WirtschaftsWoche: Herr Mock, die Swatch hat die Schweizer Uhrenindustrie radikal verändert und war die Antwort auf die Quarzkrise. Nun sieht sich die Uhrenindustrie einer neuen Herausforderung gegenüber, der Smartwatch. Wiederholt sich Geschichte?
Elmar Mock: Das müssen sie gesellschaftlich betrachten und ein wenig zurückblicken. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Koordination. Man hat Kriege koordiniert geführt. Man hat Krieg wie Musik geschrieben. Man musste zu einer definierten Uhrzeit attackieren, man musste um diese Zeit bombardieren. Die ganze Organisation der Menschen hat einen Rhythmus gehabt, der die Zeit war, und ein Programm, das eine Planung war.
In Charlie Chaplins „Modern Times“ ist sehr schön zu sehen: Die Wichtigkeit der Zeiteinstellung. Wenn sie die Uhrenindustrie von ganz weit betrachten, dann war die Uhr ein religiöses Objekt. Es ging um Beten zum richtigen Moment. Die Genauigkeit ist erst in den Kriegszeiten gekommen, als die Engländer zur Positionsbestimmung des Schiffs auf dem Meer die Präzision benötigten. Im 20. Jahrhundert sind es die Amerikaner gewesen, die die moderne Zeit gebracht haben. Sie postulierten, dass jeder die Zeit wissen müsse, damit er pünktlich zur Arbeit komme, sein Programm abzuarbeiten. Sie hatten immer einen Kalender in der Tasche und eine Uhr. Sie mussten immer wissen, wann man jemanden trifft und wo man ihn trifft.
Und heute nicht mehr?
Nein. Das hat Nokia Ende des 20. Jahrhunderts eingeführt mit seinem Slogan „Connecting People“. Das meint: Die neue Gesellschaft sagt nicht mehr, wo man sich trifft, sondern nur noch ungefähr wo und nicht mehr wann genau, sondern irgendwann. Stellen Sie sich vor, man hätte sich früher so ungenau verabredet: Man hätte sich nie getroffen. Diese Möglichkeiten wird man nicht mehr hergeben.
Der Europäische Erfinderpreis
Das Europäische Patentamt verleiht jährlich den Erfinderpreis. Erstmals wurde er 2006 verliehen. Der Preis zeichnet Erfinder und Teams aus Industrie, Forschung und kleinen und mittelständischen Betrieben aus. Es ist der einzige Preis in Europa, der Lösungen in Angewandter Technik würdigt. Neben den Kategorien Industrie, Forschung und "Außereuropäischer Erfindung" sind auch jeweils Erfinder für ihr Lebenswerk unter den Preisträgern.
Der Deutsche Artur Fischer dürfte in den meisten Haushalten Deutschlands eine Rolle spielen - er erfand den Fischer-Dübel. 2014 würdigte ihn das Europäische Patentamt für sein Lebenswerk. Gleiche Ehre erhielt Anton von Zanten, dessen Erfindung in Deutschland durch den sogenannten Elchtest bekannt wurde und heute in allen Autos Standard ist: ESP. Im Laufe der Jahre erhielten Forscher für den Test auf Gebärmutterhalskrebs den Preis eben so wie ein Entwickler des 3D-Druck oder das Team, das den QR-Code ersann. 2017 sind neben Elmar Mock in der Kategorie Lebenswerk auch die Forscher Rino Rappuoli für seine Arbeit in der Gen-Analyse und Axel Ullrich für seine Forschung zu Krebserkrankungen nominiert. Die Preise werden am 15. Juni in Venedig verliehen.
Und was genau hat das mit der Uhr zu tun?
Das Messgerät Uhr wird zu einem neuen Gerät werden. Es gibt für diese Funktionen am Körper des Menschen drei Orte, die Sinn ergeben. Die Brille, nah vor den Augen. Aber - die sind überstrapaziert. Ohren? Genial - das wird in Zukunft noch viel mehr genutzt. Und dann gibt es das Tasten. Blinde beherrschen das. Der Luxus, der in den kommenden Zeiten dominieren wird, ist der richtige Zeitpunkt für die Information am richtigen Ort, ohne dass es die Mitmenschen mitbekommen.
