Ernährung Warum alle heiß auf Tiefkühlkost sind

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Grafik: Umsätze Tiefkühlkost

Aber Muffins. 60.000 Stück können die Westerwälder pro Tag produzieren, die blitzschnell nach dem Backen bei minus 35 Grad schockgefrostet werden. Und wenn ein Auftrag von Aldi hereinflattert – Hack produziert auch für Handelsketten wie Aldi, Kaufland oder die Metro-Abholmärkte –, dann glühen in Kurtscheid die Bleche. Bis zu 40.000 Torten wandern dann täglich in den Schockfroster und anschließend in das 300 Paletten fassende Tiefkühllager.

Vor allem Aldi Süd hat dem Tiefkühlabsatz in Deutschland einen Schub gebracht. Erst vor gut zehn Jahren begann die Südschiene des Discounters mit dem Verkauf von Tiefkühlkost. Mittlerweile bietet Aldi Süd mit 300 Tiefkühlprodukten das größte Angebot aller Billigketten. Darüber kann Oliver Speicher nur schmunzeln. Speicher ist Geschäftsleiter einer 6200 Quadratmeter großen Marktkauf-Filiale im Bielefelder Stadtteil Gadderbaum – und Herr über Deutschlands beste Tiefkühlabteilung. 2008 gewann er mit seinem Team den Cool Cup, der von einem Branchenblatt verliehen wird. Auf 350 Quadratmetern, in Truhen, die aneinandergereiht länger sind als ein Fußballplatz, bunkert Speicher im hinteren Teil des Marktes mehr als 1000 tiefgefrorene Lebensmittel.

Kaum ein Grundnahrungsmittel, das nicht im Repertoire wäre: von billigen Erbsen und Böhnchen der Eigenmarke „Gut und günstig“ über Bio-Garnelen von Deutsche See für 11,99 Euro je 200-Gramm-Beutel bis zur gespickten Rehkeule von Geti-Wilba für 32,98 Euro. Zehn verschiedene Sorten Brötchen, mehr als 300 Fertiggerichte und 60 verschiedene Bioprodukte. Und natürlich Pizza. Gut 100 Sorten.

Deutsche liegen bei Tiefkühlkostverbrauch im Mittelfeld

Braucht man so viele Pizzen? „Anscheinend schon“, sagt Speicher, „selbst die Sorte, die sich am schwächsten verkauft, lässt sich kaum aus der Truhe nehmen, ohne viele Kunden zu verärgern.“ Trotz Biomeeresfrüchten und Wildspezialitäten: Die Renner im Bielefelder Marktkauf, der zur Hamburger Edeka-Gruppe gehört, sind Klassiker, wie sie auch in Flensburg oder Berchtesgaden beliebt sind: Fischstäbchen, Rahmspinat, Schlemmerfilet Bordelaise und Lachsfilet rangieren auf den ersten Plätzen. „Dann erst kommt die erste Pizza, und zwar die Thunfischpizza von Dr. Oetker“, weiß Speicher. „Und nicht die Salami wie sonst überall.“

Bei den Kunden gilt als größtes Manko von TK-Ware die schlechte Wiederverschließbarkeit vieler Packungen sowie die Tatsache, dass man sich beim Heimweg sputen muss, um die Kühlkette nicht zu unterbrechen. Dennoch brummt das Geschäft. Speicher verbuchte in den vergangenen Jahren zweistellige Umsatzzuwächse. 2009 sind es bereits mehr als sechs Prozent. Luft nach oben ist vorhanden. Mit 39 Kilo Tiefkühlkost pro Kopf liegen die Deutschen in Europa nur im Mittelfeld, hinter den Briten mit 45 Kilogramm, den Schweden und Norwegern. Die größten TK-Freaks sind die US-Amerikaner: Dort mampft jeder Bürger im Schnitt mehr als 50 Kilogramm Tiefkühlkost. Allerdings haben sie auch mehr als 20 Jahre Vorsprung.

Bereits im März 1930 konnten die Einwohner von Springfield im US-Staat Massachusetts erstmals verpackte Tiefkühlkost im Supermarkt kaufen. Als Verkaufsmöbel dienten die damals schon üblichen Eiscremetruhen. Als Vater der seinerzeit noch gewöhnungsbedürftigen Lebensmittel gilt der Meeresbiologe Clarence Birdseye. Bei seinen Forschungsreisen erlebt er, wie Eskimos ihren Fisch und ihr Fleisch innerhalb von kürzester Zeit auf natürliche Art stocksteif frieren: Sie halten ihren frischen Fang bei Temperaturen von bis zu minus 45 Grad Celsius in den eisigen Wind. Der Fisch- und Fleischvorrat hält den ganzen Winter und – das ist das Entscheidende – schmeckt noch nach Wochen oder Monaten nach dem Einfrieren wie frisch.

Was natürliche Kälte kann, muss auch künstlich erzeugte schaffen, denkt sich Birdseye. Mit sieben Dollar Startkapital, einem Ventilator, Eis und Salz erfindet er die erste Schockgefrieranlage für Lebensmittel. In Deutschland fällt 1955 der Startschuss für TK-Kost auf der Ernährungsmesse Anuga in Köln. Dort stellen sechs Tiefkühlhersteller ihre Produkte dem Handel vor.

Zu dieser Zeit ist Iglo-Küchenchef Senning drei Jahre alt. Mit 19 beendet er seine Kochlehre und wird Geselle im Atlantic Hotel Kempinski in Hamburg. Später brutzelt er im Hilton in Düsseldorf, im Heidepark Soltau und auf der MS-Europa, bevor er 1984 bei Iglo anheuert. Seitdem ist er mit seinen Mitarbeitern ständig auf der Suche nach neuen Ideen und Geschmacksnuancen für Tiefkühlkost. Bisheriger Höhepunkt: Senning kreierte den Blubb-Spinat, den spätestens seit Verona Pooth, geborene Feldbusch, jeder kennt.

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