Fotograf Darchinger im Interview "Majestät, mehr Zähne bitte!"

Der Fotograf Jupp Darchinger über das Wirtschaftswunder, seine Freundschaft zu Helmut Schmidt, die Dispute mit Helmut Kohl und eine frühe Begegnung mit dem Papst.

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Josef Heinrich Darchinger, Quelle: dpa-dpaweb

WirtschaftsWoche: Herr Darchinger, gerade haben wir in Deutschland 60 Jahre soziale Marktwirtschaft gefeiert – markiert durch die Einführung der D-Mark am 21. Juni 1948. Können Sie sich noch erinnern?

Josef Darchinger: Ganz genau: Es hat geregnet, als wir das Geld geholt haben – in einer Schule, ganz in der Nähe des Bonner Stadthauses.

Und was haben Sie und Ihre Frau von Ihrem Startgeld gekauft?

Eine neue Aktentasche, für 40 Mark.

Was für ein Luxus ...

Klar war das nicht unbedingt notwendig, das Geld war ja knapp. Ersparnisse waren auf einmal fast nichts mehr wert – unser Sparbuch, auf dem über Nacht 500 Reichsmark zu drei D-Mark und 25 Pfennigen zusammenschmolzen, haben wir heute noch. Aber ich lief damals immer noch mit meinem alten Lederschulranzen herum, an den ich beim Sattler einen Tragegriff hatte einbauen lassen. Eine Art vorgezogenes Geschenk zu meinem 23. Geburtstag ein paar Wochen später. Ich sollte wie ein ordentlicher Herr aussehen. Das lag meiner Frau am Herzen.

Schaufenster und Regale waren quasi über Nacht wieder voll, die Produktion lief wieder an. Die Magie des Wirtschaftswunders – wie greifbar war die für Sie?

Es gab keine Magie, für so was hatte man damals keine Zeit. Der Alltag hat einen in Anspruch genommen. Es ging darum, die Ärmel hochzukrempeln und immer weiterzumachen, Tag für Tag. Um sich ein bisschen Wohlstand erlauben zu können, vielleicht mal in Urlaub zu fahren. Ich habe mich damals immer gefreut, wenn es auf den Freitag zuging – da war man gespannt, was wohl in der Lohntüte sein wird.

Eine Szene, die Sie später auch fotografiert haben. Genauso wie Kinder vor einem Bonbon-Automaten, Kaffeekränzchen im Wohnzimmer, das wöchentliche Bad im Waschzuber in der Küche. Wie haben Sie Ihre Motive gefunden?

Ich möchte fast sagen: Viele Motive haben mich gefunden, drängten sich mir förmlich auf. Ob Kinder, die in Ruinen spielten, oder die neue, bunte Fassade von Neckermann auf der Frankfurter Zeil, die damals noch völlig zerbombt war. Ich habe Land und Menschen mit wohlwollendem Staunen betrachtet. Oft konnte ich nicht vorbeigehen, ohne auf den Auslöser zu drücken. Im Geheimen habe ich aber nie fotografiert. Das entspricht nicht meiner Art. Ich bin auf die Menschen zugegangen, mit Rücksicht und Einfühlungsvermögen.

Hatten Sie keine Bedenken, die Menschen bloß zustellen? Arm macht ja nicht immer sexy...

Es gibt keine unfotogenen Menschen, jeder ist auf seine Weise schön. Und manchmal ging es einfach darum, Missstände zu zeigen: Etwa den kommunistischen Ex-KZ-Häftling beim Zählen seiner spärlichen Rente in seiner armseligen Baracke. Dafür schäme ich mich heute noch, das wollte ich für die Nachwelt dokumentieren. Mit Sozialkitsch hatte ich nichts am Hut. Ich hätte es nicht ertragen, wenn der Wahrheitsgehalt eines meiner Bilder auch nur angezweifelt worden wäre. Bilder müssen wahr sein. Manchmal habe ich aber ein bisschen Regie geführt.

Zum Beispiel?

Beim Bild mit den Jungs am Bonbon-Automaten: Die haben erst auf der Straße Fußball gespielt. Ich habe sie fotografiert und ihnen ein bisschen Geld dafür gegeben. Und schwups hingen sie alle an diesem Automaten und steckten ihre gerade verdienten Groschen hinein. Da hab ich gleich noch mal auf den Auslöser gedrückt.

Auf vielen Ihrer Bilder schauen Menschen trotz der ärmlichen Verhältnisse auffallend gut gelaunt in die Kamera. Woher dieser Optimismus?

Das hat einen ganz schlichten Grund: Diese Leute haben den Bombenkrieg miterlebt und waren, trotz Hunger, einfach froh, nachts nicht mehr ständig raus aus dem Bett und rein in den Bunker zu müssen. Das war doch eine ganz neue Perspektive. Und dann begann ja auch der Wirtschaftsmotor wieder zu laufen. Dieser Optimismus war fast greifbar.

Ausdrucksstarkes Statement des Aufbruchs mit Farbfotos

Auch, weil Sie viel mit Farbe fotografierten – obwohl das Material rar und extrem teuer war, es kaum Möglichkeiten gab, die Filme zu entwickeln oder gar in Farbe zu veröffentlichen. Warum dieses Faible für Pastelltöne?

Das kam durch die Filme – sie waren von Agfa, wurden im Osten produziert und hatten diese eigentümliche Farbgebung. Über meine Frau, eine ausgebildete Fotografin und Laborantin, kamen wir an diese Filme und Chemikalien. Die ersten Farbfotos machten wir bei unserem ersten Urlaub 1951, einer Radtour durch die Schweiz. Bergauf haben wir geschoben, bergab sind uns die Bremsen durchgebrannt. Die Natur in Farbe festzuhalten hat mir unheimlich Spaß gemacht. Ein ausdrucksstarkes Statement des Aufbruchs, gegen das Grau der Ruinen. Man konnte wieder Farbe bekennen. Auch die SPD wollte es so.

