu schaffen ist.
Unwirtschaftliche Energie
Das Ergebnis ist besorgniserregend:
- Die Wirtschaftlichkeit der Stromerzeugung erreichte Ende 2011 eben noch 48 Prozent (2010: 53 Prozent) des Zielwertes. Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Stromversorgung bis 2020 wirtschaftlich und bezahlbar bleibt.
- Richtig abgestürzt ist von 2010 auf 2011 die Sicherheit der Stromversorgung – von 99 auf 61 Prozent im Jahr 2011. Weder Unternehmen noch private Haushalte können davon ausgehen, in gut knapp zehn Jahren so problemlos mit Strom versorgt zu werden wie 2010.
- Zwar nahm die Umweltverträglichkeit der Stromversorgung durch den gestiegenen Anteil der Wind- und Solarenergie zu. Gleichwohl ist nach heutigem Stand offen, ob dies so bleibt.
- Allenfalls die mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung zur Energiewende schien bis zuletzt gesichert.
"Um die Energiewende erfolgreich umsetzen zu können, kommt es vor allem darauf an, Transparenz zu schaffen und für Planungssicherheit bei den Unternehmen zu sorgen", warnt Martin Sonnenschein, Deutschland-Chef von A. T. Kearney. Insofern leisteten die Ergebnisse des Checks "einen wesentlichen Beitrag, die Handlungsbedarfe aufzuzeigen".
Vieles läuft in die falsche Richtung
Damit untermauert das Monitoring von WirtschaftsWoche und A. T. Kearney das große Unbehagen, das in weiten Teilen der deutschen Wirtschaft grassiert, erstmals mit Zahlen. "Die Energiewende gleicht einem Experiment, in dem sich zahlreiche Faktoren gegenseitig beeinflussen und das einen ungewissen Ausgang hat", wetterte Anfang Juni BDI-Präsident Keitel. Weil seine Mitgliedsunternehmen nicht länger auf Entscheidungen aus Berlin warten wollen, kündigte er den Start einer eigenen "Kompetenzinitiative Energie" an, in der "Partner aus Industrie und Wissenschaft gemeinsam die Welt der Energiewende beleuchten" sollen. Erste Ergebnisse des Tests, an dem die Unternehmensberatung Boston Consulting Group und das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität Köln mitwirken, sollen allerdings erst im Oktober vorliegen.
Dabei ist der politische Handlungsdruck groß und vieles läuft schon jetzt bei der Energiewende nachweislich in die falsche Richtung, wie das Monitoring von WirtschaftsWoche und A. T. Kearney klar zeigt.
Besonders offenkundig wird dies bei der Wirtschaftlichkeit der Stromversorgung. Im Jahr 2010, vor der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima, lagen die Frühwarnindikatoren für Strompreissteigerungen bereits im roten Bereich. Ein Jahr später hat sich daran nichts gebessert. Und der Trend setzt sich in diesen Tagen dramatisch fort. Einer der Gründe ist die Preissteigerung bei Öl, Gas und Kohle, also für Energie, die entweder die privaten Haushalte zum Heizen oder die Kraftwerke zur Stromerzeugung benötigen.
Strompreis wird steigen
Dieses Alarmsignal spiegelt nur die Situation an der Preisfront vor rund einem halben Jahr wider, als die Daten erhoben wurden. Weitere Schübe, die den Strom zusätzlich verteuern, sind sicher:
- Allein der Essener Energiekonzern RWE kündigte vorige Woche an, dass rund 1,5 Millionen Kunden ab August 1,79 Cent pro Kilowattstunde mehr bezahlen müssen. Der Strom verteuert sich dadurch um bis zu 6,7 Prozent.
- Auch der Stromtransport droht so manche Budgets zu sprengen. So entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf Anfang Juni, dass die Bundesnetzagentur in der Vergangenheit den Anlagenwert der deutschen Netze zum Nachteil der Betreiber zu niedrig kalkuliert hat. Wird das Urteil rechtskräftig, bedeutet dies: Die Betreiber können die Entgelte, die sie für den Transport des Stromes verlangen und auf den Strompreis schlagen dürfen, erhöhen, um auf die ihnen genehmigte Kapitalrendite von 9,05 Prozent zu kommen. Schuld daran ist nach Meinung des Gerichts die Bundesnetzagentur, die "gravierende Fehler" bei der Berechnung des Wertes der deutschen Strom- und Gasnetze begangen habe.
