Noch liegt die Zukunft von Aldi Nord hinter Bauzäunen verborgen. Arbeiter setzen die letzten Silikondichtungen in die Fugen. An einer Tiefkühltheke fehlt noch die Beleuchtung. Und doch hat es schon ein erster Kunde irgendwie mit einem Einkaufswagen in den neuen Markt in Herten geschafft.
Freundlich komplimentiert ihn Kay Rüschoff, Marketing-Geschäftsführer von Aldi Nord, wieder nach draußen – nicht ohne ihm ein Gebäckteilchen aus der Brottheke mit auf den Weg zu geben. „Die Neugierde der Kunden ist groß“, verrät er. Am Morgen um acht Uhr hätten schon 20 Kunden vergeblich an die Glastüren geklopft.
Kein Wunder, gibt der Markt, der an diesem Donnerstag im Norden des Ruhrgebiets eröffnet wird, doch einen Eindruck davon, wie bald alle neuen oder renovierten Aldi-Märkte in der Nordhälfte der Republik aussehen werden: mit breiten Gängen, modernem Ladendesign und mehr Frischwaren.
Warum Aldi billig ist
Es ist eine Gretchenfrage: Wie viele Artikel biete ich meinen Kunden an? 1946 ging es um nichts mehr als ums Sattwerden. Die Aldi-Brüder schauten auf ihren Tages- und Wocheneinkauf. Erst im Laufe der Jahre kamen Non-Food-Artikel hinzu – anfangs waren sie verpönt.
Mit der Zeit pendelte man sich bei 400 Artikeln ein. Inzwischen – in Zeiten der feiner werdenden Nuancen – ist die Zahl auf über 900 Basisartikel gewachsen. Der Stellplatz in den Filialen hat natürliche Grenzen. Zudem ist Produktpflege ein aufwändiges Geschäft.
Von Beginn an galt bei den Albrechts das Gebot der Warengleichheit: In allen Filialen sollten die Kunden dieselben Produkte finden. Schnell ging es soweit, dass sie es sogar an derselben Stelle fanden.
Eine echte Revolution war die Einführung von Kühlware in den Siebzigerjahren. Sowohl bei Aldi Nord als auch bei Aldi Süd gingen Grundsatz-Diskussionen voraus. Entgegen der Behauptungen gab es darüber aber keinen brüderlichen Zwist. Allerdings musste der vorpreschende Karl Überzeugungsarbeit leisten beim abwägenden Theo. Doch die Kühltruhe kam, erst im Kleinformat, dann immer mehr.
Seit Jahren macht andere Discounter wie Netto (vorher Plus) gute Geschäfte mit Markenartikeln. Aldi hat stets eine Aversion gegen sie gehabt - gab inzwischen aber nach. Auf der anderen Seite taten sich die Hersteller von Markenartikeln anfangs auch sehr schwer, bei einer Billigkette zu listen, als die Aldi galt.
Vereinfacht gesagt besteht Aldis größtes Problem darin, die erforderlichen Liefermengen von mehreren Anbietern zu beziehen. Bei vergleichenden Qualitätsstandards heißt es immer wieder: Bedarfsdeckung versus Preis. Gerade zu Ostern und Weihnachten ist es eine Sisyphusarbeit in Planung und Organisation, für ausreichend Waren zu sorgen und sie auf die Filialen zu verteilen.
Die Preisfindung in diesem „Wettkampf“ ist das eigentliche Erfolgsrezept Aldis. Als Marktführer, ausgestattet mit dem Hebel der Mengenmacht, hat man hier natürlich Vorteile. Dabei bündeln Aldi Nord und Aldi Süd ihre Einkaufsstrategie in vielen Sortimenten. Auf der anderen Seite hat Aldi auch kein Interesse, die Lieferanten so sehr zu schröpfen, dass sie in den Ruin gehen.
Lieferanten unterliegen leicht der großen Verlockung, mit Aldi so zu verhandeln, dass die eigentlichen Kapazitätsgrenzen überschritten werden. Zwar kann man mit Aldi vermögend werden, aber das Risiko, sich zu sehr abhängig zu machen, ist groß. Denn Aldi streicht durchaus schnell einen Lieferanten. Fachleute raten dazu, maximal 50 Prozent seiner Produkte an Aldi zu verkaufen.
