Ins Mekka des Mode-Massenkonsums führt eine schmale Straße, und die nennen sie hier in Bangladesch Highway: Hupende Tuk-Tuks kämpfen mit verschwitzten Rikscha-Fahrern um jeden Zentimeter im Dauerstau, meist chancenlos gegen die zerbeulten Kleinlaster aus indischer Fertigung, die Menschen- und Klamottenberge durch den Trubel von Savar karren, der Industriestadt nordwestlich der Hauptstadt Dhaka.
Jeder Einkäufer kennt Savar, die Textilmetropole Bangladeschs. Hier schneidern sie Bekleidung für die fremde Modewelt des fernen Westens. Wer in der Sonderwirtschaftszone für den Export produziert, ist fünf Jahre von der Steuern befreit. Darum ziehen die Textilfabrikanten hier einen Betonklotz nach dem nächsten hoch, in jedem malochen Tausende Arbeiter aus dem verarmten Norden. Zwölf Stunden am Tag arbeiten die meisten – häufig für wenig mehr als 30 Euro Lohn im Monat. Aus den Fabriken ragen Stahlstreben, damit schnell – und häufig ohne Genehmigung – ein Stockwerk oben draufgesetzt werden kann. So wie bei dem Fabrikgebäude Rana Plaza, das im April einstürzte und mehr als 3000 Beschäftigte unter sich begrub. Über 1100 überlebten das Unglück nicht.
Europäische Marken fürchten um ihr Image
Es war die bisher schlimmste Industriekatastrophe in Bangladesch, aber nicht die erste. Ein halbes Jahr zuvor waren in einer Fabrik in Savar 112 Menschen bei einem Feuer ums Leben gekommen. Seitdem sorgen sich europäische Textilhandelsketten, die Bilder der Tragödien könnten ihren Marken schaden – oder Bangladesch als Billigwerkbank der westlichen Modeindustrie disqualifizieren. Für sie wäre beides ein Riesenproblem.
Darum hat sich die Branche für die Flucht nach vorn entschieden: Fast alle europäischen Modemarken und Textilhändler sind einem neuen Abkommen für Brandschutz und Gebäudesicherheit beigetreten, das Gewerkschaften initiiert haben. Die Unterzeichner, darunter Puma, C&A, H&M, Esprit, Kik und Tchibo, verpflichten ihre Lieferanten in Bangladesch auf Sicherheitsstandards, Inspektoren sollen die Einhaltung überwachen. Danach müssen die Fabriken zum Beispiel über Nottreppenhäuser als Fluchtwege verfügen. Wo es die nicht gibt, muss nachgerüstet werden, wer sich weigert, wird ausgelistet, haben die Handelsketten versprochen.
Zweifel an der Umsetzbarkeit der Abkommen
Ehrliche Absicht oder nur Riesenshow? Die Modekette H&M bezeichnet das Abkommen als "bahnbrechend". Für die Otto Gruppe kommentiert Johannes Merck, der Direktor Corporate Responsibility: "Wir unterstützen die Idee dieser Allianz ausdrücklich. So kann die Branche mit einem größeren Gewicht notwendige Verbesserungen vorantreiben."
Nur wenige ziehen nicht mit, darunter Adidas, Gerry Weber, Tom Tailor und Hugo Boss: Offiziell, weil Bangladesch als Lieferland für ihr Sortiment keine große Rolle spielt. Hinter vorgehaltener Hand aber auch, weil Insider die Umsetzbarkeit des Brandschutzabkommens bezweifeln.
Damit haben sie vermutlich recht. Fast 7000 Textilfabriken gibt es in Bangladesch nach inoffiziellen Schätzungen – sie alle lückenlos auf Statik und Brandschutz zu kontrollieren dürfte kaum möglich sein. Skeptiker sehen viele offene Fragen: Wer kontrolliert welche Standards, wer soll dafür wie viel bezahlen? Wie können Lieferanten unterstützt werden, für die Feuerlöscher und Sprinkleranlagen zu teuer sind? Und wie findet man heraus, ob wirklich die Mittel fehlen oder ob es am Willen mangelt?