Hohe Bezuschussung für alte Solaranlagen
Was das bedeutet, ist noch nicht abzusehen. Denn die Netzbetreiber dürfen sich dem Urteil zufolge das Geld nicht nur in Zukunft und rückwirkend holen. Auch die Kosten für den notwendigen Ausbau der landesweiten Stromautobahnen sowie die Unterwasserkabel zu Offshore-Windparks in Nord- und Ostsee, die auf 30 Milliarden Euro taxiert sind, könnten höher ausfallen.
- Ebenso trügerisch erweist sich die gegenwärtige Höhe der Umlage, die Verbraucher nach dem Erneuerbaren Energien-Gesetz (EEG) letztlich an die Erzeuger von Wind- und Solarstrom überweisen müssen. Zwar stieg der Zwangsobolus 2011 nur minimal auf 3,53 Cent pro Kilowattstunde (in diesem Jahr: 3,59 Cent). Doch auch das könnte sich ändern. Der Energieexperte des Verbraucherzentrale Bundesverbands, Holger Krawinkel, sieht Indizien dafür, dass die EEG-Umlage im kommenden Jahr auf 5 Cent pro Kilowattstunde steigen wird. Ein Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 5000 Kilowattstunden müsste dadurch pro Jahr 70 Euro mehr für Strom ausgeben.
Grund sind die Vergütungen, die Wind-, vor allem aber Solarstromerzeuger für die vorrangige Einspeisung ins Netz kassieren. Allein die bis Ende 2011 installierten Solaranlagen müssen von den Stromkunden in den nächsten 20 Jahren mit 100 Milliarden Euro bezuschusst werden.
Bremsen ließe sich ein weiterer Anstieg nur durch eine grundlegende Änderung des EEG sowie durch niedrigere Vergütungen allen voran für die Solarenergie. Eine Erhöhung der EEG-Umlage auf mehr als vier Cent pro Kilowattstunde sei den Verbrauchern nicht zuzumuten, sagte FDP-Generalsekretär Patrick Döring Ende Mai. Doch schon den aktuellen Kürzungsversuch hat der Bundesrat erst mal gestoppt.
Vorteile durch mehr Wettbewerb
Einziges Trostpflaster vor allem für die privaten Haushalte dürfte der zunehmende Wettbewerb auf dem Strommarkt sein. So prognostiziert Dietrich Neumann, Leiter des Energie-Bereichs bei A. T. Kearney, der Energiewirtschaft "eine stärkere Dezentralisierung der Erzeugung". Eine Fülle neuer Marktteilnehmer würde in den kommenden Jahr auftreten, zum Beispiel Unternehmen aus der Telekommunikations- und der IT-Industrie. Diese würden Verkaufsplattformen für preisgünstigere Stromlieferverträge bieten.
Nicht viel besser als bei der Wirtschaftlichkeit der Energiewende sieht es bei der Versorgungssicherheit aus. Zwar mutet das Bild auf den ersten Blick eher freundlich an, da es 2011 im Großen und Ganzen nicht zu sehr viel mehr Netzausfällen als im Vorjahr gekommen ist.
Die Ursache, dass es in einzelnen Ballungszentren trotzdem zu häufigeren Störungen kam, sieht die Bundesnetzagentur allerdings nicht in der Energiewende. "Versorgungsgefährdungen aufgrund des Kernkraftausstiegs oder die Verlegung von der zentralen Kraftwerksproduktion auf dezentrale Erzeugung mittels regenerativer Energien hatten in keinem Fall einen erkennbaren Zusammenhang mit den Beeinträchtigungen", meldet die Behörde, "auch wenn dies seitens einzelner Unternehmer anders wahrgenommen werden mag."
Ausbau erneuerbarer Energien liegt im grünen Bereich
Dass die Prognose von WirtschaftsWoche und A. T. Kearney für die Versorgungssicherheit trotzdem negativ ist, hat andere Gründe. Zum einen erfüllt der Ausbau der Transporttrassen für Ökostrom zu weniger als 50 Prozent den Soll-Wert. Zum anderen ist die Kraftwerksreserve, die bei Versorgungsengpässen abgerufen werden muss, 2011 auf mickrige elf Prozent gegenüber 2010 gesunken. Ein beängstigender Wert, zumal Anfang Dezember ein österreichisches Ölkraftwerk aushelfen musste, damit in Süddeutschland nicht die Lichter ausgingen. Befürworter des Atomausstiegs interpretieren den Rückgang als Beweis für langjährige Überkapazitäten im Kraftwerkspark.
