Irgendwann konnte Marie Delaperrière ihren eigenen Müll nicht mehr ertragen. Jahrelang war die gebürtige Französin normaler Konsument. Nach der Arbeit ging sie in den Supermarkt, kaufte eingeschweißte Gurken, Joghurt in kleinen Bechern und einzeln verpackte Käsescheiben – so wie Millionen andere Bundesbürger auch.
Jeder Deutsche sorgt im Durchschnitt für mehr als 200 Kilogramm Verpackungsmüll pro Jahr. Eine fünfköpfige Familie bringt es so auf über eine Tonne Müll. Zu viel, findet Delaperrière. Für 100.000 Euro eröffnete sie im Februar in Kiel ihren Gegenentwurf namens „Unverpackt“: Einen 60 Quadratmeter kleinen Supermarkt, der versucht, ganz auf Verpackungen zu verzichten. Das Konzept findet immer mehr Anhänger. In ganz Deutschland entstehen derzeit Supermärkte ohne Verpackung.
So funktioniert der Supermarkt ohne Verpackung
Wir machen zu viel Müll, glauben die Unterstützer und Gründer der verpackungslosen Supermärkte und verschmutzen damit die Umwelt. Supermärkte ohne Verpackung versuchen den Müll so weit wie möglich zu minimieren. Die Lebensmittel werden nicht abgepackt angeboten, sondern in großen Behältern präsentiert, aus denen sich die Kunden selbst bedienen können.
Im "Unverpackt Kiel" werden die Lebensmittel in großen Spendern, so genannten "Bulk-Bins", aufbewahrt. Auf Knopfdruck kann der Kunde aus ihnen die Ware abzapfen. Andere verpackungslose Supermärkte setzten auf ähnliche Modelle. Weil in der EU eine Kennzeichnungspflicht gilt, müssen die Händler zudem Informationen zu den Inhaltsstoffen bereithalten.
Für Supermärkte ohne Verpackung gelten die gleichen Hygienevorschriften, wie für den normalen Lebensmittelhandel. Die abgeschlossenen Spender garantieren dabei die saubere Lagerung der Produkte. Bislang gibt es von offizieller Seite keine Beanstandung gegen diese Art der Aufbewahrung. Die bisherigen Anbieter verzichten aus Sorge um die Hygiene aber weitgehend auf frische tierische Produkte wie Fleisch und Milch.
Discounter-Preis-Niveau können weder Marie Delaperrière noch ihre Mitstreiter bieten. Im Schnitt liegt der Produktpreis der unverpackten Ware aber etwa auf Augenhöhe mit normalen Supermärkten oder sogar leicht darunter. Zum einen drückt der Verzicht auf die Umverpackung die Kosten. Und zum anderen können Kunden genau bestimmen, wie viel sie kaufen wollen. Das senkt die Kosten für weggeworfene Lebensmittel.
„Lose, nachhaltig und gut“ lautet das Versprechen, dass Delaperrière ihren Kunden gibt. Es steht in großen Buchstaben über der Eingangstür zu ihrem Supermarkt. Wer hindurchgeht, versteht auf Anhieb, was gemeint ist. Sieht, was fehlt.
Nahrung auf Knopfdruck
„Ich wollte auf das ganze Überflüssige verzichten“, sagt Gründerin Delaperrière. Im „Unverpackt Kiel“ gibt es kein grelles Neonlicht. Keine engen Gänge. Und vor allem keine endlosen Regale, aus denen grell-bunte Packungen um die Aufmerksamkeit der Kunden buhlen. Stattdessen ist die Ware unverhüllt, nackt. Nudeln, Mehl und Kaffee lagern in Spendern, die säuberlich nebeneinander in Regalen hängen.
Wer die Lebensmittel will, drückt auf einen Knopf und zieht sich die gewünschte Menge. Auch Öl, Essig und Waschmittel gibt es zum Zapfen. Bezahlt wird nach Gewicht. Statt Plastiktüten bietet Delaperrière den Konsumenten Flaschen und Einweckgläser zum Transport an. Viele Unverpackt-Kunden bringen sich ihre Behälter auch selbst mit.
