Fotokunst Vom Klavier zum Fotoapparat

Die Fotogeschichte kennt hauptsächlich männliche Fotografen. Auch unter den Frauen gab es wahre Kamerakünstler. Das illustrieren neue Ausstellungen und Forschungen.

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Claude Cahun und Marcel Moore: Nichtige Geständnisse (Aveux non avenus), Tafel 1 (= roemisch 1), 1929-1930, Fotomontage. Privatsammlung. (Ausschnitt) Quelle: handelsblatt.com

Lange war der Beitrag fotografierender Künstlerinnen zur Avantgarde der 1920er/1930er Jahre bis 1980 unerforschtes Terrain. Erst in den letzten 15 Jahren schafften sie es ins Scheinwerferlicht von Historikern und Wissenschaftlern. Ihre Rehabilitierung geht parallel zur rasanten Entwicklung des Fotografiemarktes seit den 1990er-Jahren.

Aktuelle Ausstellungen in Museen und Galerien sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen zeigen die Rolle und den Anteil der Frauen an der Avantgarde auf. In Deutschland setzt sich der Kunsthistoriker Herbert Molderings für sie ein, die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf trifft letzte Vorbereitungen für die ab Oktober laufende Ausstellung „Die andere Seite des Mondes“; in Frankreich beschäftigen sich unter anderem der Sammler, Autor und Kurator Christian Bouqueret und der Theoretiker François Leperlier mit dem Thema und in Spanien ist der Kurator Juan Vicente Aliaga einer der besten Kenner der Frauen-Fotografie-Szene.

Ikone der Ausstellungsmacher

Leperlier und Aliaga stehen hinter der Einzel-Schau über die vielseitige Claude Cahun (1894-1954) im Fotomuseum „Jeu de Paume“ www.jeudepaume.org in Paris. Sie war Fotografin, Dichterin, Schauspielerin und politische Aktivistin und wurde in den letzten 15 Jahren zur Ikone der Ausstellungsmacher, Essayisten und Galeristen. Ein Status, auf den die in New York geborene Französin Florence Henri (1893-1982) noch kein Anrecht hat. Das hängt vielleicht mit ihrem ausgedünnten Fotomarkt und ihrer lückenhaften Biografie zusammen. Cahuns Ikonen-Status entstand aus ihrer faszinierenden, exzentrischen Persönlichkeit, die dank ihrer minuziös inszenierten Selbstporträts bekannt ist.

Beide Künstlerinnen sind rar am Fotomarkt. Die sorgsam konstruierten Sujets von Henri kommen höchst selten auf den Markt, wie Fotoexperten und Galeristen einhellig bestätigen. „Oft handelt es sich um zweitrangige Bilder“, schränkt Rudolf Kicken ein. Wenn aber ein gutes Foto auftauche, würde so etwas schon mit 150.000 Euro bewertet.

Kreativ in Paris und Berlin

Das Phänomen der extremen Kreativität, die Berlin und Paris zwischen den Weltkriegen zu Künstlerzentren machte, entstand aus dem kosmopolitischen „Melting Pot“, der Intellektuelle und Künstler aus allen Ländern Europas und den USA in die beiden Städte zog. Viele junge Frauen verschiedenster sozialer und nationaler Herkunft kamen nach Paris, um mit dem Medium Fotografie zu experimentierten. Ein klarsichtiger Macho erfand die Kurzformel für die meist aus bürgerlichen Familien stammenden Damen: „Vom Klavier zum Fotoapparat“.

In der Tat wurde der Fotoapparat für viele Frauen zum Mittel der Selbstbestimmung und der finanziellen Unabhängigkeit. Etwa 20 Frauen gelang es, in Paris als Fotografinnen relativ bekannt zu werden, darunter die Deutschen Germaine Krull, Gisèle Freund und Ilse Bing, die Österreicherin Lisette Model und die beiden Französinnen Claude Cahun und Florence Henri. Die älteste war die finanziell solide abgesicherte Laure Albin Guillot. Sie unterhielt ein eigenes Fotostudio in ihrer Pariser Villa, wo sie Großbürger porträtierte, aber daneben ihre eigenen Fotorecherchen fortsetzte. Auch Dora Maar, die spätere Gefährtin von Pablo Picasso, teilte mit Pierre Kéfer ein Atelier in dessen Elternhaus in Neuilly.

Ein Leben als Roman

Die Biografie der Claude Cahun hat Romancharakter. Als Lucy Renée Mathilde Schwob 1894 in Nantes geboren, begann die Tochter eines Zeitungsherausgebers sehr früh als Journalistin. Mit 15 Jahren verliebte sie sich in die um zwei Jahre ältere Zeichnerin und Bildhauerin Suzanne Malherbe, mit der sie bis zu ihrem Tode zusammenlebte. Durch die Heirat des Vaters Schwob mit der Mutter von Malherbe wurden die beiden jungen Frauen sozusagen Schwestern. Die Bezeichnung „The Sisters“ umschrieb die damals noch nicht nennbare lesbische Beziehung, als sich das Künstlerinnen-Paar 1938 definitiv auf der Insel Jersey niederließ.