Weit im grünen Bereich liegt die Energiewende aktuell beim Ausbau der erneuerbaren Energien. 35 Prozent des Stroms sollen bis 2020 aus grünen Quellen wie Sonne, Wind oder Wasser stammen. Mit 20 Prozent Ende 2011 liegen Solaranlagen, Wasserkraftwerke und Windmühlen voll im Plan. Um die sonnigen Pfingstfeiertage gab es sogar einen Rekord: Laut Angaben des Internationalen Wirtschaftsforums Regenerative Energien steuerte Ökostrom in Deutschland mehr als 20 Gigawatt bei, das entsprach einer Leistung von 20 Atomkraftwerken. Im Jahresdurchschnitt tragen die Solaranlagen aber nur zu drei bis vier Prozent zum Strommix bei – ein krasses Missverhältnis zu den 100 Milliarden Euro Subventionen in Form der EEG-Umlage.
Ausbau von Offshore-Anlagen stockt
Allerdings täuscht die aktuelle Planerfüllung darüber hinweg, dass das Wachstum bei den grünen Energien gefährdet ist. Dies gilt vor allem für den Windstrom, der in großem Umfang von hoher See kommen soll. Denn der Ausbau der sogenannten Offshore-Anlagen stockt. Bis 2030 sollen 15 Prozent des deutschen Strombedarfs allein von ihnen stammen. "Das Ziel der Bundesregierung bis 2020 10 000 Megawatt und bis 2030 25 000 Megawatt in der Nord- und Ostsee zu installieren, muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund der ungelösten Probleme und der fehlenden Umsetzungsstrategie der Bundesregierung als fraglich angesehen werden", warnte vergangene Woche Meinhard Geiken, Bezirksleiter der IG Metall Küste. Tatsächlich sind gerade erst mickrige 220 Megawatt, also nur ein Prozent, installiert.
Zwar schätzt der Maschinenbauverband VDMA, dass zum Jahresende der Bau von zehn Offshore-Windparks mit einer Gesamtleistung von mehr als 2000 Megawatt angelaufen sein wird. Doch die größten Investitionshemmnisse wie Haftungsfragen bei Betriebsunterbrechungen nach Stürmen oder Kabelschäden sowie der fehlende Netzanschluss bleiben. Sie schrecken Investoren oder Versicherungskonzerne wie Allianz, Hannover Rück und Munich Re ab. Bis zur Sommerpause will die Bundesregierung zumindest einen Gesetzentwurf vorlegen, um die Haftungsfragen bei der Offshore-Windenergie zu lösen.
Bundesländer wollen Planungshoheit nicht abtreten
Die Bundesregierung will nun aufs Tempo drücken. Vor zwei Wochen haben die vier Stromnetzbetreiber ihre Ausbaupläne präsentiert, die nun sechs Wochen lang öffentlich diskutiert werden können. Nach dieser ersten Stufe der Bürgerbeteiligung prüft die Bundesnetzagentur die Leitungspläne, fasst sie zum Bundesbedarfsplan zusammen. Dann haben Bürger und Verbände erneut sechs Wochen Zeit für Einwände. Bei Trassen, die mehrere Bundesländer verbinden, möchte die Bundesnetzagentur gern die Planfeststellungsverfahren an sich ziehen, um den Ablauf zu beschleunigen. Aber noch blocken etliche Bundesländer, weil sie die Planungshoheit nicht an den Bund abtreten wollen.
Kurz vor dem Durchbruch stehen dagegen die Verhandlungen über die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung. Das Programm wird so reduziert, dass statt 1,5 Milliarden Euro nur noch eine Milliarde Euro in den öffentlichen Kassen fehlt. Länder und Kommunen bekommen einen Teil ihrer Ausfälle vom Bund ersetzt. Damit die Effizienz trotzdem wie gewünscht steigt, gibt der Finanzminister in Berlin noch einmal 300 Millionen für die Sanierung öffentlicher Gebäude dazu.
Peter Terium und seine Vorstandskollegen des Energieversorgers RWE lernten vergangenen Dienstag ihre Hoffnung für die Energiewende kennen. Beim Berliner Sommerfest des Stromriesen aus Essen demonstrierte der neue Umweltminister Altmaier, dass er keine Berührungsängste hat. Bis weit nach 23 Uhr blieb der ebenso kumpelige wie kugelige CDU-Mann, während sein Vorgänger den Besuch beim AKW-Betreiber stets vermieden hatte.
"Der steht für offenen Dialog", freut sich Terium, der sein Amt als oberster RWE-Boss in zwei Tagen antritt. Es darf bloß nicht beim Reden bleiben.