Familienunternehmen Erfolg mit der Natur

Das Familienunternehmen Rettenmaier aus dem Ostalbkreis trimmt ein uraltes Produkt - Naturfasern - ständig auf neu und erobert damit den Weltmarkt.

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Labortest mit Fasern für die Gel-Herstellung Quelle: Bert Bostelmann für WirtschaftsWoche

Ob Speiseeis, Tabletten, Fensterrahmen oder Fußbälle – Pflanzenfasern von J. Rettenmaier & Söhne (JRS) aus dem 2700-Seelen-Dorf Rosenberg auf der Schwäbischen Alb stecken heute, von Konsumenten unerkannt, in vielen Alltagsprodukten – und verbessern deren Eigenschaften.

Das war nicht immer so. Bis in die Siebzigerjahre konzentrierte sich das 122 Jahre alte Familienunternehmen auf die Produktion von Fasern und Cellulosepulvern, die bei der Herstellung von Duroplasten, Linoleum- und Steinböden Verwendung fanden. Dann war Seniorchef Josef Rettenmaier und seinem Sohn Josef Otto klar, dass sie neue Märkte für ihre Fasern erschließen mussten, sollte ihr Unternehmen im gleichen Tempo weiter expandieren. Dieser Innovationsgeist und die Konsequenz, mit der sie ein uraltes Produkt ständig modernisieren, bilden seither die Grundlage des Unternehmenserfolgs. „Unsere Stärken sind unsere Eigenwilligkeit und unsere Vielfalt“, sagt Josef Otto Rettenmaier.

Inzwischen hat sich der Mittelständler auf der ganzen Welt breitgemacht. An 14 Produktionsstandorten in Europa, USA und Indien beschäftigt er gut 1200 Mitarbeiter und will in diesem Jahr 440 Millionen Euro umsetzen. 80 Prozent der Produkte gehen in den Export; die Kunden sitzen in 120 Ländern.

Unbeirrt seinen Weg zu gehen, war schon das Credo von Firmengründer Rettenmaier, der ebenfalls Josef mit Vornamen hieß. Er ließ Anfang der Fünfzigerjahre Cellulosepulver entwickeln, ohne bereits zu ahnen, welch riesigen Anwendungsbereich er sich damit erschloss. Zunächst war das fein gemahlene Naturprodukt lediglich ein Hilfsmaterial bei der Papierherstellung. In Granulatform gepresst erleichterte es wenig später auch die Herstellung von Keramik-Formteilen.

Unter dem heutigen Seniorchef und seinem Sohn explodierte der Erfinderdrang förmlich. In kurzen Abständen fassten sie mit modifizierten und neuen Produkten in unterschiedlichsten Branchen Fuß. Wenn sich beispielsweise Tabletten, kaum im Magen angekommen, explosionsartig öffnen und den Wirkstoff gezielt freigeben, sind daran häufig Fasern aus dem Hause JRS beteiligt. In anderer Zusammensetzung verhindern sie die zu frühe Freisetzung von Wirkstoffen. In den USA werden bereits 80 und in Europa 70 Prozent aller Tabletten aus winzigen Fasern gepresst, in denen der Wirkstoff fein verteilt ist. „Da sind wir Weltmarktführer“, sagt Geschäftsführer Richard Salzer – und der Stolz ist ihm anzusehen. 40 000 Tonnen Fasern stellt JRS im Jahr für die Pharma-Industrie her.

Der Clou: Faserstaub lässt sich vollkommen gleichmäßig mit medizinischen Wirkstoffen vermischen. So können Tabletten deutlich kleiner werden. „Dann können auch Kinder sie gut schlucken“, nennt Harald Schlosser, Leiter des Geschäftsbereichs Innovationen, einen wesentlichen Vorteil.

Die Ausweitung auf inzwischen zehn Geschäftsbereiche garantiert Wachstum und Arbeitsplätze. Denn mit der Vielfalt kompensieren die Rettenmaiers den Wegfall oft langjähriger Umsatzrenner. So ist Durchschreibpapier, für das die Rosenberger Fasern lieferten, fast völlig vom Markt verschwunden. „Wenn so etwas passiert, brauchen wir Ersatz, und den schaffen wir durch ständige Neuerungen“, sagt Salzer. Das hochgesteckte Ziel: „JRS muss in jedem Geschäftsfeld Innovationsführer sein. Es sollte keine Produkte geben, in denen keine Naturfasern stecken.“

Letzteres sagt Salzer zwar mit einem Augenzwinkern, aber ganz so weit weg von der Wirklichkeit ist der Anspruch nicht. Wer käme zum Beispiel auf den Gedanken, dass in den Bällen, die in diesen Tagen bei den olympischen Fußballturnieren in Peking gegen die Tore gedroschen werden, Rettenmaier-Pflanzenfasern, ein-gearbeitet sind – zermahlen zu feinstem Pulver. Die Zugabe reduziert den Bedarf an teurem Kunststoff und verbessert die Spielbarkeit der Bälle. Das versichert Thomas Michaelis, Projektleiter für die Ballentwicklung bei Bayer MaterialScience. „Winzige Noppen auf der Oberfläche machen den Ball sehr griffig.“ Auch die Abdeckungen von Steckdosen und sogar Fensterrahmen werden zunehmend mit Naturfasern armiert. Dies ersetzt bis zu 25 Prozent des Kunststoffs.