Mit ihrem Ladenkonzept hat Delaperrière offenbar einen Nerv getroffen. Bundesweit ist das Interesse groß. Die Akzeptanz der Käufer zieht an. Bis zu 70 Kunden kommen täglich in das Geschäft. Das ist ordentlich, reicht aber noch nicht. „100 bis 120 sollten es schon sein“, sagt Delaperrière. Sonst bleibe kein Gewinn. Dass es auf absehbare Zeit so viele Käufer werden, daran hat sie keinen Zweifel.
In ihren Gedanken ist die Unternehmerin mehrere Schritte weiter, plant binnen Jahresfrist die Eröffnung eines zweiten Ladens in Kiel. Außerdem brütet sie über eigenen Franchiseverträgen. Aus Unverpackt-Kiel soll eine Kette werden. Dutzende Interessenten gebe es, sagt Laden-Chefin Delaperrière, „aus ganz Deutschland und Europa.“
So viel Müll macht unser Einkauf
Insgesamt 16,5 Millionen Tonnen Verpackungsmüll sind 2011 in Deutschland angefallen. 7,3 Millionen davon waren aus Karton und Pappe, 2,8 aus Kunststoff und 2,6 aus Glas. Während die Menge des Verpackungsmülls in den vergangenen Jahren nur langsam gewachsen ist, hat die Zahl der Kunststoffverpackungen stark zugenommen. Zehn Jahren zuvor fielen nur 1,9 Millionen Tonnen an.
Quelle: Bundesumweltamt, Gesellschaft für Verpackungsforschung
Damit fallen rund 204 Kilogramm Verpackungsmüll pro Deutschem und Jahr an. Gut 34 davon entfallen auf Plastikmüll, etwa 90 auf Karton und Pappe.
71 Tüten aus Plastik nutzt jeder Deutsche im Jahr. Zusammengerechnet sind das 68.000 Tonnen für Plastik. Damit ist Deutschland aber noch vergleichsweise zurückhaltend. Der EU-Durchschnitt liegt bei 198 Stück. Spitzenreiter ist übrigens Bulgarien mit 421 Stück pro Person.
Dennoch haben bereits zehntausende Bundesbürger eine Online-Petition gegen die Plastiktütenflut unterzeichnet: www.change.org/plastiktueten
Auch unabhängig von Delaperrière machen sich Händler auf, um der Verpackungsindustrie zu zeigen, dass sie überflüssig ist. In Berlin haben zwei junge Gründerinnen binnen weniger Tage 109.000 Euro über die Crowdfunding-Plattform startnext eingesammelt, um ihr Ladenkonzept namens „Original Unverpackt“ zu realisieren. Und im Bonner „Freikost“ kommen die Lebensmittel aus großen Spendern und nicht aus der Plastikverpackung. Überall in Deutschland, so scheint es, ziehen derzeit angehende Lebensmittelhändler gegen in den Kampf die Verpackung.
Warum Verpackungen wichtig sind
Umweltschützer und selbst das Umweltbundesamt begrüßen die neue, naturfreundliche Generation der Lebensmittelhändler. Handelsexperten bezweifeln hingegen, dass vom Hype viel bleibt. Einkaufen mit Dosen und Einmachgläsern sei kein Ding für die Masse, glaubt Susanne Eichholz-Klein vom Institut für Handelsforschung in Köln. Zwar decken die Supermärkte ohne Verpackung das Bedürfnis nach Nachhaltigkeit ab, dass viele Kunden zumindest theoretisch fordern. Im Alltag entscheidend sind laut der Expertin andere Einkaufsmotiven: „Neben dem Preis-Leistungsverhältnis und dem Sortiment spielen insbesondere auch kundenorientierte Öffnungszeiten und die Nähe zur Einkaufsstätte eine wichtige Rolle.“
Im Klartext: Der durchschnittliche Kunde ist in Wahrheit eher mäßig an der Umwelt interessiert und in der Hauptsache ein bequemer Typ. „Supermärkte, die unverpackte Lebensmittel anbieten, erfordern jedoch die Bereitschaft der Konsumenten, mehr Zeit für die Auswahl und Verpackung der Lebensmittel einzuplanen“, sagt Klein.
