Wie anpassungsfähig sein Unternehmen in Indien sein musste, demonstriert Frank Stührenberg am liebsten mit einem Foto. Es zeigt den Geschäftsführer des ostwestfälischen Industriesteckerherstellers Phoenix Contact bei der Eröffnung einer Vertriebsniederlassung in einem chaotischen Basar in Mumbai. Mit schwarzem Anzug und Krawatte sticht der deutsche Manager aus dem Menschengewirr hervor und wirkt etwas deplatziert. „Die Körperhaltung drückt bereits eine gewisse Hilflosigkeit aus“, kommentiert Stührenberg selbstironisch.
Dass seine Firma, ein traditionsreiches Technologieunternehmen, auf einem staubigen Markt statt in einem repräsentativen Verkaufsbüro um Kunden wirbt, war für Stührenberg zunächst befremdlich. „Meine Kollegen haben mich aber überzeugt“, sagt er. „Das ist die wichtigste Verkaufsstraße für elektronische Geräte in ganz Mumbai, war ihr Argument.“ Dort nicht vertreten zu sein, könne man sich nicht leisten.
Für Stührenberg ist spätestens seitdem klar: Wer in einem Schwellenland wie Indien Erfolg haben will, muss sich auf die lokalen Gegebenheiten einstellen. Das gilt nicht nur für die Frage, wo man seine Produkte verkauft, sondern vor allem auch für die, welche Produkte das überhaupt sind.
In Europa produziert Phoenix Contact für Industriekunden im Premiumsegment. Auf dem indischen Subkontinent gäbe es dafür aber allein aufgrund der hohen Kosten kaum Abnehmer. Deshalb gründete das Unternehmen in Prithla, einem Vorort der Hauptstadt Neu-Delhi eine lokale Entwicklungsabteilung, die an günstiger Technik für indische Kunden arbeitet. „Es war für uns keine Option, in Indien nur ein teures Nischensegment zu besetzen“, sagt Stührenberg. An billigen Produkten führte aus seiner Sicht deshalb kein Weg vorbei: „Ich kenne kaum einen Markt, der preissensitiver ist als Indien.“
Um dort zu bestehen, ist bei vielen deutschen Unternehmen ein Sinneswandel erforderlich. Sie waren gewohnt, über höchstmögliche Qualität zu punkten. Doch aufstrebende Volkswirtschaften, in denen andere Kriterien im Vordergrund stehen, gewinnen an Bedeutung.
Das Beratungsunternehmen Roland Berger geht davon aus, dass bis 2030 rund 70 Prozent des globalen Wirtschaftswachstums aus den Schwellenländern kommen - und 95 Prozent des Bevölkerungsanstiegs. 4,8 Milliarden Menschen werden der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge dann zur globalen Mittelschicht zählen. 80 Prozent davon werden außerhalb Europas und der USA leben.
Frugal: einfach, günstig und robust
Für die mittel- und niedrigpreisigen Angebote, die sich an diese neue Mittelschicht richten, hat sich die Bezeichnung „frugal“ etabliert: einfach, günstig und robust gelten als wesentliche Merkmale. Die Berater von Roland Berger empfehlen ihren Klienten in einem bisher unveröffentlichten Strategiepapier, „jetzt neue Marktstrategien zu diskutieren, die frugale Produkte ausdrücklich einschließen“. Die Bedingungen dafür erscheinen gut: „Gerade aus dem Mittelstand bekommen wir viele Anfragen zu frugalen Produkten“, sagt Roland-Berger-Berater Oliver Knapp. Doch mit der Umsetzung täten sich viele Firmen schwer.
Auch große Namen greifen schon mal daneben. In Indien hat der Konzern Tata versucht, mit dem Modell Nano das billigste Auto der Welt zu schaffen. Günstig war es mit einem Preis von 100.000 Rupien, umgerechnet rund 1.400 Euro, in der Tat. Dennoch floppte das Projekt. Der Nano bot kaum Stauraum, scheiterte in Crashtests und brachte kaum mehr Komfort als eine Motorrikscha. Der vermeintliche Vorreiter der frugalen Innovation hatte schnell den Ruf eines Arme-Leute-Autos.
Dass es auch anders geht, zeigt Volkswagen in Brasilien. Lastwagen mit dem VW-Logo, die inzwischen zur Tochter MAN gehören, sind Marktführer auf dem weltweit sechstgrößten Lastwagenmarkt. „Weniger willst du nicht - mehr brauchst du nicht“, lautet der lokale Werbespruch für die bewusst einfach gehaltenen Nutzfahrzeuge.
Vor sieben Jahren entwickelte Volkswagen die Modellreihe Constellation, die speziell auf die Bedürfnisse der brasilianischen Kundschaft ausgerichtet wurde. Dafür sorgten 40 brasilianische Ingenieure, die zusammen mit deutschen Kollegen an dem Projekt arbeiteten und lokales Know-how einbrachten.