So wie Menschen mit den Füßen unter dem Tisch ein Signal geben können, ohne dass es die anderen merken. Dieses Objekt wird vermutlich an einem sehr empfindlichen Teil des Körpers angebracht. Und davon haben wir nicht so viele. Und die Hand gehört dazu. Sie ist selten gedeckt, sehr empfindlich. Man wird über dieses Gerät, das man heute Uhr nennt, mit Informationen versorgt. Ich sehe da fantastische Möglichkeiten.
Die Schweizer Uhrenindustrie bislang nicht so sehr, oder? Marktführer sind bei diesen am Armband befindlichen Computern andere.
Die Uhrenindustrie, wie sie heute existiert mit ihren mechanischen Werken, wo sie Messing in Gold umwandeln, die wird es weiter geben. Das ist schön und das wird zum kleinen Teil bleiben. Das ist Kunst. Wie eine Musiktruhe. Die traditionelle Industrie wird bleiben. Mein Ziel mit der Swatch war aber: Massenindustrie. Ich glaube, dass wenn sie die Massenindustrie verlieren, verlieren sie langfristig auch den Luxus.
Die Swatch hat nichts mit der modernen Industrie der Uhrenherstellung zu tun. Ich wollte industrielle Uhren machen. Menge, Massen. Uhren für Indien, für Afrika. Wir haben bewiesen, dass wir für fünf Franken gute Qualität aus der Schweiz liefern können. Was haben wir gemacht? Ein Luxusbilligprodukt. Wir haben eine Prolex gemacht. Wir haben einen Artikel der Mode geschaffen. Schön - aber wir haben das Ziel nicht erreicht.
Sie ist doch eine Erfolgsgeschichte.
Als ich die Swatch konzipiert habe, hat die Uhrenindustrie 200 Millionen Stück im Jahr gefertigt. Heute fertigt die gleiche Industrie 1,2 Milliarden Exemplare im Jahr. Und die Schweizer haben damals gut 70 Millionen gemacht, heute noch 30 Millionen. Wir sind zwar die teuersten Uhren, aber wir haben die Menge verloren. Und die Menge ist am Fuß der Pyramide, auf der die Spitze wächst.
Wenn ich mich damals darüber gefreut habe, zu beweisen, dass das möglich ist, heute muss ich gestehen: Wir haben das nicht erreicht. Das war nicht mein Traum. Die Erfinder halten ihr Versprechen nicht. Ich wollte ein Massenprodukt. Und es ist ein Luxusprodukt geworden. Es ist natürlich trotzdem super. Ich bin stolz darauf. Der Fehler ist, dass man nicht den anderen Weg des Labyrinth genommen hat. Die acht Milliarden, die mit der Swatch gewonnen wurden, sind in den Luxusbereich der Swatch Group gegangen. Ich sage nicht, dass das ein Fehler war. Es ist nur schade, dass man in dem Labyrinth nicht auch andere Wege erforscht hat.
Welche Uhrenmarke gehört zu wem?
1881 gründeten die Uhrmacher Jule-Louis Audemars und Edward-Auguste Piguet die gemeinsame Firma und produzierten hochkomplizierte Taschenuhren. Nach dem Tod der Firmengründer in den Jahren 1918 und 1919 führten die Erben das Unternehmen fort und konzentrierten sich auf den Bau von Armbanduhren. Heute ist die Marke eine Aktiengesellschaft. An der Spitze steht Verwaltungsratspräsidentin Jasmine Audemars. Die Marke ist unabhängig und gehört keiner der großen Luxusholdings an.
In der Uhrenbranche führt kaum etwas an Rolex vorbei. Das 1905 von dem Kulmbacher Hans Wilsdorf gegründete Unternehmen stellt die beliebtesten mechanischen Uhren her - von keinem Modell werden so viele Kopien produziert wie von den Rolex-Ikonen. Das Unternehmen gehört der Fondation Hans Wilsdorf, einer Stiftung, über die so gut wie nichts bekannt ist, die keine Webseite besitzt und die im deutschsprachigen Wikipedia keinen Eintrag hat. Zahlen gibt die Aktiengesellschaft kaum bekannt. Alle Zahlen zu Produktionsmenge, Mitarbeitern und Umsatz sind Schätzungen. Das Unternehmen ist sprichwörtlich so verschwiegen, wie eines seiner erfolgreichsten Modelle: Oyster.