Schwerer Weg
Dass es die Supermärkte ohne Verpackung schwer haben werden, liegt nicht allein an der Bequemlichkeit der Kunden. Eigentlich hat kein Glied der Lieferkette so rechtes Interesse daran, auf Verpackungen zu verzichten.
Da sind zum einen die Lieferanten. „Es ist es ziemlich schwierig überhaupt jemanden zu finden, der mit wenig oder ohne Verpackung liefert“, sagt Ladenbesitzerin Delaperrière. Bislang behilft sich die findige Gründerin. Ihre Eier bekommt sie zum Beispiel vom Bauern aus der Nachbarschaft. Der nimmt die Verpackung zurück und benutzt sie neu. Bei den Großlieferanten ist die Sache schwieriger.
Um Müll zu vermeiden, kauft Delaperrière größtmögliche Gebinde und versucht, einzeln verpackte Ware zu meiden. Leicht sei das nicht. Die Großhändler haben gute Gründe, die Ware nur verpackt zu verschicken. Die Verpackung schützt vor Schäden und Schmutz, erleichtert den Transport und die Lagerung.
Darüber hinaus ist sie einfach Standard. Anders als etwa in Frankreich bietet kein normaler Supermarkt in Deutschland im großen Stil unverpackte Ware an. Für den Handel sind Verpackungen reichlich praktisch. Nicht nur, dass die Läden so leichter sauber zu halten sind. Über die Angebotsvielfalt, die auf den ersten Blick durch die Vielzahl der bunten Verpackungen sichtbar wir, geben sich die Märkte ihr eigenes Gesicht.
Was den Deutschen beim Einkauf wirklich wichtig ist
Fragestellung: “Welche der folgenden Aspekte sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Leistungen des Lebensmitteleinzelhandels?”
Quelle: Institut für Handelsforschung // repräsentative Umfrage unter 1.542 Deutschen
Produktangebot mit dem bestmöglichen Preis-Leistungs-Verhältnis
Große Auswahl verschiedener Produkte
Immer hohe Qualität aller Produkte
Immer alles was ich brauche an einem Ort
Kundenorientierte Öffnungszeiten
Viele gut erreichbare Geschäfte in meiner Nähe
Angenehme Einkaufsatmosphäre
Immer alle Informationen, die ich zu den Produkten brauche verfügbar
Am allerwenigsten wollen wohl die Lebensmittelhersteller selbst, dass die Verpackung verschwindet. Sie ist ihr schließlich ihr Aushängeschild. Ihre Chance, sich zu inszenieren. Im Supermarktregal kämpfen die Produkte mit Hunderten anderen um die Aufmerksamkeit der Käufer. Nur wer sich besonders verführerisch präsentiert, wird gekauft. „Die Bedeutung der Verpackung für das Marketing ist extrem hoch“, sagt Eugen Herzau, Professor an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Je nach Produkt und Branche hängen laut Studien bis zu 70 Prozent der Kaufentscheidung von der Verpackung ab. Weil die Hersteller um den Werbeeffekt der Verpackung wissen, denken sie nicht im Traum daran auf Verpackungen zu verzichten.