Die SPD?

Ja. Die suchte damals nach neuen Wegen, Mitglieder zu gewinnen. Die Leute wollten ja auch unterhalten werden – so hat die SPD die Tonbildfolge erfunden. Dafür wurden bewusst nicht Schwarz-Weiß-Bilder, sondern Farbdias ineinander geblendet und mit Musik und Ton unterlegt. Eine Art frühe Diaschau, für die eben Fotomaterial gebraucht wurde. Dafür hat die SPD mich auf Reportagereisen durch Deutschland geschickt. Und ich habe eigens eine Maschine entwickelt, aus der Spielzeugkiste meines Sohnes Frank. Damit konnte ich von unten die Diapositive anleuchten und von oben mit einer fest montierten Kamera abfotografieren. Heute unvorstellbar.

So wie eigentlich Ihre gesamte Fotografenkarriere. Ihr Schicksal schien ja die heimische Scholle zu sein.

Stimmt. Wir hatten selbst ein Stück Land, auf dem wir unser Gemüse zogen. Und ich hatte nach Abschluss der Volksschule 1940 eine Ausbildung zum Landwirt gemacht, wollte dann in einem der großen Saatgutbetriebe in Mitteldeutschland arbeiten.

Mussten dann aber zum Militär...

Mein Lehrherr war verzweifelt, als ich ihm den Einberufungsbefehl zeigte. Ich wurde unmittelbar nach meinem 17. Geburtstag zum Reichsarbeitsdienst geholt, später in ein Panzerbataillon gesteckt, kurz vor Kriegsende in Ungarn schwer verletzt und landete in französischer Gefangenschaft. Erst zum Minensuchen, dann als Knecht bei einer Familie in den Hochvogesen. Manchmal habe ich den Gänsen die Mastkartoffeln stibitzt, um nicht zu verhungern. Aber ich habe dort auch was gelernt.

Was denn? Französisch?

Das auch. Aber vor allem ein Grundverständnis für Demokratie. Der Familienvater leitete den Ortsverband der Kommunistischen Partei, auf den Versammlungen wurde rege diskutiert, Anträge wurden gestellt, abgestimmt. Das kannte ich nicht.

Zurück nach Deutschland wollten Sie trotzdem?

Ja. Der dritte Fluchtversuch hat geklappt, an Allerheiligen 1947. Zurück in Bonn, mussten mich meine Eltern anfangs mit ihren Lebensmittelmarken durchfüttern.

Warum wollten Sie dann unbedingt in die Fotografie einsteigen? Als Landwirt hätten Sie eher was zu beißen gehabt...

Stimmt schon, Fotograf wurden damals eher Töchter aus arrivierten Familien, die das Abitur nicht geschafft hatten. Da war für Leute wie mich eigentlich kein Platz. Aber in der Landwirtschaft hätte ich damals keine Arbeit gefunden. Und als in Bonn ein Fotolabor aufmachte, habe ich dort eine sechsmonatige Ausbildung als Laborant gemacht, für 160 Reichsmark Monatslohn. Davon konnte man sich weder Schuhe noch was zum Anziehen leisten. Aber für mich wurde ein Traum wahr.

Warum?

Durch einen fotografiebegeisterten Onkel hatte ich schon als Sechsjähriger ein Faible dafür entwickelt. Ich begleitete ihn oft auf seinen Spaziergängen, bei denen er fotografierte. Danach nahm er mich in seine winzige Dunkelkammer in einem Lattenverschlag unter der Kellertreppe mit. Zu sehen, wie im rubinroten Licht der Petroleumlampe Konturen auf der Fotoplatte erkennbar wurden – diese Faszination hat mich nie wieder losgelassen.

Wann hatten Sie Ihre erste Kamera?

1949. Eine Leica IIIc, mit drei Objektiven, für 1000 Mark. Die haben wir uns mit monatlichen Raten mühsam vom Munde abgespart. Die Kamera war mein ganzes Kapital, als ich mich 1952 selbstständig gemacht habe, als Ein-Mann-Agentur, in einem winzigen Studio unterm Dach eines Mietshauses, in dem wir damals wohnten. Entwickelt habe ich meine Bilder in der Besenkammer des einstigen Dienstbotentrakts. Die war nicht viel größer als ein Quadratmeter.

Wie schwer war der Start?

Gewartet hat damals keiner auf mich. Ich musste mich ein bisschen reinschleichen.

Wie haben Sie das gemacht?

Ich war fleißig, habe einfach durchgehalten. Und hatte eine klare Vorstellung, wie ein gutes Foto auszusehen hatte.

Nämlich wie?

Ich wollte eine neue Bildsprache. Weg vom steifen Shakehands-Bild, wie es schon bei Kaiser Wilhelm üblich war. Dieses Statische war mir zuwider, ich wollte Dynamik, Leben. Das Bild komprimieren, um mehrere Aussagen hineinzulegen – etwa durch die richtige Beleuchtung, das Spiel zwischen Schärfe und Unschärfe, die Wahl eines interessanten Hintergrunds, der dem Bild eine dritte Dimension gab. Und Gegenlicht – das macht schön, das verklärt. Gleichzeitig wurden die Kameras besser. Man konnte Bildausschnitt, Tiefenschärfe und Belichtungszeit kontrollieren. Das war wie eine Offenbarung.

Gute Technik allein macht keine guten Bilder...

Richtig. Ich wollte die Person hinter der Fassade zeigen, Zugang zur Person finden.

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