Ab 1917 wählte Lucy Schwob den für Männer und Frauen gebräuchlichen Namen Claude und als Familiennamen den ihrer Mutter Cahun. Suzanne Malherbe signierte ihre Künstlerarbeiten mit „Moore“, ergänzt von dem männlichen Vornamen Marcel. Claude Cahun frequentierte und fotografierte in Paris unter anderem die Surrealisten, denen sie geistig und künstlerisch sehr nahe stand. Dazu zählten die Schriftsteller André Breton, Robert Desnos, Henri Michaux, Gertrude Stein und die Verlegerinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach, die Herausgeberin der Schriften von James Joyce.

Politischer Widerstand

Leben und Werk der Claude Cahun bilden ein einheitliches Ganzes: Durch ihre Gedichte und Theaterauftritte bekannt, zog ihr provokantes Äußeres – ein kahl geschorener Kopf mit rosa oder gold gefärbtem Kurzhaar und Männerkleidung – die Blicke an. Ihre politische Einstellung führte während der deutschen Besatzung der Insel Jersey zum aktiven Widerstand und trugen ihr und Moore einen monatelangen Gefängnisaufenthalt und das (nicht vollzogene) Todesurteil ein. Nach ihrer Festnahme vernichteten die Nazi den Großteil ihres Werkes und Archivs.

Ihre Fotografien vertrieb die New Yorker Zabriskie Gallery und der Berliner Galerist Hendrik Berinson, der 2007 eine Cahun-Ausstellung zeigte. Ihren Höchstpreis auf einer Auktion hält Christie’s New York mit 110.500 Dollar seit Oktober 2008.

Ausstellungen, die Epoche machten

Im Gegensatz zu Cahun ist das Leben von Florence Henri nur bis zu ihrer Niederlassung in Paris im Jahre 1928 bekannt. 1893 in New York als Tochter eines Franzosen und einer Deutschen geboren, war sie bereits mit 14 Jahren Vollwaise. Ihr Erbe erlaubten es ihr jedoch zu reisen und zu studieren. Sie lebte in Rom und England, studierte Klavier in Berlin und nahm bei Kurt Schwitters am Bauhaus und bei Fernand Léger in Paris ein Malerei und Fotografiestudium auf. Henri nahm auch an den Epoche machenden Fotografie-Ausstellungen in Essen „Photographie der Gegenwart“ und in Stuttgart „Film und Photo“ teil.

Henris streng konstruierte, konstruktivistisch aufgebaute Selbstporträts vor Spiegeln beeinflussten Ilse Bing, die ihretwegen nach Paris kam, aber auch Gisèle Freund. Der kreative Impetus einiger Werbefotografien verwandelte Henri in Meisterwerke, wie die Reklame für Jeanne Lanvin. Henri gab während des Zweiten Weltkrieges die Fotografie endgültig auf und widmete sich nur noch der Malerei.

Diskretes Privatleben

Durch die Hände des Experten des Pariser Auktionshauses Millon & Associés, Christophe Goeury, ging die signierte „Suite von 16 Akt-Fotografien“ von 1934, die im Mai 2008 unter den Hammer kam. Sie stammte aus dem direkten Nachlass der beiden abgebildeten Modelle, der Malerin Honor David und der ihr affektiv nahe stehenden Varietékünstlerin Line Viala. Für den Experten ist die homosexuelle Komponente der Beziehung zwischen den Modellen und der Fotografin keine Frage. Vielleicht erklärt dies die Diskretion, die das Privatleben von Henri umgibt. Die Auktionspreise lagen zwischen 7.000 und 13.000 Euro. Der höchste Auktions-Zuschlag galt einem „Selbstporträt“ von 1928, für das Sotheby’s in London im Mai 1997 41.000 Pfund verbuchen konnte.

Die Berliner Kicken Gallery kann mit einem – noch zu Lebzeiten der Fotografin erschienenen „Portfolio Florence Henri“ mit zwölf Abzügen von 1974 aufwarten. Es erschien in einer Auflage von 50 Exemplaren und kostet 24.000 Euro.

Die Einzel- und Gruppen-Ausstellungen beleuchten nicht nur die Ästhetik, Arbeitsweise und den historischen Kontext der Avantgarde-Künstlerinnen. Sie illustrieren auch bestens, dass die Fotografinnen genauso kreativ und innovativ wie ihre bekannteren männlichen Kollegen waren.

"Claude Cahun". Jeu de Paume, Paris, bis 25. September

„Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde“, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf, 22. Oktober 2011 bis 15. Januar 2012

Bouqueret, Christian: „Les femmes photographes de la Nouvelle Vision en France 1920-1940“. Katalog der Ausstellung von 1998 im Hôtel Sully, Paris und im Musée Nicéphore Niépce in Chalon-sur-Saône (vergriffen)

Bouqueret, Christian: „Des années folles aux années noires“. Marval, Paris, 1997 (vergriffen)

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