So muss man bei brasilianischen Lastwagen die Außentreppen an der Fahrerkabine einklappen können, damit die Trucks weniger anfällig für Überfälle sind. Die Fenster sollten zudem einschraubbar sein, nicht eingeklebt wie in Europa. Sonst kann bei einem Steinschaden die nächste Werkstatt die Scheibe nicht austauschen.
Es rüttelt im Selbstverständnis
Für die erfolgreiche Entwicklung des Fahrzeugs war die lokale Expertise unerlässlich. „Es fällt einem Entwickler am Konzernsitz unheimlich schwer, einen Truck abzuspecken auf ein niedriges Emerging-Market-Niveau“, sagt Roberto Queiroz, Nutzfahrzeug-Experte aus Sao Paulo.
Berater Knapp teilt diese Ansicht. Wer Kunden in Schwellenländern gewinnen wolle, müsse erst verstehen, was sie wirklich brauchen. „Der größte Fehler ist, ein bestehendes Produkt einfach nur abzuspecken.“ In der Medizintechnik etwa müssten Röntgen- und Ultraschallgeräte für Schwellenländer nicht nur günstig, sondern auch tragbar sein - damit Ärzte sie in ländliche Regionen mitnehmen können. Idealerweise würden die Schwellenmarktprodukte von Grund auf neu entwickelt, sagt Knapp.
Wissenswertes über Indonesien
In Indonesien leben 251,5 Millionen Einwohner. Die Bevölkerungszahl nimmt jährlich um 0,9 Prozent zu. Rund 85 Prozent der Bevölkerung sind unter 54.
Das nominale BIP beträgt 863,2 Milliarden US-Dollar. Bis 2015 soll es auf 941,7 Milliarden US-Dollar ansteigen. Zum Vergleich: Das deutsche BIP betrug 2013 3,51 Billionen US-Dollar. Ein Drittel des BIP generiert Indonesien über den Bergbau und die Industrie. Land-, Forst- und Fischwirtschaft tragen rund 15 Prozent zur Entstehung bei.
Von 2004 bis 2013 wuchs Indonesiens Wirtschaft um durchschnittlich 5,8 Prozent. Die Finanzkrise konnte das Wachstum des Landes nur geringfügig schmälern: Statt der üblichen rund sechs Prozent Wachstum, wuchs die Wirtschaft 2009 nur um 4,6 Prozent. Schon im Folgejahr erreichte Indonesien wieder Wachstumswerte jenseits der sechs Prozent.
2012 betrug die Staatsverschuldung 26 Prozent des BIP.
2014 beträgt die Teuerung 7,5 Prozent, 2015 soll sie auf 5,8 Prozent fallen.
2014 waren 5,8 Prozent der Indonesier ohne Arbeit. 2015 soll die Zahl auf 5,5 Prozent fallen.
Der Brausen- und Armaturenhersteller Hansgrohe macht genau das. Das Unternehmen produziert in seinem Werk in Songjiang bei Schanghai mehrere Produkte, die exklusiv für den chinesischen Markt bestimmt sind. „Die Kunden hier wollen voluminösere Formen oder Sonderoberflächen wie Gold-Optik“, sagt Hans-Jürgen Kalmbach, Vertriebsleiter für den Asien-Pazifik-Raum. Zu den zweistelligen Wachstumsraten in China trägt unter anderem eine günstige Produktlinie mit dem Namen "My first Hansgrohe" bei, mit der sich das Unternehmen in Schwellenländern positioniert.
Mit dieser Produktpalette will Kalmbach bald auch in Indien wachsen. Dort ist Hansgrohe bisher vor allem mit hochpreisigen Armaturen aktiv. „Damit wir doppelt so schnell wie der Markt wachsen können, wollen wir auch ins Mittelklassegment einsteigen.“
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Beim Besuch seines Indien-Standorts in Prithla gibt Phoenix-Contact-Chef Stührenberg offen zu, dass der ungewohnte Wettbewerb mit besonders niedrigen Preisen auch am Selbstverständnis einer Firma rütteln kann. „Für ein Unternehmen, das sich als Premiumhersteller sieht, ist das eine Umstellung“, sagt er.
Auch der Aufbau der indischen Entwicklungsabteilung sorgte intern für Diskussionen. „Es ist nicht einfach, dem Entwicklerteam in Deutschland zu erklären, dass wir jetzt einen Teil in Indien machen.“ Gelohnt habe es sich aber - nicht nur, um in Indien stärker Fuß zu fassen. Die Produkte aus Indien kommen bereits zum Einsatz, um auf dem nächsten Kontinent zu expandieren: in Afrika.