"Das sind doch bloß Apfelsinenkisten", sagten die Skeptiker. Als Ikea vor 40 Jahren sein erstes Einrichtungshaus in Deutschland eröffnete, ernteten die Schrankwände aus dem Norden in der Branche Verwunderung, Ablehnung und Spott.
Zu billig, zu labberig und kein echtes Handwerk, urteilten die Möbelbauer. Doch die Kunden urteilten anders. Auf das erste Ikea-Einrichtungshaus in München folgten binnen kurzer Zeit weitere in Köln, Brinkum und Großburgwedel. 48 Ikea-Häuser gibt es zurzeit in Deutschland, weitere sind geplant.
Der Siegeszug der Möbelkette hat nicht nur deutsche Wohn- und Schlafzimmer, sondern unser Verhältnis zu Möbeln insgesamt verändert. Der Psychologe Stephan Grünewald erklärt, warum viele Kunden Schweden-Pressholz der deutschen Eiche vorziehen und bislang kein Skandal Ikea schaden konnte.
Zur Person
Stephan Grünewald ist Diplom-Psychologe, Mitbegründer des rheingold-Instituts und Autor. Er hat seit zahlreiche Fachbeiträge und Studien zu den Themen Markenführung, Werbewirkung, Lebensalltag, Jugend und Kultur veröffentlicht. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit zählt die Trend- und Gesellschaftsforschung.
Herr Grünewald, als Ikea 1974 die erste Filiale in Deutschlande eröffnete, herrschte in deutschen Wohnzimmern das Gelsenkirchener Barock vor. Wie hat Ikea unser Verhältnis zu Möbeln verändert?
Das war damals eine echte Revolution. Das Gelsenkirchener Barock war ein Ausdruck für den Zeitgeist der Sechzigerjahre. Die Eichenschrankwand war in ihrer Massivität Sinnbild für eine Früh-Versargung. Man umgibt sich schon zu Lebzeiten mit dem Material, das einen später ins Jenseits begleitet. Ikea hat hingegen die Revolte der 68er aufgegriffen und mit diesem zementierten Zeitgeist gebrochen. Die Möbel wurden kleiner, flexibel und kombinierbar.
Wie Ikea Deutschland erobert
Entspricht der heutige Ikea-Kunde noch dem 68er-Revoluzzer?
Ikea hat es verstanden, unterschiedliche Ströme im Zeitgeist aufzugreifen. In den Anfangsjahren war das die Generation, die lieber mit Billy-Regalen oder in einem VW Bully gelebt hat. Man wollte nichts Festes, sondern war mit einem Provisorium auf Sinnsuche. In den heutigen Krisenzeiten ist aber das Ankommen wichtiger. Ich will meinen Rückzugsort einrichten.
Wie sieht so ein Rückzugsort aus?
Ein Ort, an dem ich mich buchstäblich zuhause fühle. Wo ich liebevoll empfangen werde. Wo nicht nur meine Liebsten, sondern alle Dinge des Lebens ihren Platz haben und gut aufgehoben sind.
Wer bei Ikea kauft
Weiblich: 54,3 Prozent (Bevölkerung 51 Prozent)
Männlich: 45,7 Prozent (Bevölkerung 49 Prozent)
Ikea-Kunden in Deutschland im Vergleich mit der Bevölkerung im Jahr 2013
Quelle: Statista, VuMA // Stand: 2013
14-19 Jahre: 11,3 Prozent (Bevölkerung: 7 Prozent)
20-29 Jahre: 25,4 Prozent (Bevölkerung: 14 Prozent)
30-39 Jahre: 20,1 Prozent (Bevölkerung: 13,6 Prozent)
40-49 Jahre: 21,6 Prozent (Bevölkerung: 18,8 Prozent)
50-59 Jahre: 13 Prozent (Bevölkerung: 16,8 Prozent)
60-69 Jahre: 5 Prozent (Bevölkerung: 12,5 Prozent)
70 Jahre und älter: 3,6 Prozent (Bevölkerung: 17,4 Prozent)
Ledig: 40,9 Prozent (Bevölkerung: 27,9 Prozent)
Verheiratet: 49,7 Prozent (Bevölkerung: 54,6 Prozent)
Geschieden: 7,5 Prozent (Bevölkerung: 8,8 Prozent)
Verwitwet: 1,9 Prozent (Bevölkerung: 8,7 Prozent)
Kein eigenes Einkommen: 13,6 Prozent (Bevölkerung: 9,9 Prozent)
Bis unter 500 Euro: 8,9 Prozent (Bevölkerung: 8,1 Prozent)
500 bis unter 1.000 Euro: 19,1 Prozent (Bevölkerung: 21,1 Prozent)
1.000 bis unter 1.500 Euro: 21 Prozent (Bevölkerung: 24,1 Prozent)
1.500 bis unter 2.000 Euro: 16,8 Prozent (Bevölkerung: 16,8 Prozent)
2.000 bis unter 2.500 Euro: 9,9 Prozent (Bevölkerung: 9,8 Prozent)
2.500 bis unter 3.000 Euro: 5 Prozent (Bevölkerung: 4,5 Prozent)
3.000 bis unter 3.500 Euro: 2,6 Prozent (Bevölkerung: 2,4 Prozent)
3.500 bis unter 4.000 Euro: 1,1 Prozent (Bevölkerung: 1,3 Prozent)
Mehr als 4.000 Euro: 2 Prozent (Bevölkerung: 2 Prozent)
Und warum tun wir uns den Stress an, diesen Rückzugsort selbst zu bauen?