Die Wettbewerber sind dem Preisdiktat ausgesetzt. In den vergangenen Jahres war gut zu beobachten, was passiert, wenn Aldi die Preise für Alltagsprodukte wie Milch senkte: Die Konkurrenz zog innerhalb weniger Stunden nach. Preisvergleich und Preispolitik sind Tagesaufgaben.
Doch warum agieren die Discounter eigentlich so nah am „gerechten Preis“? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn die Durchschnittskunde ist eigentlich sehr wenig mit den Preisen vertraut. Er stellt seinen Warenkorb den Bedürfnissen und Gepflogenheiten zusammen. Die meisten gehen nicht mit offenen Augen durch die Läden. Angebote werden auch bei Aldi sehr deutlich mit andersfarbigen Schildern gekennzeichnet, damit sie überhaupt auffallen. Umso wichtiger ist also, dauerhaft der Preisführer zu sein – und dieses Image zu pflegen.
Egal wie günstig ein Produkt ist – die Qualität muss stimmen: Aldi testet wie auch die anderen Discounter ständig seine aktuellen und auch mögliche neuen Produkte. Zudem nützt das tollste Sonderangebot nichts, wenn es um 11 Uhr ausverkauft ist.
Kein Produkt hat bei Aldi eine Existenzgarantie. Jeder Lieferant ist austauschbar. Und das lässt Aldi seine Partner ganz genau wissen. Es herrscht rigorose Preiskontrolle vom Einkauf bis zum Verkauf. Der Kunde entscheidet. Nimmt er ein Produkt nicht (mehr) an, fliegt es aus dem Sortiment. Das gilt besonders für Sonderverkäufe. Schlagen sie nicht ein, bekommen sie keine zweite Chance.
Im Fachjargon heißen sie Zugartikel, die Produkte, an denen Aldi praktisch nichts verdient. Die Marge liegt nahe null, aber sie sind dennoch sehr wichtig. Denn sie locken Kunden in den Laden. Und die Kunden kaufen dann eben auch andere Produkte, wo die Margen entsprechend höher liegen. Die sogenannte Quermarge stimmt also auch bei Zugprodukten.
Regale sind das eine, Vorstelltische das andere. Bei Aldi haben sie eine sehr hohe Bedeutung. Reste gehen hier rasant weg.
Der Filialleiter hat die wesentliche Aufgabe, sein Personal geschickt einzuspannen. Aldi näht hier auf Kante, sprich: Die Personaldecke ist extrem eng. Im Krankheitsfall bricht rasch der Notstand aus, wenn nicht umgehend Ersatz zur Hand ist: verdreckte Böden, unsortierte Regale, Schlangen an den Kassen. Entsprechend sind Filialleiter entscheidende „Produktchefs“ und es gelten hohe Standards.
Heute, in Zeiten der Piep-Piep-Kassen, ist es nicht mehr so wichtig: Aber groß geworden ist Aldi auch wegen einer vermeintlich selbstverständlichen Eigenschaft der Kassiererinnen und Kassierer: Sie kannten die Preise der Produkte auswendig und konnten sie blitzschnell in die Kasse eingeben.
Die Logistik dahinter ist alles andere als einfach: Wie bekommt man all die hohen Bargeldsummen, die sich in den Kassen auftürmen, sicher zur Bank? Das ist die eine Frage, die Discounter wie Aldi lösen müssen. Die andere ist, wie man die Liquidität möglichst schnell reinvestiert. Bei einer Umschlaggeschwindigkeit der Waren von 8,5 Tagen und einem Zahlungsziel von 14 Tagen gegenüber dem Lieferanten ist die Ware nahezu zweimal verkauft, ehe sie einmal zu bezahlen ist. Und das mit zwei Prozent Skonto.
Wohin also mit dem Geld? Die erste Antwort lautet: Nicht mehr mieten, sondern kaufen – also die Immobilien, in denen sich die Filialen befinden. Zudem fließt bei Aldi viel Geld in die Familienstiftung. Dort wird es gefahrensicher angelegt. Zudem war Aldi frühzeitig darauf aus, in der Plastikindustrie zuzukaufen.
Aldi ging schon früh einen Weg, der damals alles andere als üblich war und setzte auf eigene Produkte. Die alte Kaufmannsweisheit, dass der Vertreiber nicht selbst produzieren soll, damit er nicht mit Reklamationen überschüttet wird, gilt heute längst nicht mehr. Aber damals war es etwas ziemlich neues. Es begann mit eigenem Kaffee, der in Herten produziert wurde.