Nirgendwo ist Mode so billig
Vorläufig ist das Abkommen nicht viel mehr als ein breit angelegtes PR-Manöver: Dem temporär schockierten Verbraucher soll suggeriert werden, dass sich die Modelabel um die Sicherheit der Arbeiter kümmern. Tatsächlich geht es den Unterzeichnern um die Absicherung einer fragwürdigen Beschaffungspolitik, die ohne Alternative ist: Nirgendwo wird Mode so billig und in solchen Mengen produziert wie in Bangladesch. Wer sich auf den Wettbewerb um die "Geiz ist geil"-Kundschaft eingelassen hat, kann auf die Näherinnen und Näher aus Bangladesch nicht verzichten.
Die Handelsriesen bestreiten den PR-Vorwurf. "Die Vereinbarung ist eine wichtige Maßnahme, um eine verbesserte Brandschutz- und Gebäudesicherheit zu schaffen", sagt H&M. Um langfristig die Produktionsbedingungen vor Ort zu verändern, brauche es eine "breite Koalition aus anderen Unternehmen, Regierungsvertretern, Gewerkschaften und Industrieverbänden". Das Statement des Düsseldorfer Konkurrenten C&A geht in die gleiche Richtung: "Endlich ziehen mal alle großen Textilketten an einem Strang, um eine Verbesserung der Sicherheitslage durchzusetzen."
Wege zum sauberen Textilimport
Textilriesen kaufen Kleidung meist über Importeure. Die Dienstleister im Dunkeln knabbern zwar an den Margen – ihnen können sie aber bei Skandalen die Verantwortung aufladen. Wer das vermeiden will, muss die Lieferkette in Eigenregie kontrollieren.
Lieferanten in Ländern wie Bangladesch wickeln ihre Bestellungen oft über Partnerfirmen ab, die in bedeutend schlechterem Zustand sind als die Vorzeigefabriken. Wer seine Verantwortung ernst nimmt, muss in diese Subfabriken Kontrolleure schicken und Kunden deren Namen nennen können.
Echten Einblick in die Arbeitsbedingungen bekommen nur eigene Mitarbeiter der Modeunternehmen, die ständig vor Ort sind. Jedes Label sollte daher ein Team aus entsandten und lokalen Einkäufern, Beratern und Kontrolleuren im Lieferland aufbauen.
Der Glücksfall ist die Arbeit mit Lieferanten, die ihren Hauptkunden als Partner verstehen – und sich mit dessen Hilfe weiterentwickeln wollen. Das erfordert Vertrauen auf beiden Seiten und viel Zeit. Hilft ein Modekonzern seinen Lieferanten, die Produktivität zu verbessern, steigt auch dessen Bereitschaft zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Label wie H & M, C & A, Kik oder Tommy Hilfiger importieren solche Mengen aus Bangladesch, dass sie über gewaltigen Einfluss verfügen – theoretisch. Praktisch arbeitet jeder für sich, statt gemeinsam am runden Tisch mit der Regierung nach besseren Gesetzen zu verlangen. Auch politischer Druck ist rar, obwohl gerade Deutschland in Entwicklungsländern viel Respekt genießt.
Dhaka im Juli. Die Hauptstadt steht unter Spannung, seit den Katastrophen gibt es fast täglich Proteste. Mal fordern Demonstranten eine Erhöhung der Mindestlöhne, die inzwischen von 19 auf 34 Euro im Monat angehoben wurden, mal prangern sie Sicherheitsmängel an. Genauso häufig gehen Menschen auf die Straße, die ihren Job verloren haben, weil unsichere Fabriken dichtgemacht wurden. Am Boom ändert das nichts: Bis Ende Juni sind die Textilexporte im Vergleich zum Vorjahresmonat um 13 Prozent gestiegen, im Mai um 15 Prozent. Übers Jahr exportierte das Land Textilien im Wert von 21,5 Milliarden Dollar, 60 Prozent davon nach Europa.