Das 1839 von Antoine Norbert Graf de Patek gegründete Unternehmen gewann seinen Namen aus dem Zusammenschluss von Graf de Patek mit Jean-Adrien Philippe. Die Manufaktur war Erfinder der Aufzugskrone und zahlreicher anderer Innovationen im Uhrenbau. Die Familie Stern übernahm bereits 1932 von Philippe das Unternehmen. Bis heute ist das Unternehmen in Hand der Familie Stern, der derzeit amtierende Chef ist Thierry Stern, dessen Vater Philippe Stern das Unternehmen über Jahrzehnte führte und bis heute dort aktiv ist.
Die Kering Group nannte sich bis 2013 PPR - für Pinault Printemps Redout. Das ist die Luxusholding des Franzosen François-Henri Pinault mit rund 35.000 Mitarbeitern. Dazu gehören der Sportartikelhersteller Puma oder die Luxuslabel Gucci und Bottega Veneta. Die Kering Group besitzt mehrere Uhrenmarken. Neben Jean Richard zählen dazu Girard Perregaux und Ulysse Nardin. Die letztgenannten waren 2017 erstmals auf der Genfer Uhrenmesse Salon International de la Haute Horlogerie (SIHH) vertreten, auf der alle Marken der konkurrierenden Holding Richemont ihre Uhren ausstellen.
Die börsennotierte LVMH Moët Hennessy – Louis Vuitton SE ist mit einem Umsatz von 35 Milliarden Euro in 2015 und mehr als 120.000 Mitarbeitern weltweit der größte Luxuskonzern. CEO ist Bernard Arnault, dem auch wesentliche Anteile des Aktienbestands gehören, er lag bei Erwerb Ende der 80er Jahre bei 45 Prozent. Neben Spirituosenmarken wie Hennessy, Champagner wie Moet Chandon, Dom Pérignon und Krug gehören auch Bulgari oder inzwischen auch mehrheitlich der deutsche Kofferhersteller Rimowa zum Konzern. Die französische Luxusmarke Hermès konnte sich den Versuchen Arnaults, die Marke zu übernehmen, widersetzen. Die Uhrenmarken des Konzerns sind Zenith, TAG Heuer, Hublot und Dior Watches.
Der Schweizer Luxuskonzern wird geleitet von Johann Rupert, dem Sohn des Unternehmensgründers Anton Rupert, der den Konzern von Südafrika aus steuert. Zu Richemont gehören als Uhrenmarken: A. Lange & Söhne, Baume & Mercier, Cartier , IWC,
Jaeger-LeCoultre, Montblanc, Officine Panerai, Piaget, Roger Dubuis, Vacheron Constantin und Van Cleef & Arpels.
Sie sind für Ihr Lebenswerk für den Europäischen Erfinderpreis nominiert. Ihre wohl wichtigste Erfindung ist das Verfahren, das es erlaubte, die Swatch herzustellen. Ist das auch die beste?
Zunächst einmal: Ein Erfinder ist nie allein. Er arbeitet immer im Team. Ich habe in meinem Leben das Glück gehabt, an etwa 180 Patentfamilien mitwirken zu können. Wenn Sie ein Projekt beginnen, ist es nicht das erste Ziel, ein Patent anzumelden. Sie suchen als erstes eine Lösung, um ein Produkt zu ermöglichen, das einen Sinn hat, das das Leben verbessert, oder die Freude an etwas, das wir tun zu steigern. Wenn sie eine gute Idee hatten, dann kommt vielleicht ein Patent heraus.
Ich habe viel gearbeitet für die Uhrenindustrie, für die Verpackungsindustrie, Lebensmittelindustrie oder Autoindustrie. Ich kann deswegen heute nicht sagen, auf was ich meisten stolz bin, weil es nie das Ziel war, ein Patent zu entwickeln. Es sind immer die jüngsten Projekte, die am meisten Spaß machen.
Innovation ist eine positive Sucht
Woran arbeiten Sie derzeit?
Wir arbeiten unter anderem daran, wie man mit viel weniger Wasser duschen kann. Wie kann man mehr bekommen mit weniger Verbrauch?
Eines der üblichen Klischees des Erfinders zeigt ihn als eigenbrötlerischen Tüftler, der im Verborgenen Dinge ausheckt. Das ist es also gar nicht?
