Finanzkrise Der tiefe Fall des US-Versicherers AIG

Es ist ein einsamer, trauriger Rekord der Wirtschaftsgeschichte: 60 Milliarden Dollar Verlust hat der US-Versicherer American International Group (AIG) laut Medienberichten im vierten Quartal 2008 geschrieben. Nun benötigt AIG zum dritten Mal Geld vom Staat. Wie der Konzern vom weltgrößten Versicherer zum größten Sorgenkind der US-Regierung wurde.

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Das Gebäude von AIG in New Quelle: dpa

Glückliche Retter sehen anders aus: Mit grimmigen Minen verließen der damalige US-Finanzminister Henry M. Paulson und Notenbankchef Ben Bernanke am 17. September 2008 eine Krisensitzung am Washingtoner Capitol Hill. Gerade hatten sie den den amerikanischen Abgeordneten erklärt, warum sie 85 Milliarden Dollar an Steuergeldern in den taumelnden Versicherungsriesen AIG steckten. Im Gegenzug für den staatlichen Notkredit sicherte sich die US-Regierung 80 Prozent an AIG – und übernahm so praktisch die Führung am einst weltgrößten Versicherer.

„Wo hört das auf? Wann wird eine Linie gezogen?“, empörte sich der republikanische Senator Richard Shelby nach der denkwürdigen Sitzung. Shelbys Frage ist nach wie vor gültig: Die Rettung von AIG hat sich für die US-Regierung zum Fass ohne Boden entwickelt. Denn der erste Rettungsring war nicht genug: Nochmals musste die US-Regierung Milliardenbeträge nachschießen, damit AIG nicht in den Stürmen der Finanzkrise unterging.

AIG mit größtem Quartalsverlust in der US-Wirtschaftsgeschichte

Insgesamt 150 Milliarden Dollar haben die USA bisher ins Überleben des taumelnden Versicherungsriesen investiert, der in 130 Ländern präsent ist. AIGs Talfahrt lässt sich am besten in Zahlen beschreiben: Noch im Jahr 2007 hatte der Versicherer eine Börsenkapitalisierung von 190 Milliarden Dollar. Heute ist das einstige Schwergewicht der Versicherungsbranche nicht mal mehr eine Milliarde Dollar wert. In den vergangenen 12 Monaten sank AIGs Aktienkurs von 35 Dollar auf nun 0,37 Dollar.

Nun steht AIG offenbar erneut das Wasser bis zum Hals: Berichten des US-Fernsehsenders CNBC zufolge wird AIG demnächst einen Verlust von 60 Milliarden Dollar in den letzten drei Monaten des Jahres 2008 bekanntgeben müssen. Das ist der größte Quartalsverlust, den ein Unternehmen je in der gesamten Wirtschaftsgeschichte der USA erlitten hat. Schuld daran sind Abschreibungen auf Geschäftsimmobilien, hieß es. Im Quartal davor lag das Minus bei 24,5 Milliarden Dollar.

Eine lebensbedrohliche Schieflage also, die wiederum in hektischen Krisensitzungen zwischen dem AIG-Management und Vertretern der US-Regierung gipfelt. Denn AIG braucht offenbar weitere Milliarden, um zu überleben. Springt die US-Regierung nun erneut ein, kämen die US-Steuerzahler AIG zum dritten Mal in nur fünf Monaten mit Milliardenbeträgen zu Hilfe.

Hohes Risiko mit CDOs

Mitschuld an der Misere trägt auch jener Mann, der AIG groß gemacht hat: Maurice „Hank“ Greenberg. Über vier Jahrzehnte lang führte er AIG mit eiserner Hand, bis er 2005 wegen eines Bilanzierungstricks zurücktreten musste. Aus einem kleinen Versicherer formte der Sohn eines Taxifahrers ein globalen Finanzkonzern mit Traum-Renditen von jährlich bis zu 15 Prozent. Getreu dem Firmenmotto „Für jedes Risiko bieten wir eine Lösung“ bot AIG eine enorme Bandbreite an Versicherungen an: Von der Unfallpolice bis hin zu Zinsswaps und Flugzeugleasing. Greenberg expandierte teils auch in Geschäfte mit hochkomplexen Finanzvehikeln. Er „versicherte Risiken, an die sich kaum andere herangewagt hätten“, schrieb das US-Magazin Business Week einmal.