Ein Teil der Werteanmutung liegt im Zusammenbau des Möbels. Selbst, wenn ich nur ein paar Schrauben in vorgefertigte Teile gedreht habe, trägt es meine Handschrift. So hat es einen deutlich höheren ideellen Wert für mich. Genau das beschreibt der Ikea-Effekt, der inzwischen auch in der Wissenschaft etabliert ist.
Warum kein Skandal Ikea schaden kann
Was macht die Faszination aus? Schließlich ist es nur ein Möbelhaus.
Nein, es ist viel mehr als ein Möbelhaus. Ikea verkauft ein Lebensgefühl, das man immer wieder auffrischen kann. Sobald sich in meinem Leben etwas ändert, kann ich für wenig Geld meine Einrichtung den neuen Umständen anpassen. Selbst 75-jährige Senioren gehen heute zu Ikea – in dem Bewusstsein, dass sie diese Möbel überleben werden. In einigen Jahren gehen sie wieder hin und kaufen das, was ihnen dann gefällt oder ihren neuen Lebensumständen am besten entspricht.
Pressholz schlägt also die gute deutsche Eiche?
Die Verbraucher sind insgeheim froh, dass die Möbel nicht ewig halten. Heute haben die meisten Menschen lieber ein charmantes Provisorium, das sich ihrem Leben anpasst, als das eine Möbelstück, das Generationen hält.
Lohnt sich trotzdem das im August angekündigte lebenslange Rückgaberecht?
Das ist ein sehr geschickter Marketingzug, es ist sehr positiv aufgenommen worden. Dennoch bleibt die zentrale Motivation, nicht alte Sachen zurückzugeben, sondern neue zu kaufen. Wenn ein Möbelstück über Jahre Teil meines Lebens war und ich es auch selbst aufgebaut habe, will ich es nicht zurückgeben. Bevor ich es wegwerfe oder zurückgebe, stelle ich es in den Keller oder auf den Dachboden, da viele Erinnerungen daran hängen. Die Zahl derer, die dieses Rückgabe-Angebot nutzen, wird also überschaubar bleiben.
Ikea ist in Deutschland auf Wachstumskurs
Umsatz: 3,48 Milliarden Euro
Mitarbeiter: 14.000
Einrichtungshäuser: 45
Quelle: Ikea Deutschland
Umsatz: 3,65 Milliarden Euro
Mitarbeiter: 14.447
Einrichtungshäuser: 45
Umsatz: 3,88 Milliarden Euro
Mitarbeiter: 15.294
Einrichtungshäuser: 45
Umsatz: 3,99 Milliarden Euro
Mitarbeiter: 15.503
Einrichtungshäuser: 45
Umsatz: 4,12 Milliarden Euro
Mitarbeiter: 16.000
Einrichtungshäuser: 48
Umsatz: 4,4 Milliarden Euro (+7,7%)
Mitarbeiter: 16.826 (+857)
Einrichtungshäuser: 50
Mit dem Prinzip des Abholmarkts und den niedrigen Preisen hat Ikea den Weg für noch günstigere Anbieter geebnet. Wie können sich die Schweden dennoch von Poco, Roller oder Mömax abgrenzen?
Ikea hat gut daran getan, nie auf das Discounter-Prinzip zu setzen. Die Marke steht für ein besseres Lebensgefühl. Selbst wenn sie nur Accessoires oder Pflanzen kaufen, fahren viele Menschen ein bis zwei Mal pro Jahr zu Ikea. Nur weil sie sehen wollen, was bei der Einrichtung gerade in Mode ist und wie sie ihr Leben verändern können. Und jeder weiß, dass sich selbst die kleinen Mitbringsel im Einkaufswagen am Ende auch summieren. Mit dem reinen Fokus auf den Preis wäre das nicht möglich gewesen.
Der Konzern stand über die Jahre immer wieder in der Kritik, sei es die Nazi-Vergangenheit des Gründers, die niedrigen Löhne oder die Überwachung von Arbeitern. Warum sind all die Vorwürfe an Ikea abgeprallt?
Ikea hat es verstanden, keine hierarchischen Verhältnisse zum Kunden aufzubauen. Das „Du“ in der Werbung oder die Namen für die einzelnen Möbelstücke zeigen dem Kunden, auf einer Ebene mit dem Unternehmen zu sein. Diese liebevolle und fürsorgliche Seite von Ikea hat es bislang geschafft, die Skandale zu überdecken.