Ein Zertifikat unter vielen
Das Brandschutzabkommen interessiert in Bangladesch kaum jemanden. Erst Ende Juli reiste eine Delegation der Unterzeichner nach Dhaka, um ihre Lieferanten darüber zu informieren, was die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf beschlossen hatte. Die lokalen Fabrikanten wissen, wie wichtig den Europäern Gutachten und Zertifikate sind – nachvollziehen kann deren Sinn aber kaum ein Bengale. Nur weil der Kunde König ist und das Geld mitbringt, unterwerfen sie sich den ethischen Regeln von Aldi, Lidl, Primark oder H&M: Den Brandschutzvertrag unterzeichnen sie ebenso wie den "Code of Conduct", in dem die formaljuristische Verantwortung des Lieferanten für die Arbeits- und Sicherheitsbedingungen in den Fabriken festgelegt wird. Ob die Einhaltung der Regeln kontrolliert wird, steht auf einem anderen Blatt.
Das Abkommen ist ein Zertifikat unter vielen – ein neuer Versuch, Entwicklungsländer wie Bangladesch zu Standards zu zwingen, die in Industrieländern über viele Jahrzehnte hinweg entstanden. Die Regierung bleibt außen vor, obwohl sie die Gesetze macht, mit denen die Wirtschaft reguliert werden könnte. Nicht mal der Dachverband der Textilexporteure (BGMEA) war eingebunden, obwohl er für die Vergabe der Exportlizenzen zuständig ist – und damit ein wirksames Instrument in der Hand hat: Einigen Fabriken hat er schon die Lizenzen entzogen.
Richtigen Brandschutz kann sich niemand leisten
Tatsächlich ist vieles beim Brandschutz nur Show. Niemand weiß das so gut wie Mosharraf Hossain, der in Dhaka einen Fachhandel für Brandschutzartikel betreibt. Der Absatz von Pulverlöschern sei nach jedem Unglück um etwa zehn Prozent gestiegen, schätzt Hossain: "Aber wenn eine Textilfabrik brennt, nützt ein Feuerlöscher wenig. Wenn Sie eine mittelgroße Fabrik mit 500 Arbeitern ordentlich schützen wollen, brauchen Sie Sprinkleranlagen und elektronische Warnsysteme." Das koste aber mindestens 80 000 Euro – mehr, als die meisten Fabrikanten sich leisten können, meint Hossain. Der von den Kunden aus Europa beauftragte Brandschutz-Inspektor werde sich darum mit einer Ausschilderung der Fluchtwege und Feuerlöschern zufriedengeben.
Die gibt es heute in jeder Fabrik, sagt Hossain. Das billigste Modell made in China verkauft er für umgerechnet 15 Euro. Häufig wüssten die Arbeiter aber nicht die Löscher zu bedienen – oder rührten sie nicht an, um nichts zu beschädigen. Und ihre Chefs nähmen das Thema nicht ernst: "Neulich wollte ein Kunde über Nacht 35 Löscher haben, weil sich ein Einkäufer angesagt hatte." Ein anderer wollte Hossain für eine Brandschutzübung mit den Mitarbeitern engagieren: "Aber kommen Sie erst, wenn die Ausländer im Haus sind."
Die zehn wichtigsten Beschaffungsmärkte für Textilien
Wert der Exporte nach Deutschland: 1292 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +17,8 Prozent
Quelle: AVE, Stand 2011
Wert der Exporte nach Deutschland: 237 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: -25,4 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 210 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +78,6 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 205 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +19,1 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 139 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +1,5 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 91 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +42,4 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 91 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: -0,1 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 90 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +55,2 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 32 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +18,9 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 27 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +117,4 Prozent
Das Hauptproblem ist die völlig andere Unternehmenskultur in Bangladesch: "Politische Initiativen aus dem Westen ändern hier nicht viel, weil sie an der Lebensrealität der Menschen vorbeigehen", kritisiert Karl Borgschulze, der mit seiner Beratungsgesellschaft CSI in Hongkong Unternehmen beim Aufbau politisch korrekter Lieferketten hilft. Seine Empfehlung: Regierung und Verbände sollten mit den Kunden aus dem Westen eine nicht staatliche Kontrollinstitution schaffen, die verbindliche und realistische Sicherheitsstandards aufstellt, sie überwacht und bei Verstößen Exportlizenzen entzieht. Das darf bisher nur der Fabrikantenverband BGMEA. Finanziert werden könnte die Einrichtung über eine Textilsteuer: "Ein Cent pro Teil würde reichen."