Andere Produkte wären ohne Fasern nur die Hälfte wert. Fassadenputze würden schlecht haften und schnell bröckeln, Straßendecken aus Bitumen früh aufreißen. Sogar in Speiseeis finden sich Rettenmaiers Fasern, damit es nicht so schnell schmilzt.

Josef Otto Rettenmeier Quelle: Bert Bostelmann für WirtschaftsWoche

Im Eis stecken natürlich andere Fasern als im Bitumen. „Für Anwendungen im Lebensmittelbereich verwenden wir Cellulosepulver aus Früchten und anderen essbaren Pflanzen“, sagt Schlosser. Rückstände aus der Verarbeitung von Äpfeln, Weizen, Hafer und Erbsen sind beliebt, ebenso Cellulose, die bei der Herstellung von Kartoffelstärke übrig bleibt. Geschmacksveränderungen gibt es durch die feinen Fasern nicht. Deshalb sind sie auch geeignet, zum Verklumpen neigende Gewürze wie Paprika rieselfähig zu halten.

Ganz nebenbei ersetzen Fasern gesundheitsfördernde Ballaststoffe. „Wenn alle nur Vollkornbrot äßen, gäbe es weniger Probleme“, sagt Salzer. Doch der Trend gehe hin zu Weißbrot und Schokoriegeln. Deshalb empfiehlt Professor Walter Freund vom Institut für Lebensmittelwissenschaft und Ökotrophologie der Universität Hannover, ballaststoffarme Nahrungsmittel mit Fasern anzureichern. Die Nahrungsmittelindustrie tut dies bereits in großem Stil – und sieht weitere Vorteile. Nach den Erfahrungen von Jürgen Senneka, Leiter Produktentwicklung Backen beim Hamburger Mühlenbetrieb Kampffmeyer Food Innovation, bleiben Backwaren, die mit Apfelfasern angereichert sind, länger frisch.

Treue Kunden hat Rettenmaier auch unter Winzern. Wenn Wein aus Edelstahltanks so schmeckt, als sei er in einem traditionellen Barrique-Fass ausgebaut worden, könnte das an einem feinporigen und mit Eichenholzchips gefüllten Schlauch liegen, der seine aromaverstärkenden Stoffe an den Wein abgibt. JRS gehört zu den führenden Anbietern der kostensparenden Veredelungstechnik. Zum Sortiment gehören auch Chips, die Schinken, Würste und Fische geschmacklich veredeln.

Die jüngste JRS-Innovation dringt in einen Bereich mit großer Zukunft vor: in die Nanowelt. Den Unternehmensentwicklern ist es gelungen, Naturfasern so weit zu zerkleinern, dass sie zwischen 100 und 900 Nanometer groß sind – ein Menschenhaar ist 60-mal dicker. Was trivial klingt, erforderte jahrelange Forschung. „Die Fasern sind flexibel, sodass sie sich nicht einfach durch Mahlen zerkleinern lassen“, erläutert Innovationsleiter Schlosser. Mit einem „chemisch-mechanischen Verfahren“, Genaueres lässt er sich nicht entlocken, sei es dann doch gelungen.

Davon profitieren die Papier- und Druckindustrie. Die Innovation ermöglicht bei gleicher Qualität die Herstellung von dünnerem Papier, was Rohstoff und Energie spart. Weil die Druckerfarbe an der Oberfläche bleibt, statt in das Papier einzudringen, wird weniger Farbe verbraucht.

Noch ein Argument hat Josef Rettenmaier auf seiner Seite. „Alles, was wir produzieren, lässt sich auf natürlichem Weg entsorgen.“ Das gilt auch für „Cat’s Best“, dem einzigen Endprodukt der Rosenberger. Das Katzenstreu besteht aus reiner Cellulose. Es kann deshalb in den Komposter oder die grüne Tonne geschüttet werden. Über den gegenwärtigen grünen Rummel kann der Senior-Chef nur schmunzeln. „Wir haben schon organisch gewirtschaftet, als noch kein Mensch davon gesprochen hat.“

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