Für die Präsentation seiner Bilanzzahlen der ersten neun Monate des vergangenen Jahres hatte der Schweizer Lebensmittelgigant Mitte Oktober 100 Analysten und Profi-Investoren nach Schanghai einfliegen lassen. Eine Stadt, die wie kaum eine andere auf der Welt für Wachstum steht. Der Ausflug in die chinesische Mega-City am Mündungsgebiet des Jangtsekiang mit ihren fast 25 Millionen Einwohnern unterstreicht die Bedeutung des chinesischen Marktes für den Lebensmittelriesen, mit bekannten Marken wie Vittel, Mövenpick, Nespresso, Smarties oder Alete. Nicht nur China, sondern die aufstrebenden Länder allgemein bescherten Nestlé gute Zahlen, in entwickelten Märkten wie Europa oder den USA fiel das Ergebnis bescheidener aus.
China ist der wichtigste Wachstumsmarkt der Schweizer aus der beschaulichen Kleinstadt Vevey am Nordostufer des Genfer Sees. Mehr als 30 Fabriken betreibt Nestlé in China. Pro Tag werden 35 Millionen Produkte verkauft, mehr als 90 Prozent dieser Artikel produziert Nestlé vor Ort. Die Produktionskraft der Fabriken ist beeindruckend: Totole in Schanghai, wo Suppe, Bouillon und andere Würzmittel hergestellt werden, verarbeitet pro Tag 300.000 Hühner, 150.000 Zwiebeln und vieles mehr. Für Milchprodukte kauft Nestlé pro Jahr 700.000 Tonnen Milch und 10.000 Tonnen Kaffee ein. 17.000 Bauern wurden deshalb von Nestlé-Agronomen speziell ausgebildet.
Erfolgsgeschichte China
Nestlé hat sich in aufstrebenden Ländern geschickt positioniert. Vor allem China ist eine Erfolgsgeschichte für die Schweizer. Die Übernahme von traditionellen chinesischen Unternehmen wie den führenden chinesischen Süßwarenhersteller Hsu Fu Chi oder die in Milchprodukten dominante Yinlu macht Sinn. Dadurch wird Nestlé bei vielen Produkten sogar als lokaler Anbieter wahrgenommen und gewinnt eine engere Bindung zu den Verbrauchern. Zudem können die Schweizer chinesisches Know-how anzapfen und so weiter expandieren. China bietet trotz des gewaltigen Wachstums der vergangenen Jahre noch viele Entwicklungsmöglichkeiten. Heute kaufen erst 300 Millionen der mehr als 1,3 Milliarden Chinesen Nestlé-Produkte. Nestlé-Chef Paul Bulcke will die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in China verdoppeln und neue Zentren in den Städten Xiamen und Dongguan eröffnen.
An der Ausnahmestellung Chinas im Zahlenwerk der Schweizer hat sich auch drei Monate später nichts verändert. Während die Erlöse in Europa nur um 2,4 Prozent zunahmen, kletterten sie in Asien, Afrika und Ozeanien um mehr als 10 Prozent. Insgesamt erlöste der Konzern im vergangenen Jahr 92,2 Milliarden Franken, das sind umgerechnet rund 75 Millionen Euro und damit gut zehn Prozent mehr als noch vor einem Jahr.
Das organische Wachstum, das Wechselkurseinflüsse und Firmenzukäufe ausklammert, erreichte 5,9 Prozent. Den Gewinn verbesserte Nestlé um 1,1 Milliarden auf 10,6 Milliarden Franken. Damit traf Nestlé exakt die Erwartungen der Analysten.
Hoffnungen liegen im Kaffeegeschäft
Und im laufenden Jahr peilt der Konzern unbeirrt von der Weltkonjunktur erneut ein organisches Wachstum von fünf bis sechs Prozent an, sowie eine steigende Marge.
Auch operativ schaffen es die Schweizer, immer noch ein Stück effizienter zu arbeiten. Die operative Marge ist im vergangenen Jahr um 0,2 Prozent auf 15,2 Prozent gestiegen. Insgesamt betrug das operative Ergebnis mit 14,0 Milliarden Franken 11,8 Prozent mehr als 2011.