Textilketten fordern strengere Kontrollen
Einige Textilketten fordern Ähnliches. Kik-Geschäftsführer Michael Arretz etwa geht der "sehr ehrgeizige Ansatz" des Brandschutzabkommens nicht weit genug. Er sieht die deutsche Politik in der Pflicht, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu bewirken: "So wie Deutschland die Ausbildung von Polizisten in Kabul fördert, müssen wir in Bangladesch die Ausbildung der Inspekteure forcieren", forderte Arretz in Dhaka. Der größte deutsche Textildiscounter stand nach fast jedem Unglück der vergangenen Monate im Kreuzfeuer, weil die meisten der betroffenen Fabriken Kik-Lieferanten sind. Der Hamburger Modekonzern Tom Tailor hat das Abkommen gar nicht erst unterschrieben. Begründung: "Nur wenn Sicherheits- und Arbeitsstandards politisch und gesetzlich geregelt werden, sind auf Dauer Verbesserungen möglich." Doch Kik und Tom Tailor sind Ausnahmen. Die meisten großen Modefirmen nutzen das neue Abkommen für eine breit angelegte PR-Kampagne auf ihren Web-Seiten.
300 Arbeiter weiterhin vermisst
Der irische Discounter Primark, der seine Klamotten zu Schleuderpreisen verramscht, verspricht auf seiner Homepage, "ethische und nachhaltige Lieferketten zu formen". Man kaufe "verantwortungsvoll" in Bangladesch ein und schule die Lieferanten auch bei der Arbeitssicherheit. In der "New Wave Bottoms"-Fabrik, die in den oberen Etagen des Rana Plaza fertigte, hat das offenbar nicht funktioniert. Die drei Diesel-Notstromaggregate, die das Gebäude vermutlich zum Einsturz brachten, blieben bei den Kontrollen der Primark-Kontrolleure unbeanstandet.
Rund drei Monate nach der Katastrophe hängt immer noch ein süßlicher Verwesungsgeruch über dem Trümmerberg, rund 300 Arbeiter gelten nach wie vor als vermisst. In Savar geht das Gerücht um, ein Teil der Toten sei beseitigt worden, um die Zahl Opfer nicht noch größer werden zu lassen. Der Verwaltungstrakt links des zerstörten Gebäudes steht noch. Wo die Übergänge waren, klaffen tiefe Löcher in den Außenwänden. Im Schutt liegt ein zerfleddertes Primark-Orderbuch neben Stoffbergen und blutigen Gummihandschuhen – stumme Zeugen der größten Tragödie des textilen Massenkonsums.
"Wir haben hier auch gute Fabriken"
Die Zentrale des Branchenverbandes BGMEA liegt am Ufer des Hatir-Jheel-Sees – gut bewacht, seit dort demonstriert wurde. Ein Dutzend Polizisten spielt auf Schemeln Karten, in der Ecke liegen Schutzhelme. Faruque Hassan empfängt seine Besucher im siebten Stock mit einem Appell: "Bitte verstehen Sie, dass Rana Plaza nicht für die gesamte Textilindustrie steht. Wir haben hier auch gute Fabriken."
Hassan ist selbst Fabrikant. Sein Amt als BGMEA-Vizepräsident hat er vor wenigen Wochen niedergelegt. Weil er gut Englisch spricht, vertritt er die Organisation aber weiter nach außen. Er ist überzeugt, dass die Bengalen selbst für die Sicherheit ihrer Fabriken sorgen können. Und er spielt den Ball zurück an die westlichen Kunden: "Hören Sie auf, bei den billigsten Fabriken einzukaufen, denn das sind meistens auch die mit den schlechtesten Standards."
Damit trifft Hassan einen wunden Punkt. Mehr als zwei Drittel aller in Deutschland verkauften Textilien gehen über die Discounter. Wie die Lieferanten auspressen, beschreibt ein ehemaliger Aldi- und Lidl-Einkäufer: Agenten platzieren den Auftrag in einer Fabrik, die nicht ausgelastet ist. Bei der Abnahme reklamieren die Discounter Mängel und drohen, die Abnahme zu verweigern. Für die Fabrik wäre das der Ruin. Der Kompromiss: Der Discounter nimmt die Ware ab – bekommt dafür aber beim Folgeauftrag einen weiteren Preisnachlass. Ein Teufelskreis, aus dem die schlechten Fabriken nicht herauskommen.