Mitte der 1980er-Jahre suchte Greenberg nach neuen Geschäftsfeldern, die AIG unabhängiger vom Versicherungsgeschäft machen sollten. Im Jahr 1987 stieg AIG in das Geschäft mit Derivativen ein. Aber erst ein Jahrzehnt später hob das Geschäft mit den Kreditderivativen so richtig ab. AIG versicherte dabei Kredite gegen Ausfälle – und wurde dank seines ausgezeichneten Kreditratings rasch zum führenden Anbieter. Bald bot AIG auch Absicherungen für andere Kontrakte an, etwa für Collateralized Debt Obligations (CDOs). Dabei wandelten Banker gebündelte Zahlungsströme aus Schulden in Wertpapiere um. Diese Wertpapiere konnten dann weiterverkauft werden. Besonders gerne wurde dieses Instrument bei der Verbriefung von Immobilienkrediten eingesetzt.

AIG verließ sich bei der Bewertung der Risiken auf ein neues, von einem Finanzprofessor an der Eliteuniversität Yale entwickeltes Modell, wie die Wochenzeitung „Die Zeit“ vor kurzem beschrieb. Doch dieses Modell hatte einen entscheidenden Haken: AIGs CDO-Vertragspartner konnten neue Sicherheiten verlangen, falls der Wert der versicherten Kreditbündel fiel. Dieses Risiko hatte das Yale-Computermodell schlicht nicht berücksichtigt. Als die Immobilienblase platzte, forderten die Vertragspartner reihenweise neue Sicherheiten ein. Diese Forderungen trieben den Versicherungsriesen, der noch 2007 sechs Milliarden Dollar Gewinn erzielte, an den Rand der Pleite.

Europäische Banken hängen mit drinnen

AIG dichtzumachen ist aber alles andere als leicht: Denn AIGs globalen Verflechtungen würden weltweit für ein finanzielles Erdbeben sorgen. Ein Swap-Portfolio in Höhe von 441 Milliarden Dollar steht in AIGs Büchern. Laut der „Zeit“ sind „hauptsächlich europäische Banken“ Swap-Verträge von AIG in Höhe von 379 Milliarden Dollar eingegangen. Eine Pleite des Versicherers würde also auch Europas Bankenlandschaft schwer treffen.

Dieses so schön als „systemisches Risiko“ bezeichnete Horrorszenario ist der Grund dafür, warum die US-Regierung AIG noch immer die Stange hält. Die Rückabwicklung der jeweils einzeln ausgehandelten CDO-Verträge ist für AIG alles andere als einfach. Der Konzern versucht deshalb, möglichst viele Unternehmensteile loszuwerden. Für seine Lebensversicherungssparte American Life Insurance hat AIG bereits Gebote über 11,2 Milliarden Dollar erhalten – dieses Angebot könnte aber noch auf acht Milliarden Dollar schrumpfen. Einen US-Spezialversicherer hat AIG bereits an die Münchner Rück verkauft. Auch für das Vermögensmanagement von AIG gibt es Medienberichten zufolge Gebote von privaten und strategischen Investoren. Viel Geld müssen sie dafür aber nicht lockermachen: Der Preis für die Sparte liegt bei rund 500 Millionen Dollar.

Kommenden Montag wird AIG dann seine Bilanz für 2008 vorlegen. Am Wochenende soll der Verwaltungsrat die neuen Rettungsmaßnahmen mit der US-Regierung besiegeln. Für den Fall des Scheiterns hat AIG bereits einen Insolvenzantrag vorbereitet, hieß es. Wie auch immer es ausgeht: Für die US-Steuerzahler ist AIG längst zum teuren Risikofall geworden.

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