Nestlé ist auf verschiedenste Bereiche ausgerichtet und hat es verstanden, Erfolgsrezepte aus Schwellenländern frühzeitig auf krisengeschüttelte Länder in Europa zu übertragen. So werden Nahrungsmittel in für jedermann erschwinglichen Kleinstgrößen, wie sie ursprünglich für Länder wie Indien auf den Markt kamen, mittlerweile in wirtschaftlich gebeutelten Staaten wie Griechenland und Spanien angeboten. Diese sogenannten Popularly Positioned Products, Einsteigerprodukte wie portionierter Nescafé, laufen nach Unternehmensangaben zweieinhalbmal besser als der Durchschnitt.
Dennoch macht das Wachstum in Europa und den USA den Schweizern zu schaffen. Auf dem europäischen Kontinent konnte Nestlé lediglich ein organisches Wachstum von 1,8 Prozent realisieren, bei Erlösen in Höhe von 15,4 Milliarden Franken. Etwas besser fiel das Wachstum in den USA aus. Dort konnten die Schweizer bei Umsätzen in Höhe von 29 Milliarden Franken das organische Wachstum um etwas mehr als fünf Prozent steigern.
Erneut mit zweistelligen Wachstumsraten konnte die Kaffeemarke Nespresso glänzen. Verantwortlich dafür waren die Expansion der Marke in der Asien-Pazifik-Region und den USA sowie fünf neue Grand Cru-Kaffeesorten und zwei neue Maschinentypen. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 52 neue Nespresso-Läden eröffnet. Damit hat die Kult-Kaffee-Marke rund um den Werbeträger George Clooney nun mehr als 300 Filialen in 48 Ländern.
Von den 4.000 Marken der verschiedenen Produktkategorien des Konzerns erzielen 29 einen Umsatz von je mehr als 1 Milliarde Franken. Viel verspricht sich Nestlé vom Kaffeegeschäft: In China werden pro Person jährlich nur drei Tassen Kaffee getrunken, zwei davon sind Nescafé. Das Potenzial ist riesig. In Taiwan werden schon 100 Tassen im Jahr getrunken, in Hongkong 170. Ein großer Erfolg ist das auf den chinesischen Geschmack ausgerichtete Smoovlatte. Das Kaffeemilchgetränk kaufen auch Konsumenten, die bisher kaum Kaffee getrunken haben.
Nestlé Health Science
Aufstrebende Länder gewinnen für Nestlé rasch an Bedeutung. Zurzeit erwirtschaftet der Konzern rund 40 Prozent des Umsatzes in Schwellenländern, bis 2020 sollen es 50 Prozent sein. Aus guten Grund: Schließlich leben vier Fünftel der Weltbevölkerung in Schwellenländern, 90 Prozent der Kinder werden dort geboren. Besonders China sorgt für Wachstumsfantasie. In den letzten drei Jahren ist Nestlé dort organisch um 16 Prozentpunkte gewachsen.
Etabliert hat sich mittlerweile auch die Nestlé Health Science-Sparte. Erst seit 2011 hat Nestlé Health Science seine operative Tätigkeit aufgenommen, beschäftigt weltweit 3.000 Mitarbeiter und erlöst einen Umsatz von zwei Milliarden Franken. Health Science bietet Nahrungsmittel an, die chronische Krankheiten wie Diabetes, Fettleibigkeit oder Alzheimer verhindern oder in ihren Folgen mildern sollen.
Zwar macht das Geschäft mit Medical Food bisher nur einen Bruchteil des 90 Milliarden Franken schweren Konzerns aus. Doch die Aussichten sind vielversprechend. Das langfristige Marktpotenzial der medizinischen Ernährung wird von Marktforschern auf 100 bis 150 Milliarden Franken geschätzt. Davon möchte sich Nestlé ein dickes Stück abschneiden. Zudem sind die Margen in diesem Graubereich von Nahrungsmitteln und Pharmaerzeugnissen weit höher als bei konventionellen Lebensmitteln.
Die Produkte von Nestlé Health Science sind nicht im Supermarkt zu finden. Sie werden in der Regel vom Arzt empfohlen und sind in Apotheken oder speziellen Drogerien erhältlich. Nestlé richtet sich mit seinen Produkten an Gesundheitsexperten und nicht an Endverbraucher.
Nestlé ist hinter dem amerikanischen Konzern Abbott weltweit die Nummer zwei in der Gesundheitsernährung und besonders stark in den USA, Europa, Asien und Südamerika vertreten. In den USA wird Nestlé Health Science dank der Wiederwahl Obamas, der seine Gesundheitsreform weiter vorantreiben will, wohl noch stärker werden.