Nein, die Zufriedenheit mit der Arbeit kommt auch daraus, dass wir alles im Team erarbeiten. Wie lässt sich durch Kreativität vieler Menschen ein technisch anderer Weg finden, das ist spannend. Der Prozess ist meine Leidenschaft und mein Leben.
Erkennen Sie bereits beim Anmelden eines Patents, dass es unter Umständen grundlegend Dinge verändert, so wie es die Swatch getan hat?
Gar nicht, das beurteile ich auch nicht. Ich erkläre Ihnen warum. Eines Tages hatte ich einen Supermechanismus im Uhrenbereich erfunden. Und ich bin dann sehr schnell zur Patentabteilung gegangen und habe gesagt, „Schaut mal, das könnte man so lösen, das ist genial, oder?“ Ich habe mir für ein paar Tage auf die Schultern geklopft. Und dann kamen die Experten aus dem Patentwesen und sagten: „Ja, das ist eine gute Idee, aber das wurde im Jahr 1880 bereits angewendet.“ Ich habe ein Jahrhundert Verspätung gehabt. Aber die Freude war in dem Moment dennoch die gleiche. Es ist wie Ski fahren im unberührten Tiefschnee, diese Freude, das Gefühl zu haben, der erste zu sein, der dort hinunter fährt.
Ihre Trauer hielt sich also in Grenzen?
Ja. Der Wert einer Erfindung erschließt sich erst hinterher. Sie können auch nicht beschließen, ein Heiliger zu werden. Das erfolgt post mortem. Aber sie können versuchen, das Bestmögliche zu machen. Es geht also nicht um Ehre oder um Geld, sondern um die Freude, etwas zu entdecken. Deswegen trägt die Firma, die ich gegründet habe auch diesen etwas komischen Namen „Creaholic“. Innovation ist eine positive Sucht.
Ist das der entscheidende Unterschied zu einem Ingenieurbüro? Ihr Unternehmen sucht schließlich technische Lösungen.
Ein Ingenieur versucht, ein Ziel zu erreichen. Ein Erfinder versucht nicht, ein Ziel zu erreichen, das man ihm vorgegeben hat. Er sucht einen anderen Weg. Der gute Ingenieur und der gute Projektleiter hält sein Wort. Der gute Erfinder und der gute Innovator bricht sein Wort.
Ihre Auftraggeber möchten doch aber auch Ergebnisse sehen, oder nicht?
Die Frage ist immer die nach dem Warum. Oft kommen Menschen mit einem Ziel auf uns zu. Aber die Frage ist die nach dem Warum. Über diesen Weg können sie zu anderen Wegen, Zielen, gar Lösungen kommen. Die Welt möchte, dass wir wie ein GPS funktionieren. Sie möchte wissen, wo sind die Fortschritte, wie lange dauert das Projekt, was werden die Kosten sein. Innovation ist mehr ein Irrgarten. Sie wissen, wo sie sich ungefähr hinbewegen werden. Entlang der Wege entdecken sie neue Wände. Und das Ziel des Labyrinths ist es, rauszugehen also in eine Richtung, die Sinn ergibt. Und sie wissen am Anfang nicht, wo das hingeht. Sie können das nicht planen. Wenn Sie ein Pflichtenheft und eine Marktanalyse haben – sprechen wir dann wirklich von Innovation?
Und darauf lassen sich Unternehmen in dieser Zeit ein?
Unsere Projekte beginnen oft mit einer konkreten Fragestellung. Und das ist auch sehr gut. Das Vertrauen wächst mit der Zeit. Das Kennenlernen gehört dazu. 90 Prozent des Umsatzes von Creaholic ist mit Unternehmen, die seit mehr als 10 Jahren mit verschiedenen Projekten unsere Kunden sind. Sie kommen nicht zurück, weil sie Masochisten sind, sondern weil sie einen Weg suchen, die die traditionelle Mannschaft anders gelöst hätte. Ich bin ein normaler Mensch, aber Zeit meines Lebens war ich auf der Suche nach den richtigen Fragen, nach dem warum und wie es wäre, wenn. Das ist nicht allein auf die Technik bezogen, das ist ganzheitlich zu sehen. Die Sicht des Kunden und des Benutzers ist wichtiger als die des Produzenten.