Bei Aldi wird alles und ausnahmslos umgetauscht, wenn der Kunde dies wünscht. Jede eingequetschte Tomate und jede Laufmasche. Filialleiter dürfen unter keinen Umständen Einwände erheben.
Die beiden Aldi-Unternehmen brüsten sich damit, nicht zu werben. Das ist natürlich nicht wörtlich gemeint, schließlich sind die Anzeigen aus den regionalen und überregionalen Zeitungen nicht wegzudenken. Was Aldi meint ist, dass man die Kunden besonders anspricht, also über den Preis argumentiert und auf Mund-zu-Mund-Propaganda setzt.
Einmal im Jahr gibt es den bisweilen gefürchteten Vergleich zwischen Aldi Nord und Aldi Süd. Folgende Zahlen spielen darin die Hauptrolle: Hauptkostenarten bei Personal, Mieten, Energie usw. sowie Anzahl der Filialen, Umsätze und Gesamtkosten.
Bei Aldi gibt es praktisch keine innerbetrieblichen Veranstaltungen. Sozialkontakte erstrecken sich auf den gemeinsamen Einsatz für sprudelnde Umsätze. Als ein Geschäftsführer mal anlässlich der Heirat seiner Tochter Theo Albrecht nebst Gattin Chily einlud und es dort Zusammentreffen mit wichtigen Lieferanten gab, verzog Theo keine Miene. Das Arbeitsverhältnis wurde gelöst.
Einen ersten Schritt in diese Richtung ist Aldi Nord im vergangenen Jahr mit einem Testmarkt in Gladbeck gegangen. Rund 120 Läden sind schon nach diesem Modell modernisiert worden. Nun hat der Discounter das Kundenfeedback ausgewertet und nochmal deutliche Veränderungen umgesetzt. „Wir optimieren ständig die Prozesse und fragen uns, ob es nicht noch besser geht“, so Rüschoff.
Denn für ihn sind die hellen neuen Filialen nicht nur eine Imageverbesserung, sie sind eine Umsatzmaschine. „In allen neu gestalteten Märkten legt der Umsatz zweistellig zu“, verrät der Aldi-Manager. Dadurch stieg im vergangenen Jahr der durchschnittliche Umsatz pro Filiale pro Monat von 437.000 auf 461.000 Euro. „Aldi Nord bringt sich langsam in eine führende Position bei der Modernisierung des Discounts“, beobachtet Handelsexperte Boris Planer vom Marktforschungsunternehmen Planet Retail.
Videobildschirme zeigen die Sonderangebote
Und das Wachstum beschleunigt sich sogar noch. War der Umsatz von Aldi Nord im vergangenen Jahr schon um 3,61 Prozent auf 12,7 Milliarden Euro gewachsen, legte er in den ersten drei Monaten dieses Jahres sogar um fünf Prozent zu. Damit holt der Discounter weiter auf Schwester im Süden auf. Der Umsatz von Aldi Süd hatte 2016 bei 15,7 Milliarden Euro praktisch stagniert.
Um die Aufholjagd fortzusetzen, hat sich Aldi Nord im Testmarkt in Herten einiges überlegt. So hat das Unternehmen nicht nur im Eingangsbereich einen Kaffeeautomaten platziert, sondern auch an jedem Einkaufswagen einen Tassenhalter befestigt – damit die Hände frei bleiben zum Shoppen.
Besonders auffällig ist die verbesserte Navigation und Information des Kunden. Riesige Schriftzüge an den Wänden zeigen, wo Fleisch, Tiefkühlkost oder Tiernahrung zu finden ist, auf großen Bildschirmen werden Videos mit der Aktionsware gezeigt. Bis zu 2,40 Meter breit sind die Gänge, ausgeleuchtet mit besonders hellen LED-Leuchten.
Ausgebaut wurde erneut die Abteilung mit frischem Obst und Gemüse, 90 verschiedene Produkte umfasst sie jetzt. „Das war ein ganz wichtiger Wunsch vieler Kunden“, sagt Reinhard Giese, Geschäftsführer der Regionalgesellschaft Herten. Rund 2500 verschiedene Artikel umfasst das Standardsortiment des Discounters jetzt, wenn man alle Varianten mitrechnet. 80 neue Artikel sind im vergangenen Jahr dazugekommen.
Eins fehlt noch in Herten: Die Kundentoilette. „Das ging aus baulichen Gründen hier noch nicht“, sagt Aldi-Manager Giese. Doch bei künftigen Neubauten soll auch dieser dringende Kundenwunsch berücksichtigt werden.