Welche Chance "verpackungsfrei" wirklich hat
Im Gegenteil: Der Zahl der Verpackungen steigt und steigt. „Die Verpackungsbranche muss auf ein durchschnittliches jährliches Wachstum von zwei bis drei Prozent reagieren“, sagt Winfried Batike, Geschäftsführer des Branchennetzwerks Deutsches Verpackungsinstitut. Befeuert wird die Entwicklung durch die veränderten Lebensumstände der Deutschen. In Zeiten von Singlehaushalten und kurzen Mittagspausen, steigt die Nachfrage Convenience-Lebensmittel. Currywurst aus der Pappschale und eingeschweißter Salat mit Plastikgabel sind angesagt. Ein lukratives Geschäft: Laut jüngsten Zahlen liegt der der Jahresumsatz der deutschen Verpackungshersteller bei mehr als 32 Milliarden Euro – Rekordniveau.
Entsprechend gering ist derzeit die Sorge in der Branche, in Zukunft Aufträge zu verlieren. Einen großen Trend könne er aus den vereinzelten Versuchen, Supermärkte ohne Verpackung zu etablieren, ohnehin nicht erkennen, sagt Batike. „Bei der Gesamtzahl von etwa 200 Milliarden Verpackungen jährlich in Deutschland spielen diese Ideen eine völlig untergeordnete Rolle.“ Trotzdem schaut die Industrie mit Argusaugen auf die Entwicklung. Schließlich ist sie die radikalste Art mit dem ungeliebten Produkt umzugehen.
Worauf die Kunden beim Thema Nachhaltigkeit achten
Fragestellung: "Wenn Sie beim Einkauf von Lebensmitteln nachhaltige Aspekte berücksichtigen möchten. Welcher Aspekt ist Ihnen dabei am wichtigsten?"
Quelle: Institut für Handelsforschung // Umfrage unter 986 Deutschen
Die regionale Herkunft der Lebensmittel
Die Inhaltsstoffe der Lebensmittel
Bio- und Nachhaltigkeitssiegel
Ich berücksichtige keine nachhaltigen Aspekte bei meinem Lebensmitteleinkauf
Die umweltfreundliche Verpackung der Lebensmittel
Batzke weiß, dass seine Produkte vielen Konsumenten sauer aufstoßen. Und die Branche reagiere darauf: Mit Recyclingmaßnahmen wie dem Grünen Punkt, mit einer kontinuierliche Absenkung des Materialverbrauches pro Produkt und durch die Anpassung von Verpackungen an das veränderte Verbraucherverhalten.
Chance in der Nische
Dass sich die Verpackungsindustrie das Thema Nachhaltigkeit – nicht zuletzt aus Image-Gründen – auf die Fahnen geschrieben hat, weiß auch Marie Delaperrière. Sie hofft, mit ihrem Konzept den Druck auf die Industrie weiter erhöhen zu können. „Wenn es genug Menschen gibt, die auf Verpackungen verzichten, wird die Industrie härter daran arbeiten, den Müll zu reduzieren.“
Aber auch wenn die ganz große Revolution wohl ausbleibt, glaubt selbst Susanne Eichholz-Klein, dass verpackungslose Lebensmittelangebote in gewissen Bereichen funktionieren können. Der Handelsexpertin schwebt eine Art Teilzeitmodell vor: Während die allermeisten Kunden ihre Haupteinkäufe weiter im Supermarkt und Discounter erledigen, beruhigen sie ihr Gewissen beim gelegentlichen Shoppen mit Einweckglas und Tupper-Dose. „Innerhalb dieses Einkaufsstättenportfolios wird ein Supermarkt, der auf Verpackung verzichtet, ebenso wie Biosupermärkte einen Platz finden, aber sicherlich nur für wenige Konsumenten zur Haupteinkaufsstätte werden“, so Klein.
Bleibt die Frage, ob der Platz groß genug zum Überleben ist. Jahrelang galt der 2007 in London eröffnete Supermarkt „Unpackaged“ als Vorzeigeobjekt der Szene. Anfang 2014 musste er schließen. Das Geschäft war nicht rentabel. Angst macht Marie Delaperrière das Scheitern des Vorbilds nicht. „Die Mieten in London sind viel höher“, sagt sie. „Und vielleicht war der Laden seiner Zeit ein bisschen voraus.“ Erst jetzt sei die Richtige gekommen.